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Mittwoch, 7. September 2022

Carlos Wiston - mein Freund jener Tage


  

Es ist zuweilen nicht unwichtig, den Rahmen zu kennen, in welchem sich eine Geschichte oder ein Gefühl entwickelt. Im Herbst 1970 war es so, dass ich von Europa nach Lateinamerika aufbrach in der Absicht, fernab heimatlicher Zwänge mein eigenes Leben zu gestalten. Nach zweiwöchiger Schifffahrt auf der MS Donizetti landete ich, von Genua aus und nach Zwischenstopps in den Häfen von Neapel, Barcelona und Las Palmas, in La Guaira, dem Hafen von Caracas.

    Ich fühlte mich von Anbeginn in diesem Venezuela ziemlich verloren. Ich sprach kaum Spanisch, alles war für meine Verhältnisse so fremd und zu teuer, und die zwei Adressen, die ich mit mir führte, erwiesen sich beide als Sackgassen. Es handelte sich dabei um ausgewanderte Europäer, die dort zu Reichtum gekommen sind, mich zwar in ihren scharfbewachten Villen am Stadtrand freundlich zum Tee empfingen, gleichzeitig aber in ihrem grossbürgerlichen Verhalten den Beweis erbrachten, dass wir uns weder praktisch noch emotionell etwas zu sagen hatten. Sie lebten in ihrer Welt aus Privatflugzeugen, viel Personal und gepanzerten Limousinen. Ich hingegen, in Jeans und mit Flaumbart, hatte gerade mal Ersatzwäsche, Zahnbürste, das South America Travel Handbook und Imodium im Gepäck, und im Gürtel mit Reissverschluss ein paar Travellers Cheques, die ich mir in der Schweiz für diese Reise auf der Blick-Redaktion und bei der Werbeagentur Rothenhäusler zusammengespart hatte. Meine Gastgeber in Caracas hingegen leisteten sich ab und zu Shoppingtouren nach Miami oder New York City und liessen ihre Kinder an Schulen und Universitäten in den USA oder in Europa ausbilden. Klar, dass sie auf der einen oder anderen Karibik-Insel auch noch ein Ferienanwesen oder eine Bananen- oder Kaffeefarm unterhielten. Netterweise luden sie mich sogar ein, dort einmal ein Wochenende zu verbringen. Doch das eine Mal vereitelte schlechtes Wetter den Anflug, das andere Mal war ich es selbst, der die Einladung ausschlug, weil ich in meinem Unwohlsein schon so weit fortgeschritten war, dass ich hastig Reisevorbereitungen traf, um in Richtung Westen aufzubrechen.

    Bald schon fuhr ich mit dem Bus dem Land entgegen, wovor mir in Venezuela wirklich alle abrieten: nach Kolumbien. Dort seien Diebe und Drogenbanden zuhause, der Alltag würde von bürgerkriegsähnlichen Zuständen, Schmutz und Korruption beherrscht, und zu essen gebe es nicht viel mehr als Kartoffeln, Reis und Kochbananen. Deshalb würden viele Kolumbianer nach Venezuela fliehen und damit leider auch das zivilisatorische Niveau und den Wohlstand des reichen Ölstaates bedrohen. Kolumbien hingegen sei stinkbillig, hiess es. Letzteres liess mich wegen meinen bescheidenen ökonomischen Verhältnisse natürlich aufhorchen und generelle Bedenken hintanstellen.

     Auf der langen Reise ins «gelobte» Land leistete ich mir einen Zwischenhalt in Mérida und fuhr mit der Gondelbahn zum Pico Espejo hinauf. Auf der 4765 Meter über Meer befindlichen Bergstation empfing mich dichter Nebel. Die Sicht betrug geschätzte drei Meter. Die Höhe machte mir zu schaffen. Sie verursachte Schwindelgefühle und starkes Kopfweh. Es war kalt, feucht und windig, und das Bergrestaurant geschlossen. Für mich ein weiterer Beweis, dass Venezuela nicht mein Land sein konnte. Auf der Weiterfahrt zur kolumbianischen Grenzstadt Cucutá überfuhren wir dann noch eine fette Sau. Der Chauffeur hielt es aber nicht für nötig, deswegen anzuhalten.

