Sonntag, 17. Juli 2022

KiöR in Buenaventura

Im Stadtpark von Buenaventura stehen neuerdings die drei chinesischen Gottheiten Fu Xing (der Glücksbringer), Lu Xing (zuständig für Prosperität) und Shou Xing (steht für langes Leben)

Zu den dreien gehört als vierter, um Köpfe grösser, ein lächelnder Buddha


Auch im Stadtpark von Buenaventura: eine lädierte, schattenspendende Schiffsschraube
Niemand weiss, wer veranlasst hat, diese Fulushou-Gruppe und den Buddha nach Buenaventura zu verfrachten. Und lange Zeit wusste niemand, dass sie überhaupt da sind, eingelagert in einem Schuppen der Hafenpolizei. Wahrscheinlich klappte es damals nicht mit den Einfuhrzoll-Papieren. Vielleicht verstarb der Empfänger zwischenzeitlich, oder er war nicht bereit, die erforderlichen Bestechungsgelder für die speditive administrative Abwicklung zu bezahlen. Item, die überlebensgrossen, gewichtigen (rund 25 Tonnen schweren) Marmor-Statuen fristeten ein jahrzehntelanges Dasein im Dunkel einer feuchten Lagerhalle.

Dass Chinesen in der Geschichte der kolumbianischen Hafenstadt am Pazifik eine Rolle spielten, ist hingegen wohlbekannt. Im Verlaufe des zweiten japanisch-chinesischen Krieges von 1937-1945 flohen viele Chinesen vor den japanischen Gräueltaten nach Peru und Ecuador, und manche landeten auch im kolumbianischen Buenaventura, wo sie als Händler, Ingenieure,  Hafenarbeiter, Baumeister, Ärzte und Wirte ein Auskommen fanden und dieser Hafenstadt ein internationales Gepräge verliehen. Sogar einen Monte Chino gibt es, weil auf dieser Anhöhe ein gewisser John Su, der offenbar dem Teufel vom Karren gesprungen war und den bürgerlichen Anschluss in seiner neuen Heimat nicht gefunden hat, als Stadtstreicher seine Runden drehte. Auch wenn Spanischkenntnisse bei manchen von ihnen wohl rudimentär geblieben sein dürften, so hispanisierten sie ihre Namen und wurden von den Einheimischen beispielsweise «el chino Juan» oder «la china Eliana» genannt. Sie betrieben einen eigenen Club im Quartier El Cable mit Balkonblick aufs Meer und beerdigten ihre Angehörigen in einem eigens für sie angelegten chinesischen Friedhof, dem einzigen übrigens in ganz Kolumbien. Mag gut sein, dass aus diesen Kreisen damals die Bestellung dieser vier Gottheiten getätigt wurde, vielleicht als Neujahrgeschenk eines zu Reichtum gekommenen Chinesen. 

Mittlerweile ist aber der Einfluss dieser chinesischen Immigranten auf ein Minimum geschrumpft. Die heute in der Stadt sichtbaren Chinesen kümmern sich im Auftrag chinesischer Firmen um das Funktionieren des grossen Hafens oder betreuen den Import chinesischer Waren ins Inland. Sie sind sozusagen Handlanger ihres Staatspräsidenten Xi Ji Pin und haben wohl kaum im Sinn, hier ansässig zu werden. Die Stadt ist heute verlottert, von Kolumbiens Zentralregierung sträflich vernachlässigt und in gleitendem Niedergang begriffen. Zudem im Würgegriff von Drogenbanden. Nicht gerade die beste Adresse für Neuankömmlinge. Eine arg lädierte Schiffschraube im Stadtpark von Buenaventura versinnbildlicht den Zustand dieser Hafenstadt, in welchem, etwas verloren aber in Sichtdistanz zum Schiffsrelikt, jetzt neuerdings auch die vier chinesischen Statuen aufgestellt worden sind. Ihre Bedeutung und ihre Wirkkraft sind vonnöten. Mögen sie Glück, Wohlstand und langes Leben ermöglichen. Ihre fröhliche Inbesitznahme durch die einheimische Bevölkerung als beliebtes Fotosujet ist geglückt, und der Buddha strahlt die Gelassenheit aus, die es braucht, um an eine prosperierende Zukunft dieser Stadt noch zu glauben. 

P.S. «Kiör» ist die hässliche Wortschöpfung der Zürcher Verwaltung für den Begriff «Kunst im öffentlichen Raum». Ich las dieses Kürzel zum ersten Mal im Zusammenhang mit der künstlerischen Gestaltung des Dachs der Schwamendinger Autobahn-Einhausung. Weiss Gott warum, hier in Buenaventura kam es mir wieder in den Sinn.  

