Dienstag, 19. März 2019

Stägeli uuf, Stägeli ab juhee (Tagebuch 3)

2. März 
In meinem Facebook-Freundeskreis gibt es einen mir nicht näher und nicht persönlich bekannten Menschen, der seit Jahr und Tag mit Krankheiten, Herzinfarkten in Serie, allerlei Rückschlägen von Kopf bis Fuss und mit Notfall-Einweisungen konfrontiert ist. Seine schlimmen Erfahrungen mit Spitälern und Ärzten, in seinen Augen allesamt inkompetent, sind Legende. Manchmal postet er Nahaufnahmen seiner offenen Beine, das andere Mal sieht man die Schläuche, wie sie an seinem Spitalbett herunterbaumeln. 
Fein säuberlich und akribisch lässt er die Leserschaft an seinem Krankheitsverlauf teilhaben, schimpft und jammert zuweilen, manchmal glänzt er auch mit Galgenhumor und gewährt uns so Einblick in seine Befindlichkeit und in mancherlei Grenzerfahrungen.
Grenzerfahrungen aber machen auch wir in der Konfrontation mit seinem Schicksal, mit diesem schmerzvollen Aufundab. Wie können wir uns gegenüber so wenig Verheissung und Hoffnung nur verhalten? Sind wir in der Lage, darauf adäquat zu reagieren? Die Lektüre der Antworten auf dessen Posts ist ein interessantes und spannendes Panoptikum von Äusserungen der Anteilnahme, des Mutmachens, der eigenen Ratlosigkeit, zuweilen auch der versteckten Abscheu, des Entsetzens und des Sarkasmus. Der Mann hat schon so vieles durch- und überlebt, dass man schon gar nicht mehr glaubt, dass er je einmal an seinem Leiden sterben könnte. 

Jetzt sind bei ihm zum wiederholten Mal Suizidgedanken en vogue. Auf tiefgrauem Hintergrund schreibt er zum Beispiel: "Noch zwei Wochen wie die letzten. Wie es aussieht: Zeit für Suizid (Pentotal)". Und flugs stehen fb-Freunde in den Löchern, um ihm dies mit den unterschiedlichsten Strategien und Worten auszureden. Da heisst es zum Beispiel:
"Also zwei Wochen sind ja überschaubar", worauf der Patient antwortet: "Zeitlich ja, aber überlebbar nicht." Und der Helfer legt nach: "Jetzt bist du dem Tod so oft von der Schippe gesprungen." 
Hier könnte nun ein 254 Seiten umfassender Zitatenschatz des abwechslungsreichen Krankendiskurses folgen, der für einen findigen Verleger ein gefundenes Fressen wäre. Nur so als Tipp. Variante: Würde ich von einem Psychologie-Studierenden gefragt, worüber er denn eine Doktorarbeit schreiben solle, so gäbe es hier genügend Stoff für eine interessante Analyse, wie eine Social-Media-Leserschaft mit Grenzerfahrungen eines ihrer Freunde umgeht. Shitstorms sind bisher ausgeblieben. Irgendwie tröstlich.

4. März
Letzte Nacht habe ich mich wieder einmal in Schlaflosigkeit geübt und dafür Radio gehört. Bei Gabriel Faurés wunderbarem Lied Après un rêve begann ich vor mich hinzuweinen. Morgens um drei: 

Après un rêve 

Dans un sommeil que charmait ton image 
Im Schlaf erschien mir dein Antlitz 
Je revais le bonheur ardent mirage, 
Ich  träumte vom feurigen Glück 
Tes yeux etaient plus doux, ta voix pure et sonore, 
Deine Augen waren so lieblich, Deine Stimme schön und rein
Tu rayonnais comme un ciel eclaire par l'aurore; 
Du strahltest wie der Himmel beim Sonnenaufgang 
Tu m'appelais et je quittais la terre 
Du riefst mich und ich erhob mich 
Pour m'enfuir avec toi vers la lumiere, 
Um mit zu dir ans Licht zu gelangen
Le cieux pour nous entr'ouvraient leurs nues, 
Der Himmel öffnete für uns seine Wolken 
splendeurs inconnues, 
welch unbekannte Herrlichkeit,
Ieurs divines entre vues, 
welch himmlischer Anblick 
Helas! Helas, triste reveil des songes, 
Doch dann, welch trauriges, sorgenvolles Erwachen
Je t'appelle, o nuit, rends-moi tes mensonges, 
Oh Nacht, gib mir deine Lügen zurück 
Reviens, reviens radieuse, 
Komm, komm wieder, frohlocke, 
Reviens, ô nuit mystérieuse! 
Komm wieder, du geheimnisvolle Nacht
(Französischer Text: Romain Bussine)
 
