Montag, 13. November 2017

Wiedersehen mit Jin Xing

Mit Jin Xing in den Studios der Jin Xing Dance Company im Nordwesten Shanghais

Vielleicht ist die Geschichte einfach die, dass ich stolz zeigen möchte, dass ich mit jemandem befreundet bin, der in den letzten fünfzehn Jahren in China zum Megastar herangewachsen ist. Wöchentlich sehen im Schnitt 150 Millionen Chinesen ihre Fernsehshows. Dazu hostet sie auch noch eine Kindersendung und eine Dating-Show. Auf allen Kanälen gilt sie als die Oprah Winfrey Chinas. Sie heisst Jin Xing.
Ich kenne sie seit 2003. Damals suchten wir für unseren internationalen Kongress europäischer Kunsthochschulen, der im Luzerner KKL unter dem Titel Challenging the Frame stattfinden sollte, einen Keynote-Speaker. Da kam jemand im Organisationskomitee auf die Idee, diese Frau anzufragen. Bedenken hatten wir lediglich, ob sie vor kritischem Publikum sprechen und Zeit für uns opfern wollen würde. Kurz zuvor war im Fernsehen ein Dokumentarfilm über sie gelaufen. Bis zu ihrem 28. Altersjahr war sie ein Mann, gefeierter Solotänzer und Oberst der chinesischen Volksarmee. Nach einer Geschlechtsangleichung – wie das heute heisst –, gründete sie ihre eigene Tanzkompanie, adoptierte drei Kinder aus einem Waisenhaus, heiratete einen deutschen Geschäftsmann und tourte als Choreografin und Tänzerin durch die halbe Welt. Ich traf sie damals nach einem Auftritt in der Berner Dampfzentrale. Sie sagte ohne Umschweife zu. Ein Jahr später stand die zierliche Frau bei uns auf der Bühne und begann ihre Ansprache mit der Bemerkung, dass sie als früherer Offizier sehr wohl wisse, wie man Brücken sprenge und das Magazin eines Maschinengewehrs wechsle. Später zeigte sie Videoausschnitte aus ihrem künstlerischen Schaffen und eroberte so das Publikum.
Ich wusste später lange Zeit nicht, ob wir seitdem wirklich befreundet sind. Ich hätte für mich nie in Anspruch zu nehmen gewagt, diesen Kontakt als Freundschaft zu bezeichnen, obwohl er mich stets inspirierte und bereicherte. Sie war schliesslich eine umschwärmte Berühmtheit, schon damals, nicht zuletzt wegen ihrer körperlichen Selbstfindung. Sie war und ist noch heute deswegen in China eine Sensation und macht ihre Auftritte damit doppelt interessant. Ich besuchte sie später einige Male in Schanghai oder reiste zu ihren Aufführungen irgendwo in Europa. Das mit der Freundschaft klärte sich dann, als sich Jin Xing, Jahre später, bei mir einmal beklagte, ich hätte sie bei einem meiner Aufenthalte in Schanghai nicht aufgesucht. Da begriff ich, dass sie mich offenbar zu ihrem Freundeskreis zählte.
Sie hatte so viele Pläne, so viele Sorgen auch. Wird sie die Existenz ihrer Dance Company sichern können? Ich wohnte einige Male Proben bei. Da war sie jeweils der unerbittliche militärische General. Vorher und nachher aber sprach sie zärtlich von ihren Tänzerinnen und Tänzern.