    Nun gut. Auf den ersten Blick unterschied sich Kolumbien in nicht so vielem von Venezuela. Es gab auch hier verkehrstüchtige Busse, die Leute waren nett und nicht so ruppig, wie sie mir in Caracas geschildert worden sind. Ich meinte sogar zu spüren, dass sich die Kolumbianer ihres schlechten Rufes bewusst waren und sich gerade deshalb besonders zuvorkommend und freundlich zeigen wollten. Was mich aber am meisten freute, waren die Preise fürs Essen und für die Unterkunft, die ich mir hier ohne unmittelbare Existenzängste leisten konnte.

Später, in der auf 2600 Meter über Meer gelegenen Hauptstadt Kolumbiens, Bogotá, hatte ich das Glück, eine Adresse mit mir zu führen, die mir einen Job in der Buchhandlung Buchholz ermöglichte. Der wirblige Patron Karl Buchholz mit seinem schlohweissen Haar und seiner sehr deutschen Diktion im Spanischen verfügte über eine bewegte Buchhändler- und Kunsthändler-Vita. Man munkelte damals, dass er mithalf, in Nazi-Deutschland entartete Kunst loszuschlagen. Nach Stationen in Berlin, Madrid, Lissabon und New York führte ihn seine Laufbahn zum Schluss nach Bogotá, wo er damals zwei Geschäftslokale betrieb. Das eine im Stadtzentrum an der Avenida Jimenez, das andere im damaligen Norden der Stadt, in Chapinero, welcher heutzutage nicht mehr als Norden bezeichnet werden kann, weil sich die Stadt mittlerweile so viel weiter nach Norden ausgedehnt hat, dass man heute auf der Strassenkarte Chapinero in der Mitte der Stadt findet.  

    Meine Chefin war Mary, verantwortlich für das internationale Sortiment im Hochparterre. Sie kam aus Buenos Aires und war mit einem Kolumbianer verheiratet. Sie nahm sich meiner an und lud mich ab und zu bei sich zu Hause zu einem Churrasco ein. Dort lernte ich die Notwendigkeit kennen, vor dem Essen erst einmal ein paar Züge Marijuana zu rauchen. Das zähe Stück Fleisch liess sich nachher leichter kauen und geniessen.

    Ich wohnte bei einer Schriftstellerfamilie mit drei Kindern, die alle süss waren, mich liebten und mir ab und zu eine Zeichnung unter dem Türspalt in mein Zimmer schoben. Abends schrieb ich Texte, die mich in der Meinung bestärkten, eigentlich sei ich Schriftsteller, was natürlich nicht stimmte, denn die damit einhergehende, quälende Einsamkeit hielt ich kaum aus und konnte sie schon gar nicht nutzen für kreatives Arbeiten. Die Buchhandlung blieb mir aber, offen gestanden, auch fremd. Ich bekam mit, wie alle über alle anderen schlecht sprachen. Buchholz pflegte dann noch Oel ins Feuer zu giessen, indem er mich des Öfteren wissen liess, dass den Kolumbianern nicht zu trauen sei. Er sang das venezolanische Lied: Diebe seien sie hier und Falschspieler, und Mischlinge würden eh nicht über eine gute Erbmasse verfügen.

    So ungefähr war der Rahmen, in welchem ich Carlos Wiston in der Verpackungsabteilung der Buchhandlung kennenlernte. Er repräsentierte genau den Menschentyp, mit welchem der deutsche Chef so grosse Mühe bekundete. Ich hingegen entdeckte in Carlos Wiston einen jungen Mann, der zehnmal belesener war als ich und in der Buchhandlung eigentlich an meiner Stelle hätte arbeiten müssen. Er verdiente gut einen Drittel weniger als ich, zögerte aber, schlecht zu reden über den Inhaber. Das verlieh ihm eine gewisse Würde, seine Leidensfähigkeit transformierte sich bei ihm zur Noblesse. Ich begann ihn zu bewundern. Wir gingen von jetzt an oft zusammen zum Lunch, wobei die Suche nach einem Restaurant zuweilen zu einer nervenaufreibenden Tour verkam. Er konnte sich kaum je für ein Speiselokal entscheiden, meinte aber, die Suche erhöhe immerhin den Appetit. Jeder eingesparte Peso galt ihm als Triumph. Um Geld jedoch ist er mich nie angegangen, dafür war er zu stolz.