So gefühlvoll dieses Lied, so abgrundtief romantisch und vollkommen schön. Und ich erinnerte mich plötzlich, wie ich damals vor über 40 Jahren in unserem Haus an der Bocklerstrasse in Schwamendingen am Klavier sitzen und meinen Freund und Mitbewohner, den Musikstudenten und Sänger Hans-Martin Bossert, zu diesem Lied begleiten durfte. Ich war stolz, dass ich ohne zu üben den Klavierpart schaffte und so am Wunder dieser Musik teilhaben konnte. Und dann streifte mich letzte Nacht der unangenehme Gedanke auch noch, dass ich mich ein Leben lang wohl eher unterfordert habe. Statt diese himmlische Melodie als Aufforderung zu verstehen, das Klavierspiel noch besser zu beherrschen und mit Hans-Martin zum Klingen zu bringen, zum Beispiel für die hinreissenden Richard Strauss-Lieder oder den ganzen Liedschatz von Schubert, Schumann und Brahms, liess ich es aus lauter Bequemlichkeit bei diesem einen Höhepunkt bleiben und wandte mich weniger anforderungsreichen Tätigkeiten zu. 
Ich bin heute der Meinung, dass mein Leben fast ausschliesslich aus Schlupflöchern bestand, um mich vor den anforderungsreicheren Teilen zu drücken, davor, mit Ehrgeiz und Ausdauer Ziele zu erreichen. Dieses eine Lied erinnert mich an uneingelöste Vorhaben. Heute lädt es mich nostalgisch dazu ein, in dem, was nicht geschehen ist, keine Defizite zu erkennen, sondern das Leben so zu nehmen, wie es mir halt widerfuhr. 

5. März
Meine Erfahrungen mit der Parahotellerie: Am meisten lassen meine Gäste beim Abschied ihr Haar-Shampoo zurück. Musste seit letztem Sommer keines mehr selber kaufen. Und mein Haar bedankt sich für die Abwechsung der Düfte und der Wirkkraft...

6. März
Mein venezolanischer Freund Rodrigo berichtet mir heute einmal mehr entnervt über die Grenze hinweg: «Pero para los políticos revolucionários es mentira que pasa algo. Siempre buscan una excusa y un culpable a todas las desgracias.» - Oder auf Deutsch: «Für die revolutionär gesinnten Politiker hier ist alles nur Lüge, was über die aktuellen Vorgänge berichtet wird. Sie suchen immer nach einer Ausrede und nach Schuldigen für das herrschende Elend.» 
Und dann gibt es einen ganzen Hardliner-Block von Menschen, auch in der Schweiz, die einem weismachen wollen, dass Nicolás Maduro die einzige richtige Lösung sei für dieses Land am Abgrund, demokratisch legitimiert und deshalb unantastbar, denn die Amerikaner hätten es eh nur aufs venezolanische Oel abgesehen. Derweil überqueren bei Cúcuta täglich Hunderte wenn nicht Tausende von Flüchtlingen die Grenze, wollen dem Hunger entkommen und den Grosseltern zu Hause Geld heimschicken, und wenn sie hier in Bogotá landen, so verkaufen sie Schleckzeug in den Bussen, die Kleinkinder auf dem Arm, und viele der Jungen und Gutaussehenden versuchen, sich mit Prostitution über Wasser zu halten. Die Online-Dating-Portale Grindr und Tinder laufen heiss. Ich habe mich dort schon mit attraktiven Zahnärzten und Hochschullehrern unterhalten, die sich für eine Pizza verkaufen würden. 

19. März
Ich weiss etwas, was sie nicht weiss und nicht einmal ahnt. Sie wächst heran, und wenn sie nicht vor sich hindöst, schleckt und putzt sich in einem fort, lässt Haare zurück, frisst in einem Zug den Napf leer, wenn es Futter gibt, und geniesst sowohl die Ruhe des Augenblicks als auch meine Gesellschaft. Manchmal ist sie zu wildem Spiel aufgelegt, so krallig, dass Möbel und Kleider Maschen lassen. 
Würde ich es ihr sagen, was ihr bevorsteht, würde sie es weder verstehen noch begreifen, so dass mir in dieser Angelegenheit nur der quälende Monolog bleibt, der in der existentiellen Frage mündet, ob es mir überhaupt erlaubt ist, ihr die Chancen auf Mutterfreuden zu unterbinden. 
In zwei Tagen schon werden wir sie zum Tierarzt bringen, und belämmert wird sie nach einem halben Tag als ein anderes Tier zurückkehren, mit Halskrause bestückt, welche sie bestimmt mehr als nur stören wird. Kein Kater wird sich je um sie bemühen und seine Duftnoten am Eingang hinterlassen. Sie wird träge werden und gefrässig bis zum Dicksein, und ich werde Schuld auf mich geladen haben und habe dafür erst noch 180.000 Pesos bezahlt. 

©Nikolaus Wyss


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1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

eine Frage, die ich mir stelle: warum sagt auch Jean Ziegler, Maduro müsse bleiben und die westliche Welt verstehe nichts davon.....?