Nikolaus Wyss hat ein Buch
geschrieben. Nikolaus Wyss hat ein Buch geschrieben. Ich schreibe es noch
einmal: Nikolaus Wyss hat ein Buch geschrieben!
Darauf habe ich jetzt sicher
zwanzig Jahre lang gewartet. Vielleicht länger. So lange wir uns kennen
jedenfalls. Ich erkannte in ihm nicht nur das Talent, sondern auch das
Bedürfnis zu schreiben. Ganz zu schweigen von den brillanten Ideen, die er mir
regelmässig unterbreitete. Irgendwann habe ich aufgehört, sie zu zählen.
Wenn
ich aus San Francisco anreisend im Medienausbildungszentrum in Luzern
unterrichtete, wohnte ich jeweils bei ihm. Und manchmal erwähnte ich ihn als
mahnendes Beispiel dafür, dass eine geniale Idee eben noch kein Buch ausmacht.
Weil man ein Buch in erster Linie schreiben muss. Das Schreiben an sich ist es,
worauf es ankommt. Nicht die Idee, so toll sie auch ist. Nikolaus greift das
übrigens in einem seiner Texte, in «Vorwürfe am Wegrand» auf: «Der wahre Grund meiner steigenden Reiseunlust aber ist,
dass ich nicht weiter von diesen Wartehäuschen verhöhnt werden wollte»,
schreibt er. «Sie erinnerten mich schmerzvoll an mein Unvermögen, einen Plan,
den ich für gut befunden hatte, in Angriff zu nehmen und umzusetzen.»
Was also ist passiert?
Nikolaus hat sich selbst überlistet. Er hat einfach angefangen zu schreiben,
ohne an ein Buch zu denken. Er hat sich gesagt, ach, es ist ja bloss ein
Blogeintrag. Und dann noch einer. Und noch einer. Das ist unbestritten die
beste Art, ein Buch zu schreiben: Ohne es zu wissen.
Nicht
zu unterschätzen ist aber auch die Tatsache, dass Nikolaus die Schweiz
verlassen hat. Unsere gemeinsame Heimat macht es einem nicht leicht, sich neu
zu erfinden. Die soziale Kontrolle ist sozusagen Nationalsport. «Hast du gehört,
was der-und-der jetzt macht?
Wieso schreibt der jetzt ein
Buch? Muss der jetzt ein Buch schreiben? Da könnte ja jeder kommen!» In anderen
Bereichen seines Lebens hat sich Nikolaus immer wieder über diese Grenzen
hinweggesetzt, hat sich als Kulturvermittler, als Schuldirektor und als
Lokalpolitiker der öffentlichen Meinung ausgesetzt. Dass er sein Schreiben davor
schützen wollte, kann ich durchaus nachvollziehen, konnte ich trotz meinem
ständigen Nörgeln immer nachvollziehen. Es zeigte mir aber auch, wie wichtig
ihm das Schreiben ist. Wie wichtig es ihm die ganze Zeit war.
In Kolumbien konnte er sich
von diesen Bedenken befreien. Sein Blog entwickelte sich geradezu explosionsartig;
nicht nur in der Zahl seiner Leser, sondern auch in der Fülle der Themen: Vom
Erfahrungsbericht eines späten Auswanderers zu Kindheitserinnerungen,
Gedankenspielen, Meinungsstücken. Nikolaus erzählt von seinen Reisen, von
seiner Kindheit an der Winkelwiese in Zürich, von beruflichen Begegnungen und
Erfahrungen, und manchmal interviewt er sich selbst. Er schreibt so offen, wie
ich es nicht von ihm kenne, auch über seine Sexualität, seine Streifzüge durch
einschlägige Datingseiten. Seine Sprache ist manchmal augenzwinkernd altmodisch
wie seine Wollsocken, manchmal unerbittlich wie ein Vergrösserungsglas. Seine
Beobachtungen sind genau, feinfühlig, berührend, messerscharf und vernichtend.
Er nimmt keine Rücksicht mehr, schon gar nicht auf sich selbst. In mehreren
Texten spricht er seine Eitelkeit an. Im Gegensatz zu den meisten Memoiristen
beschränkt er sich nämlich nicht auf Erinnerungen, in denen er gut wegkommt. Im
Gegenteil: Manche dieser Texte («Maskenball auf hoher See», «Das Drama vom Rösslibrunnen»)
sind trotz des ironisch-distanzierten Tons geradezu schmerzvoll zu lesen. Als
Leserin schätze ich diese Ehrlichkeit. Ich weiss, dass das Schreiben sie
verlangt. Als Freundin zucke ich manchmal zusammen. Ich würde das Buch gern
hier und da mit bunten Post-its verkleben, auf denen «Na, na, so ganz stimmt
das aber nicht!» steht. «Nein, so ist Nikolaus nicht!»