 ©Nikolaus Wyss

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Dienstag, 12. Juli 2022

Meine Mexiko-Wochen

Wasserplausch in einem der Brunnen auf der Alamenda Central

 

Aus Anlass ihres Geburtstags vom 13. Juli der Schriftstellerin Milena Moser und ihrem aus Mexiko stammenden Ehemann, dem Künstler Victor Mario Zaballa, herzlich zugeeignet

 

    Herrn Grüninger ging der Ruf voraus, ein erfolgreicher Werbe- und Kampagnenfachmann zu sein. Er fuhr einen silbergrauen Ro 80 der Marke Audi/NSU, eines der wenigen Serienfahrzeuge mit Wankelmotor. Damals war noch nicht bekannt, dass es sich bei diesem Modell um ein zum Scheitern verurteiltes, reparaturanfälliges Fahrzeug handelte. Es repräsentierte vielmehr eine neue, vielversprechende Antriebstechnik und verlieh den Besitzern den Glanz, fortschrittlicher und erfolgsverwöhnter Gesinnung zu sein.

Als ich erfuhr, dass Herr Grüninger im Auftrag des mexikanischen Tourismusministeriums in der Schweiz Mexiko-Wochen veranstalten wollte, bewarb ich mich als Mitarbeiter. Frisch aus Lateinamerika zurückgekehrt und mit leidlichen Spanischkenntnissen versehen, versprach ich mir davon eine Möglichkeit, ohne den mühsamen Umweg über ein Studium ins Werbegeschäft einsteigen zu können, um in wenigen Jahren selbst stolzer Besitzer eines Ro 80 zu werden, vielleicht dann schon eines Nachfolgemodells, eines Ro 85 zum Beispiel… Ich war von Anfang an vom Erfolg dieser Kampagne überzeugt. Die eindrücklichen Olympischen Spiele von Mexico-City im Jahre 1968 waren damals bei allen noch in bester Erinnerung. Man hatte anfänglich den Latinos die Durchführung eines so gigantischen Vorhabens nicht zugetraut. Deshalb war der Respekt gross, als die Olympiade vor den Augen der ganzen Welt zu einem fulminanten Erfolg wurde und allen bewies, dass Mexiko zweifellos zu den Ländern gehörte, denen alles zuzutrauen ist.

    Von der Vorzimmerdame vorgelassen, versprach mir Señor Grüninger zwar ein mieses Honorar doch immerhin darin eingebunden eine Reise nach Mexiko. Für mich Verlockung genug, den in Aussicht gestellten Job anzunehmen.

Die Erinnerung an die mir auferlegten Aufgaben lässt mich allerdings im Stich. Einzig der Einzug des Mariachi-Orchesters ins Einkaufszentrum Glatt habe ich noch vor Augen mit seinen grellen Trompetenstössen, den Riesensombreros und den glitzernden Anzügen. Es trieb eine Gruppe von Folklore-Tänzerinnen vor sich her. Und bei den verschiedenen offiziellen Dinner-Veranstaltungen mit all den Tacos und Tortillas beeindruckten mich immer wieder die voll mit Haargel eingewirkten schwarzen Haare der Abgesandten des mexikanischen Tourismusministeriums. Mir entging dabei nicht, dass das Gel Spuren auf deren Kragen hinterliessen, und ich fragte mich, wie viele Hemden sie wohl eingepackt haben mochten. Sie alle logierten im damaligen Hotel Zürich hinter dem Landesmuseum an der Limmat. In Erinnerung bleibt mir allerdings die Mitteilung Grüningers später beim Debriefing, dass das Budget jetzt doch nicht für ein Flugticket nach Mexiko reichen würde. – Als Jahre später ruchbar wurde, dass der Ro 80 mit seinem Motor grosse Probleme verursache, bemächtigte mich eine gewisse Satisfaktion.

    Das mögen jetzt gute 50 Jahre her sein. Von Kolumbien herkommend befinde ich mich wieder einmal für eine Woche in Mexico-City. Der Abstecher hierher hat bei mir schon fast Tradition. Diese Megacity vermittelt mir ein urbanes Feeling, das ich in Bogotá zuweilen schmerzlich vermisse. Hier gibt es U-Bahn-Linien, Doppelstock-Busse, Strassenrestaurants, beeindruckende Museen und Kunstausstellungen, Strassen mit weniger Löchern und mit üppigem und schattenspendendem Baumbestand, und hier sind Schuhgrössen von 43 an aufwärts auch leichter zu finden, obwohl die Mexikaner nicht unbedingt grösser sind als die Kolumbianer. Der Helikopter-Lärm gehört zum städtischen Alltag: die Wolkenkratzer längs der Reforma, der mexikanischen Version der Pariser «Champs-Elysées», verfügen zuoberst reihum über Landeplätze.