Ich fragte ihn einmal, wieso er Carlos Wiston heisse und nicht so, wie man es erwarten würde: Winston. Die Antwort: Sein Vater bewunderte Winston Churchill und wollte seinen Erstgeborenen unbedingt auf den Namen des britischen Kriegspremierministers taufen lassen. Doch beim Zivilstandsregister ging etwas schief, denn der Beamte vergass das N im Namen, so dass in allen amtlichen Papieren Wiston zu stehen kam, ohne N. – Um Schwierigkeiten und Missverständnisse zu vermeiden, gewöhnte sich Winston an, sich selbst Wiston zu nennen und – vor allem – als Wiston zu unterschreiben. Mir hingegen kam sein ungewollter Name insofern gelegen, als er mich ans englische «wisdom» erinnerte, also genau an die Art von Weisheit, die ich bei ihm zu entdecken glaubte.

Mit Wiston sah ich zum ersten Mal auch ein Fussballspiel im Stadion Campín, und mit Wiston fuhr ich nach Cartagena ans Meer. Wir logierten im Gestemani-Quartier an der Halbmondstrasse. Kaum angekommen, führte sein erster Weg in eine Apotheke, wo er – ungefragt – für mich Kondome kaufen ging, denn vor unserem Hostel standen die Prostituierten Schlange. Ihm zuliebe liess ich mich sogar auf eine hübsche, junge Frau ein und verbrachte bei ihr, zum eigenen Erstaunen, ein paar wunderbare Tage.

    Meine Neigung zum eigenen Geschlecht aber war kein Thema. Sie fand keinen Platz in unserer Freundschaft, sie wäre, dies meine scheue Einschätzung, der Reinheit unserer Beziehung abträglich gewesen. So aber konnten wir an einer Art von Freundschaft arbeiten, die ich schon fast als ideal bezeichnen würde. Wäre ich je darauf angesprochen worden, ich hätte Carlos Wiston in jenen Tagen unumwunden als meinen besten Freund bezeichnet und dabei die Ergänzung unterlassen, dass er damals auch mein einziger Freund war, den ich hatte.

    Klar, da waren noch meine Freunde von vor meiner Abreise. Der eine schrieb mir von seinen Studien an der Harvard University, der andere studierte Geschichte und wollte Diplomat werden, und der dritte berichtete in langen Briefen von seinen Mädchen und von seinen Depressionen, die ihn später in den Selbstmord treiben sollten. Und hier in Bogotá pflegte ich Kontakt zu ein paar Schweizern, die für ein Hilfswerk unterwegs waren. Sonntags stiess ich zu ihnen und half mit bei der «concientización» von Armenvierteln, wie man das damals nannte, auf Deutsch: Bewusstwerdung. Man verteilte Flugblätter, organisierte Suppenessen, hielt Versammlungen ab und stachelte die Bevölkerung auf, sich gegen staatliche Übergriffe zu wehren. Das Viertel Pardo Rubio zum Beispiel, das über dörfliche Strukturen verfügte und ganz oben am Hang klebte mit fabelhafter Aussicht auf die ganze Stadt, sollte wegen einer Schnellstrasse, der Circumvalar, aufgerieben werden. (Zum Schluss hatten die Proteste nichts bewirkt, doch damals wog man sich noch im Glauben, das Projekt bei genügender Mobilisation abwehren zu können.)