Sie war ein von Unruhe und stets neuen Plänen besessener Star. Heinz Gerd, ihr Mann, mit dem ich mich in der Zwischenzeit auch befreundet hatte, half ihr beim Geschäftlichen und fuhr überdies die Kinder in die Schule. Die beiden überlegten sich, sie zur weiteren Ausbildung in die Schweiz zu schicken. Ich sandte ihnen darauf Prospekte und Links entsprechender Institutionen. Aber es scheiterte an den fehlenden Pässen. Es scheint für Kinder in China, die über keinen Geburtsschein verfügen, und das war bei diesen drei Waisen der Fall, sehr schwierig zu sein, zu offiziellen Papieren zu kommen.
Jin Xing überlegte sich auch, in Europa einen Ableger ihrer Dance Company zu gründen. Doch dann verwarf sie die Idee wieder und blieb in Schanghai. Ihre Entscheide basierten meistens auf Ratschlägen weiser Sterndeuter und auf wichtigen Zeichen numerischer Art. Inzwischen sind die Kinder herangewachsen. Der älteste Sohn besitzt mittlerweile einen Pass und besucht neuerdings ein College in England.
Und jetzt: Seit sie mit einer eigenen wöchentlichen Talkshow im staatlichen Fernsehen Fuss gefasste hat, gehört sie zu den ultimativen Celebrities des Riesenreiches. Sie wird, zusammen mit dem chinesischen Staatschef Xi Jinping, ans World Economic Forum nach Davos eingeladen, wohnt in Schanghai im 26. Stock des Governor House in der Suite, in welcher US-Präsident Richard Nixon bei seinem Chinabesuch im Februar 1972 abgestiegen ist, und das Ledersofa im Wohnraum erinnert an die Unterredungen zwischen Henry Kissinger und Deng Xiaoping. Um zu ihren Studios zu gelangen, verlässt sie das Haus durch den Hinterausgang in einem Auto mit Sichtschutz. Fans belagern regelmässig den Vordereingang.
In ihren Shows gibt es aber unumstössliche Tabus: keine Politik zum Beispiel, keine Sozialkritik, keine sexuellen Themen. Um all diese Klippen zu umschiffen, beschäftigt sie ein grosses Team von Stichwortgebern. Einmal hatte sie Brad Pitt zu Gast, der sich schon öfters als Tibet-Freund zu erkennen gegeben hat. Die Sendung wurde in der Folge nicht ausgestrahlt.
Mein Besuch 2017 in Schanghai fiel zusammen mit dem in Beijing tagenden Volkskongress, wo die Richtung Chinas für die nächsten fünf Jahre festgelegt und der Vorsitzende für eine weitere Amtsperiode bestätigt wurde. Auch damals wurde die Jin-Xing-Show zwei Wochen lang ausgesetzt.
Neben ihrer TV-Tätigkeit tourt sie mit ihrer Dance Company durch ganz China. Jetzt geht es nicht mehr ums nackte Überleben, jetzt geht es um die Befeuerung eines Apparates, den ich Jin-Xing-auf-dem-Höhepunkt-ihrer-Karriere-in-China nennen würde. Was für ein ausserordentlicher Lebenslauf. Ich wüsste nicht, was jetzt noch mehr zu erreichen wäre. Vielleicht einmal eine Lateinamerika-Tournee? Ich wäre dann für Kolumbien zuständig.
Auf dem Höhepunkt ihrer Karriere scheinen mir aber die Opfer in Form von Beschränkungen der freien Meinungsäusserung gross, die Einschränkungen im Privatleben auch. Einen gewissen Ausgleich schafft wenigstens ein Leben in Luxus.