    Heute Nachmittag sitze ich auf einer schattigen Bank in der Alameda Central, dem grossen, gut gepflegten und mit vielen schönen Bäumen ausgestatteten Volkspark der Stadt. Aus dem Nichts tauchten vorhin die paar Erinnerungen an Herrn Grüninger auf, die ich jetzt in meinem Notizbuch festhalte. Um mich herum promenieren Familien und Liebespaare, Rollbrettfahrer sausen vorbei, und Strassenwischer bemühen sich unentwegt, Weggeworfenes und Blätter einzusammeln. Weiter vorn plantschen Kinder in den diversen Brunnen und kreischen vor Glück. Gegen Abend werden dort ambulante Diskotheken aufgestellt, aus deren Lautsprechern rhythmische Volksweisen plärren. Im Handumdrehen verwandelt sich dann der Park zur vielgestaltigen Tanzfläche.

    Die Alameda Central wird ostwärts umsäumt vom opulenten Palacio de Bellas Artes mit unterirdischer Parkgarage, im Norden von der Avenida Hidalgo, die wegen der Bretterverschläge auf der anderen Seite etwas unattraktiv wirkt, und im Süden von der Avenida Benito Juárez, die weiter vorn auf das Revolutionsdenkmal zuläuft, hier aber mit Hotels und Geschäften auftrumpft und Strassenmusiker anzieht.

    Ich befinde mich in einer grünen Oase des Friedens und der Erholung, die zuweilen aber auch Zufluchtsort wird, wenn wieder einmal Demonstrierende auf ihrem Weg zum Zócalo, dem grossen, zentralen Platz der Verfassung mit seiner riesigen Nationalflagge in der Mitte und der imposanten Kathedrale auf der einen Seite, von der Polizei mit Tränengas auseinandergetrieben werden. Dann kommen sie in den Park gerannt und versuchen, an den Brunnen das Reizgas aus den Augen zu waschen. Das letzte Mal protestierten sie gegen das Vergessen von 43 jungen Menschen, die schon vor Jahren spurlos aus dem Weg geräumt worden sind. Regierung und Behörden scheinen bis zum heutigen Tage nicht fähig oder willens, dieses unfassbare Massaker aufzuklären. Stecken sie mit der skrupellosen Mafia unter einer Decke?

    Im Wissen um solche Grausamkeiten, und es gibt viele dieser Art in Mexiko, man kann in der lokalen Presse jeden Tag von umgebrachten Journalisten und unliebsamen Politikern lesen, von Drogenbanden, die ganze Stadtteile tyrannisieren, bekommt die Alameda eine andere Färbung. Ist sie vielleicht nicht nur Zufluchtsort verfolgter Demonstranten, sondern auch Erholungsort von Menschen, die eigentlich Dreck am Stecken haben und hier im Park mit ihren Familien aber so tun, als sei alles paletti?

    Was weiss ich schon von diesem Mann dort drüben, der liebevoll seinen zweijährigen, o-beinigen Knirps unter dem Beifall der versammelten Familie spazieren führt? Was weiss ich schon von dieser Frau dort hinten, die etwas nervös in ihrer Handtasche nestelt, um ihr klingelndes Handy herauszufischen? Wer ruft sie an? Ihre Freundin? Oder vielleicht doch ein Mafioso oder Zuhälter? Was ist mit diesen Polizisten hier, die meine Ausweispapiere verlangen und sie erst wieder zurückgeben könnten, wenn ihnen die Summe der Pesos, die ich in Aussicht stelle, angemessen scheint?

    Plötzlich füllt sich dieser Park mit Verdächtigen. Selbst ich stelle mich plötzlich unter Generalverdacht. Gebe ich nicht lediglich vor, ein paar Zeilen in mein Notizbuch zu schreiben, während ich eigentlich Ausschau halte nach einem hübschen Boy, den ich verführen könnte? Und wenn wir uns dann im Hinterzimmer einer stinkigen Absteige auskleiden, würde sich das Blatt wenden. Der Junge liesse verlauten, ich würde mit Schwierigkeiten und Gefängnis zu rechnen haben, denn er sei noch minderjährig, was sich aber lösen lasse, wenn ich ihm sofort eine ordentliche Summe Geld aushändige. Und beim Verlassen des Hauses würde ich ausserdem entdecken, dass mein Handy weg ist…