    Ich nahm ein paarmal Carlos Wiston ins Pardo Rubio mit, musste aber erkennen, dass die Schweizer kein grosses Interesse bekundeten, ihn als meinen Freund anzuerkennen. Das lag vielleicht auch an seiner eigenen, reservierten Haltung gegenüber unseren Aktivitäten, denn er hielt sie für reichlich idealistisch und nutzlos. Er jedenfalls, der aus ähnlich ärmlichen Verhältnissen stammte wie die Leute in diesem Viertel, konnte unserem Wirken nicht viel abgewinnen. So blieb ich etwas allein mit meinem besten Freund, was einerseits meine Gefühle für ihn verstärkte und andrerseits mich aber auch daran hinderte, ein richtiger Revolutionär zu werden. Denn aus diesem Kreis von damals erwuchs tatsächlich so etwas wie eine umstürzlerische Zelle, welche Sprengkörper zu Hause im Badezimmer versteckt hielt und auch einen Anschlag auf eine Polizeistation verübte. Typischerweise wurden darauf Einheimische verfolgt und verhaftet, während die ausländischen Agitatoren, ergänzt mit kolumbianischen Studenten aus gutem Hause, untertauchen und ins Ausland fliehen konnten. Doch das geschah, als ich schon wieder in der Schweiz war, als Kellner und als Co-Therapeut in einer kinderpsychologischen Praxis arbeitete und nebenher Ethnologie studierte.

    Von meinem Ausflug nach Cartagena kehrte ich allein nach Bogotá zurück. Carlos Wiston musste noch schnell einen Abstecher nach Santa Marta machen, um ein Mädchen, das ihm bei früherer Gelegenheit schöne Augen machte, aufzusuchen. Als er wenige Tage später und arg enttäuscht, weil aus der Romanze nicht mehr wurde, in der Verpackungsabteilung der Buchhandlung Buchholz wieder auftauchte, wurde er fristlos gefeuert wegen nichtrechtzeitigen Erscheinens zur Arbeit.

So ging das erste Kapitel unserer Freundschaft zu Ende. Von da weg mussten wir abmachen, um uns zu sehen. Die regelmässigen Mittagessen blieben aus. Er arbeitete jetzt als selbständiger Buchvertreter und reiste mit irgendwelchen Schrottpublikationen im ganzen Land herum und versuchte diese den Papeterien, welche auch noch ein bescheidenes Buchsortiment führten, anzudrehen.

    Und ich selbst, von Depressionen gepeinigt, musste langsam einsehen, dass ich den kolumbianischen Herausforderungen nicht gewachsen war. Ich trug mich mit dem Gedanken, in mein Heimatland zurückzukehren und dort psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen, was dann, mit einiger Verzögerung, auch geschah.

Wir schrieben uns noch, Carlos Wiston und ich, aber die Briefe erwiesen sich als etwas anstrengend. Mein Spanisch war dafür zu wenig entwickelt und fiel gegenüber den Ausführungen von Carlos Wiston dermassen ab, dass ich mich nur noch schämte. Übersetzunghilfen von Google gab es damals noch nicht. So versiegte die Korrespondenz allmählich, auch wenn das Gefühl blieb, einen Freund in Kolumbien zu wissen.

***

    Es muss Ende der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts gewesen sein, als ich mich anschickte, Kolumbien wieder einmal zu besuchen. Das Land versank damals gerade in den Wirrnissen der Drogenkriege und Guerillakämpfe. Ganze Talschaften befanden sich auf der Flucht. Sicherheitskräfte, Lehrpersonal und die Beamtenschaft machten sich jeweils als erste aus dem Staub und liessen die hilflose, verängstigte Bevölkerung allein zurück, wo sie von Paramilitärs, Guerilleros oder von regulären Streitkräften (Stichwort: falsos positivos) entweder massakriert oder vertrieben wurden, wenn sie sich nicht den neuen, rücksichtslosen und brutalen Herrschern bedingungslos unterwarfen. Meiner Unwissenheit und Naivität ist es aber zuzuschreiben, dass ich trotz allem ein Flugbillett löste, um Carlos Wiston wiederzusehen. Wobei mich der Gedanke streifte, auch er könnte Opfer dieser violenten Zeiten geworden sein. Vielleicht würde ich wenigstens seine Hinterbliebenen ausfindig machen, um mit der mir noch unbekannten Witwe sein Grab aufzusuchen und dort eine weisse Rose niederzulegen.  