© Nikolaus Wyss

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Samstag, 4. November 2017

Vorwürfe am Wegrand


Dieses verwackelte Bild eines Wartehäuschens, das ich auf der Strecke zwischen Chiang Mai und Chiang Khong vom fahrenden Bus aus schoss, gemahnt mich an das ultimative Scheitern eines Vorhabens, das mich fast 50 Jahre lang auf all meinen Überlandreisen umtrieb. Immer wieder waren mir Wartehäuschen auf der Strecke ins Auge gestochen: in Algerien, Mali, Ghana, Nigeria, Kenia, Tansania, in Indien, China, Malaysia, Indonesien, Thailand, Vietnam, in Kolumbien, Brasilien, Peru, Chile, auf dem Balkan, im hohen Norden, in der Schweiz, wo auch immer. In ihren unterschiedlichsten Formen gewähren sie Schutz für die, die auf die nächste Transportmöglichkeit warten. Oft nehmen die Bedachungen Gestaltungsformen der örtlichen Baukultur auf. Auf der einen Strecke scheinen sie alle aus einem Guss zu sein, hingestellt von einer kundenfreundlichen Busfirma oder vom Transportministerium der Provinz. Auf anderen Strecken wiederum entsprechen sie jeweils dem lokalen Gusto, dem vorhandenen Konstruktionsvermögen und den zur Verfügung stehenden Mitteln. Improvisiert hier, mit beschattenden Palmblättern überdacht, komfortabel dort mit Windschutz und Sitzbänken ausgestattet.
Mein Vorhaben hätte darin bestanden, eine Bild-Dokumentation der unterschiedlichsten Wartehäuschen auf der ganzen Welt anzulegen, ergänzt mit Porträtaufnahmen von Wartenden und Notizen über meine Begegnungen am Strassenrand. Wie lange warten Sie schon? Wohin fahren Sie und zu welchem Behufe? Wieviel kostet die Fahrt? Wo wohnen Sie? Et cetera. Es hätte ein Kompendium weltumspannender Wartekultur und überraschender Geschichten werden können. Vielleicht etwas schräg im Ansatz, doch durchaus interessant, aufschlussreich und unterhaltsam im Resultat. Als Buch oder, heutzutage, als Website.
Gezuckt hat es mich jeweils, den Chauffeur zu bitten anzuhalten und mich aussteigen zu lassen, um das Schicksal des Wartens mit Ortsansässigen zu teilen. Was soll mich die fahrplanmässige Ankunftszeit meines Reisebusses am Zielort kümmern? Schliesslich holt mich niemand dort ab, umarmt und küsst mich. Im Normalfall musste ich mir dort immer selbst zuerst eine billige Absteige suchen und den weiteren Verbleib organisieren. Was hätte es mich gekostet, ein paar Tage später erst am Zielort einzutreffen, dafür aber einen Kratten voller Wartehäuschen-Materialien gesammelt zu haben für mein Vorhaben?
Aber nein, mir fehlte der Mut. In den entscheidenden Momenten erwies ich mich als feige, als Verräter meiner eigenen Idee. All die Jahre habe ich es nie fertiggebracht, meinem Vorhaben den notwendigen Raum zu gewähren. Immer bin ich weitergefahren und habe mir höchstens noch überlegt, am nächsten Tag mit einem Motorrad dorthin zurückzukehren, was ich natürlich nie in die Tat umsetzte. Ich brachte die Geduld, mich auf die Wartehäuschen einzulassen, nicht auf. Dabei hätten mich diese Objekte wohl viel weitergebracht, als ich es mit meinen reibungslosen Busreisen geschafft habe. Sie hätten mich vor witterungsmässiger Unbill beschützt, mich am Kosmos der Einheimischen teilhaben lassen und mich an Erfahrungen und Material reich gemacht. So aber kam ich zwar pünktlich am Zielort an – und die Wartehäuschen blieben auf der Strecke.
Mit der Zeit wurde mir jedes Objekt dieser Art, dessen ich ansichtig wurde, zur Qual. Es verkörperte den Vorwurf eines nicht eingelösten Versprechens. Diese Erscheinungen am Strassenrand verleideten mir mit der Zeit sogar das Busreisen. Natürlich hätte ich das nie zugegeben und nannte eher Rückenschmerzen oder die engen Sitzverhältnisse als Rechtfertigung, fast vollständig von Busfahrten abzusehen. Der wahre Grund meiner steigenden Reiseunlust aber ist, dass ich nicht weiter von diesen Wartehäuschen verhöhnt werden wollte. Sie erinnerten mich schmerzvoll an mein Unvermögen, einen Plan, den ich für gut befunden hatte, in Angriff zu nehmen und umzusetzen.
Das verwackelte Bild, das Ausgangspunkt dieses Textes bildet, steht nun dafür. Und so wird es bleiben.

© Nikolaus Wyss

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