    Wie würde ich vor diesem Hintergrund heutzutage für die Schweiz Mexiko-Wochen gestalten? Erster Gedanke: ich rate davon ab. Zweiter Gedanke: damit verrate ich aber meine Begeisterung für diese Stadt, für dieses Land. Dritter Gedanke: die politisch-gesellschaftliche Problematik müsste wenigstens ansatzweise auch zur Darstellung gebracht werden – neben den feinen Tacos und den trompetenschmetternden Mariachis! Würde das mexikanische Tourismusministerium dazu Hand bieten? – An der Benito Juárez, also grad hinter mir, eröffnete kürzlich das Museum Memoria y Tolerancia. Die obersten zwei Stockwerke sind dem Dritten Reich und dem Holocaust gewidmet. Man sieht Filme aus jener Zeit, Militärparaden, Göbbels, Hitler natürlich, ausgemergelte, geschundene Menschen in Konzentrationslagern, dann Dokumente der Nürnberger Prozesse. Ein weiteres Stockwerk fasst in Fotos und Texten die Gräueltaten zusammen, wie sie in Ruanda, Guatemala, Kambodscha, Ex-Jugoslawien und an anderen Orten begangen wurden. Auf einem weiteren Stockwerk schliesslich werden die Unrechtmässigkeiten von Mexiko thematisiert. Allerdings, so scheint mir, mit Samthandschuhen, als ob sich die Verantwortlichen einer gewissen Selbstzensur unterworfen und Tolerancia gegenüber den Vergehen und Schandtaten im eigenen Land geübt hätten. Es gibt zwar eine Wand, auf welcher einigen der wichtigen Persönlichkeiten, die im Laufe der Zeit, umgebracht worden sind, gedacht wird, doch ans Herz, Mitleid und Entsetzen geht das nicht. In Netflix-Serien erfährt man wesentlich mehr dazu, selbst wenn nicht alles hundert Prozent historisch faktengerecht sein mag.

    Da scheint mir mein Kolumbien in der Aufarbeitung seiner grausamen Bürgerkriegsvergangenheit einen Schritt weiter zu sein, direkter und offener. Gegenwärtig finden Gerichtsprozesse gegen ehemalige Guerillakämpfer und Paramilitärs statt, die ganze Landstriche terrorisiert und die Bevölkerung massenweise umgebracht haben. Das Thema ist, neben der Strafe, das der Vergebung (und die Vermeidung einer Vergeltung). Kann in Zukunft ein Mörder im selben Dorf leben, wo er seine Untaten begangen hat? Wird damit für die Einwohner das Mass der Toleranz nicht arg strapaziert? – Das Thema der Toleranz sah ich in diesem Museum nahe der Alameda Central nicht einmal im Ansatz dargestellt. Wie generiert man Toleranz? Was muss geschehen, dass sie sich wirksam entfaltet und ein neues, zukunftsgerichtetes und von Misstrauen gereinigtes Klima schafft? In Kolumbien lernte ich den Begriff der Inklusion kennen. Er scheint mir für den anstehenden, notwendigen Friedensprozess geeigneter. Beim Begriff der Toleranz kommt mir nämlich immer mein Vater in den Sinn, der bei den Freimaurern Karriere gemacht hat. Er predigte unentwegt Toleranz, zeigte sich aber – zumindest mir gegenüber – als sehr intolerant und verurteilte jeden meiner Gedanken, der von seinen Überzeugungen abzuweichen drohte. Der Tolerante sieht überdies keinen Grund, sich selbst zu hinterfragen. Er muss lediglich den Atem anhalten und zulassen, dass es allenfalls abweichende Lebensarten und Auffassungen gibt. Die Inklusion hingegen ist ein gesamtgesellschaftlicher Prozess im Bewusstsein, dass darin alle erheblichen Veränderungen unterworfen sind.

Jetzt nachtet es ein, und von Norden her kündigen sich Gewitterwolken an. Ich halte mich für gut beraten, den Weg zu meiner Unterkunft anzutreten. Als Ausländer, als Gringo, bin ich hier spezieller Beobachtung unterworfen. Vor dem Zusammenpacken und Aufstehen will ich mir nur noch notieren, dass es hier in Mexico-City stinkt. Sie haben die Abwässer schlicht nicht im Griff. Selbst auf der Alameda Central treffen mich immer wieder Schwaden dieses leidigen Gestanks. Daran mögen sich die Einheimischen gewöhnt haben. Mich stört er aber, und wie. Meiner Meinung nach müsste er auch Platz finden in einer Neuauflage der Mexiko-Wochen. Säuberlich abgefüllt in Einmachgläsern. 

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  ©Nikolaus Wyss

 

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