Ich erinnere mich noch, dass ich einen Moment lang enttäuscht war, als ich, in Bogotá eingetroffen, ohne Umwege seine Adresse fand - ohne Abenteuer und Romantik. Ich rief an, er meldete sich, und wir machten auf den nächsten Tag in der Nähe des Goldmuseums ab. Dort tauchte er mit einer ganzen Kinderschar auf. Ich glaube, es waren fünf. Oder sechs. Sein Haar war etwas angegraut, doch sein strahlendes Lachen und seine vornehme Art kamen mir vertraut vor.

    Er erzählte, dass er eine Zeitlang als Vertreter von Haushaltsgeräten gutes Geld machte, doch später wieder aufs Buchgeschäft zurückgekommen sei. Und die Kinder? Seine damalige Frau schenkte ihm fünf Töchter. Leider verstarb sie im Kindbett der letzten. So wurde Carlos Wiston alleinerziehender Vater, gab aber den Wunsch nie auf, noch einen Sohn zu zeugen. Als die älteste Tochter, sie war damals vielleicht 16 Jahre alt, eine Schulfreundin heimbrachte, schien der Zeitpunkt gekommen, diesen Wunsch in Tat umzusetzen. Sie schenkte ihm einen Sohn und wurde zu seiner zweiten Ehefrau.

    Ich schreibe freihändig, das heisst, aus der Erinnerung. Es könnte sich auch etwas anders zugetragen haben. Festgesetzt hatte sich allerdings der Eindruck, dass die alten freundschaftlichen Gefühle für ihn nicht mehr dieselben waren. Während ich mir eingestehen musste, wohl keine Familie gründen zu können, er aber das Hohelied der Familie sang, entglitt mir die Lust, ihm von meinem eigenen Leben zu erzählen, um so auf Augenhöhe die alte Freundschaft zu retablieren. Ich kam mir als weitgereisten Versager vor. Ich hatte nichts zu berichten, was sein Familienglück hätte aufwiegen und ihn hätte interessieren können.

***

    Das zweitletzte Kapitel dieser Freundschaft jener Tage trug sich um meinen 50. Geburtstag herum zu. Ich hatte den Ehrgeiz, zu diesem Fest Freunde aus allen Lebensphasen einzuladen. Ich war damals Rektor der Kunsthochschule Luzern und in der Lage, auch eine weite Reise zu finanzieren. Deshalb kontaktierte ich auch Carlos Wiston und wollte ihn an diesem Anlass dabeihaben. Er antwortete überrascht, doch auch mit Freude.

    Wenige Tage vor seinem Abflug jedoch, am 25. Januar 1999, bebte die Erde in Kolumbien. In Armenia, Quindío, zeigte die Richterskala 6,1 Punkte an. Die Provinzhauptstadt wurde zu grossen Teilen dem Erdboden gleichgemacht. Die Eltern von Carlos Wiston wohnten dort. Er musste hinfahren und zum Rechten schauen und sagte seine Teilnahme am Geburtstagsfest ab.

    Wir sahen uns nie mehr. Auch nicht, als ich Ende 2016 nach Kolumbien übersiedelte. Ich entdeckte ihn zwar auf Facebook, jetzt mit seinem eigentlichen Namen Carlos Winston. Doch die vielen Einträge seiner weitverzweigten Familie, wo sich eine Taufe an die andere reihte, wo Fotos von Hochzeits- und Geburtstagsfesten mit vielen bunten Ballonen und Herzchen im Hintergrund kumulierten, und Carlos Winston, jetzt ein alter Mann, von allen liebevoll umsorgt schien, hielten mich irgendwie davon ab, den Schritt auf ihn zuzutun.

    Als ich kürzlich seine Seite wieder aufschlug, las ich unter dem Datum 10. Mai 2020 folgenden Eintrag von Carolina, und ich nehme an, es handelt sich dabei um eine seiner Töchter: «Mein Väterchen, du bist heute von uns gegangen, aber du bleibst uns lebendig und bist eintätowiert in unseren Gedanken und Herzen. Wir lieben dich.» Und am 4. Juni desselben Jahres schrieb Monik, wohl eine andere Tochter: «Mein wunderbarer Papa, heute würdest du einen weiteren Geburtstag feiern, doch jetzt weilst du beim Lieben Gott. Ich vermisse dich sehr. Alles Gute einem weiteren Engel im Himmel. Mein Papito, ich liebe dich.»