Doch
ihn kümmert das nicht mehr. Die Frage, was «die anderen» denken könnten, hat er
in der Schweiz zurückgelassen, wo sie auch hingehört. Wo sie ihren Ursprung hat
und wo sie nur so lange von Bedeutung ist, wie man ihr Bedeutung zumisst. Das
Auswandern kuriert einen da ganz schnell: «Die Menschen, die in Zürich die Rolle der
Einheimischen spielen, kommen mir eigenartig fremd vor. Welcher Regisseur hat
ihnen die Anweisung gegeben, ihre Selbstgefälligkeit so zur Schau zu stellen?»,
fragt er sich verwundert bei einem Besuch in der alten Heimat.
Nikolaus schreibt wie einer, der
nichts mehr beweisen muss. Seine Texte sind lustvoll, frei, übermütig. Es
ist, als ob er uns in seinen Kopf einladen würde, wo wir uns mit ihm auf dem
mäandernden Fluss seiner Gedanken treiben lassen. Die Beschreibung eines etwas
unpraktischen Möbelstücks führt zu einem Versuch, einen beinahe vergessenen
Zweig des Familienbaums wieder aufleben zu lassen. Die Frage, was aus diesen
entfernten Verwandten geworden ist, führt zu einem urschweizerischen
Sittenbild. In wenigen kurzen Sätzen wird eindrücklich eine gutbürgerliche, auf
Erfolg getrimmte Familie gezeichnet, deren Probleme nur so lange unter den
edlen Perserteppich gekehrt werden können, bis einer der Söhne den Drogentod
stirbt. Doch mit seinem Eingeständnis, dass er das damals nicht wahrhaben, dass
er sich das Bild dieses Goldjungen nicht nehmen lassen wollte, macht uns Nikolaus
zu Komplizen. Er erlaubt uns nicht, selbstgefällig nickend die Bourgeoisie zu
verurteilen. Er fordert uns auf seine höfliche, beinahe beiläufige Art heraus,
wie er das in all diesen Texten tut, nicht laut, nicht provokativ, aber
unmissverständlich.
Eine meiner
Lieblingsgeschichten in diesem Band beginnt mit einer etwas ungnädigen Abrechnung
mit der Stadt Neapel, die partout nicht hält, was sie verspricht. Und führt
dann zu einer äusserst berührenden Erinnerung an längst vergangene Ferien auf
Ischia, wo sich Mutter und Sohn in denselben glutäugigen Kellner vergucken und
nun in stillschweigendem Einverständnis jede Mahlzeit in diesem Restaurant zu
sich nehmen, mit zusätzlichen Bestellungen hinauszögern und so ihr ganzes
Budget verpulvern. Diese Szene, diese Konstellation zu beschreiben, ohne sie
ins Ironische oder Anzügliche zu ziehen, ist allein ein schriftstellerisches
Meisterwerk. «Das Schöne an
diesen täglichen, kulinarisch genügend begründeten Begegnungen war das
Unausgesprochene. Wir gaben uns mit der Verfeinerung des Augenblicks zufrieden
und waren glücklich dabei.»
Der Text
mündet in eine Art Versöhnung mit Neapel
und seinen Bewohnerinnen und Bewohnern, «deren lächerliches Gehabe als Essenz
unerfüllter Sehnsüchte interpretiert werden kann». Und endet mit dem «Gedanken,
dass es vielleicht doch die unerfüllten Sehnsüchte und Begierden sind, die den
Reiz des Lebens ausmachen».
Mich macht es
einfach ganz glücklich, dass Nikolaus Wyss sich diese alte Sehnsucht erfüllt
hat: ein Buch zu schreiben. Und ich hoffe, dass ich auf das nächste nicht noch einmal
zwanzig Jahre warten muss.
Milena Moser
San Francisco, Juni 2020
***
Das Buch ist für Fr. 30.- erhältlich entweder in der Buchhandlung im Volkshaus, Zürich, oder bestellbar bei info@trigonis.ch
Welche Texte im Buch Auf dem Amakong - Lesebuch gegen den Hunger vorkommen, und welche nicht, ersieht man hier:
Fast sämtliche Blog-Beiträge von Nikolaus Wyss