***

    Ich weiss nicht recht, wie ich diesen Text zu einem befriedigenden Schluss bringen soll. Texte verlangen nach einer gewissen Dramaturgie und nach einem Sinn, wozu sie überhaupt geschrieben worden sind. Erinnerungen hingegen hängen in der Luft, einer Wolke gleich, aus welcher manchmal Wehmut tropft.

 


© Nikolaus Wyss

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Zur Atlantik-Überfahrt noch dies: Maskenball auf hoher See

 

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Dienstag, 23. Juli 2019

Ein Freund aus Kolumbien


Mir widerfuhr neulich in Deutschland, was mir in Kolumbien häufig passiert: Meine Herkunft interessiert, und die Kenntnisnahme wird stets mit anerkennenden, staunenden Worten und von Interesse zeugenden Fragen begleitet.
Ich hielt mich also für ein paar Wochen in Deutschland auf. Im Zentrum standen Wiederbegegnungen mit alten Freunden. Wir unternahmen Ausflüge, gingen gemeinsam essen, machten Besuche und nahmen an Veranstaltungen teil. Bei solchen Aktivitäten begegnete ich immer wieder deren Freunde, denen ich regelmässig als Freund aus Kolumbien vorgestellt wurde. Das war so überhaupt nicht abgesprochen. Doch meine Freunde schienen Spass daran zu haben, ihren Freunden einen Überseefreund vorstellen zu können, und sie rechneten sich wahrscheinlich aus, damit mehr Aufmerksamkeit zu erzielen, als wenn ich als Schweizer Pensionär dahergekommen wäre. Die Kenntnisnahme meiner „Herkunft“ provozierte jedenfalls anerkennendes Staunen. Die einen entschuldigten sich für ihr mangelhaftes Spanisch, worauf ich sofort zu verstehen gab, dass ich der deutschen Sprache mächtig sei. Andere erkundigten sich freundlich, ob das Land besser sei als der Ruf, der ihm vorauseilt, und fanden es mutig, dorthin auszuwandern.
Mein Kolumbien-Ruf verdichtete sich an einem Abend bei den Berliner Philharmonikern zu einem vielseitigen, und gleichzeitig verstörenden Erlebnis. Wir hörten eine Haydn-Symphonie, das 4. Klavierkonzert von Ludwig van Beethoven und die 5. Symphonie von Robert Schumann. Am Pult: Daniel Barenboim, am Klavier: Maria João Pires, die kurzfristig für den erkrankten Radu Lupu einsprang. Da meine Berliner Freundin früher bei der Philharmonie in leitender Stellung arbeitete, hat sie auf Lebenszeit für alle Konzerte Anrecht auf zwei Gratiskarten, und in ihrem Schlepptau durfte ich von ihren Privilegien profitieren. In der Pause und nach dem Konzert begleitete ich sie in die Künstlergarderoben und konnte auch die zarte Hand von Frau João Pires drücken und ihr gratulieren zum gelungenen Auftritt. Als Freund aus Kolumbien liess sie mich sofort wissen, dass sie im Oktober in Bogotá zugegen sei, was ich mir natürlich sofort vormerkte. Dann arbeiteten wir uns auch zum in Argentinien geborenen Maestro Barenboim vor, und als Freund Kolumbiens liess ich verlauten, wie gut mir der Abend gefallen habe. Er aber verstand, dass mir Kolumbien so gut gefalle und antwortete mit leerem, glasigem Blick, ja, schönes Land. Dann kamen Geiger und Hornisten dran, und irgendwann stiessen wir auch auf den Bassisten Edicson Ruiz aus Venezuela, von welchem meine Begleiterin erzählte, dieser sei in seiner Jugend in einem Slum von Caracas vor der Wahl gestanden, sich entweder einer kriminellen Gang anzuschliessen oder im Rahmen des einmaligen Sozial-Musik-Projektes El Sistema von José Antonio Abreu, das Cello zu erlernen. Später wechselte er zum Bass und gelangte mit einem Stipedium nach Europa. Jetzt spielt er seit vielen Jahren in der Philharmonie. Dem Freund aus Kolumbien gegenüber fühlte er sich natürlich verpflichtet, sofort auf Spanisch zu wechseln. Nun muss man wissen, dass Venezolaner beim Sprechen kaum ihre Lippen bewegen und in einer Geschwindigkeit daherreden, dass einem Hören und Sehen vergeht. So geschah, was geschehen musste. Ich verstand nichts, antwortete – welche Schmach – auf Deutsch, und kam mir in diesem Moment so unheimlich nackt und überführt vor.

© Nikolaus Wyss

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Donnerstag, 9. Mai 2019

Stägeli uuf, Stägeli ab juhee (Tagebuch 6)

Jesús in seiner Blüte...
27. April 
Jesús wohnt jetzt eine Zeitlang bei uns. Er kann es sich leisten, weil ihm die Unterkunft sein italienischer Freund bezahlt. Sie hatten sich vor einiger Zeit übers Internet kennengelernt und sich kürzlich hier zum ersten Mal getroffen.
Es war die Rede davon, dass Jesús ihm nach Italien folge. Daraus wird vorerst wohl nichts. Sein venezolanischer Pass ist abgelaufen. Die diplomatischen und konsularischen Beziehungen zwischen seinem Land und Kolumbien sind versiegt, den Antrag für einen neuen Pass kann er sich ans Bein streichen. Ebenso wenig helfen ihm da die benachbarten Länder, weil er ja zur Einreise dorthin über einen gültigen Pass verfügen müsste. Und Venezuela, sein Heimatland, aus welchem er vor zehn Monaten geflohen ist, wird ihm schon gar nicht weiterhelfen wollen. Momentan werden dort gar keine neuen Reisepässe ausgestellt. 
Er ist also gestrandet hier im Asylzentrum Casa Wyss. Freunde machen ihm Hoffnung, es doch mit einem gefälschten Pass zu versuchen. Ich warne davor in echt schweizerischer Manier. Jesús malt, er versteht sich als Künstler. Er färbt sich sein Haar jeden Tag aufs Neue. Das bringt etwas Abwechsung in sein Leben.

28. April
Die Tatzen als Nadelkissen und die Schnautzhaare für Eladio, der Mechaniker ist

Ich lerne momentan ein Gedicht auswenig, das hier Verwirrung stiftet, wenn ich es zitiere. In seiner abgründigen Art gefällt es mir sehr: 

Piedad Bonnett

Reciclando – Wiederverwertung   

Cuando papá en un ataque de rabia mató al gato, 
Als Vater bei einem Wutanfall den Kater tötete, 

a mi gato Bartolo
meinen Kater Bartolo 

porque metió la cola entre su caldo
weil dieser den Schwanz in dessen Suppe getaucht hatte 

y porque ya era viejo y no cazaba como debía ratones
und weil er schon alt war und keine Mäuse mehr fing 

y ademas era caro mantenerlo,
ausserdem kostete er uns Geld, 

cuando papá borracho lo mató con sus manos,
als Vater ihn also im Rausch mit seinen eigenen Händen erwürgte, 

hubo una gran algarabía en casa.
Da war etwas los bei uns im Haus. 

Vinieron todos, todos;
Alle kamen, alle; 

mi hermana dijo: guardenme los ojos
meine Schwester sagte: ich möchte die Augen 

para un par de zarcillos, y Martino,
für ein Paar Ohrringe, und Martino, 

nuestro vecino ciego, se pidió las tripitas
unser blinder Nachbar, fragte nach dem Darm 

- sirven para hacer cuerdas de violín -
- damit lassen sich Violinsaiten herstellen - 

y mi mamá, que al principio lloró, lloró conmigo,
und meine Mutter, die erst weinte, mit mir weinte, 

quiso la piel
wollte schliesslich das Fell 

para ponerle cuello a su chaqueta,
um es als Kragen für ihre Jacke zu verwenden, 

y los bigotes
und um die Schnauzhaare 

se los pidió mi hermano Eladio, el que es mecánico,
bemühte sich mein Bruder Eladio, der Mechaniker ist, 

y los cojines de sus patas fueron
und die Pfoten schliesslich sollten 

lindos alfileteros
niedliche Nadelkissen werden 

para la bruja gorda que vive atrás del patio
für die dicke Hexe auf der anderen Hofseite, 

y es modista.
die Schneiderin ist. 

Lo que sobró lo hirvieron con sal y cebolla.
Was übrig blieb, wurde mit Salz und Zwiebeln ausgekocht. 

Se lo dieron a Luis, que duerme en nuestra calle,
Sie gaben es Luis, der in unserer Straße schläft, 

pues también sirve el caldo de gato para el hambre.
denn auch eine Katzensuppe hilft gegen Hunger.


Yo me pedí los huesos.
Ich bat um die Knochen. 

Uno a uno los muerdo delante del espejo de mi hermana
Einen um den anderen nage ich jetzt vor dem Spiegel meiner Schwester 

porque dijo mi abuela
weil meine Großmutter sagte 

que al morder el que toca se vuelve invisible
sie zu beissen mache unsichtbar

y eso quiero.
und das ist es, was ich möchte. 


30. April
Tapsi und Arlette hiessen die beiden Dalmatiner vor 60 Jahren, welche das Leben einer befreundeten Arztfamilie bereicherten. Sie bettelten am Tisch und erhielten zuweilen Knochen zugesteckt. Von ihrem Geifer bekamen auch meine Hosen etwas ab, was mich für sie nicht gerade einnahm. Wenn sie läufig waren, trugen sie Höschen. 
Meine Mutter fand diese gefleckten Viecher blöd. Ich aber dachte eher, so richtig blöd würden sie erst durch ihre Namen, mit denen sie bedacht worden sind.


6. Mai

Meine Ängste werden zur Zeit gut bewirtschaftet, und ich beobachte mich dabei, wie ich mich immer mal wieder daraus zu befreien versuche. Da war die Netflix-Serie über die Narcos in Kolumbien. Ein über viele Episoden hinziehendes Verfolgen, Niederknallen und Katz-und-Maus-Spielen in einer mir wohlvertrauten Umgebung. Plötzlich sah ich in jedem Taxifahrer einen Gehilfen Escobars, und jeder Polizist steckte für mich unter einer Decke mit den Gesetzlosen. Diejenigen mit Krawatte waren die Verdächtigsten. Stiegen sie in eine Limousine, so erwartete ich, dass eine Bombe losging. - Es brauchte seine Zeit, das Vertrauen in den jetzt gelebten Alltag wieder herzustellen.
Dieser Tage wird der Bericht zum Zustand der Biodiversität unserer Erde veröffentlicht. Vergegenwärtigt man sich die Folgen, so sieht es für die absehbare Zukunft unserer Menschheit noch schlimmer aus als beim Klimawandel. Und man fühlt sich so fürchterlich allein gelassen mit seiner Sorge. Da liefern sich Politiker jeder Couleur Schaukämpfe und lassen jede Verantwortung für unser Wohl vermissen. Beiträge und Opfer von uns werden nicht honoriert. Niemand klopft mir auf die Schulter, wenn ich auf die geplante Indien-Reise verzichte oder statt Fleisch Kichererbsen und Linsen zubereite. Die Überwindung dieser Angst wird wohl noch eine Weile andauern. Ja, vielleicht wäre es gar nicht so gut, diese abzulegen. Vielleicht hülfe als Anreiz auch das in China bereits eingeführte Punktesystem mit Gesichtserkennung. Damit werden alle Bürgerinnen und Bürger des Landes überwacht. Für jede umweltfreundliche Tat gäbe es Pluspunkte. So würde man zum besseren Menschen, der Steuerabzüge und andere Goodies für sich in Anspruch nehmen dürfte.
Da kommt mir die Angst vor dem Altern gerade gelegen. Sie verflüchtigt sich angesichts des Zustands dieser Welt geradezu. Es gibt da eine schon fast wohltuende Gewissheit, dass man noch vor dem Weltuntergang sterben wird. 

7. Mai
Foto aus Nigeria von Jonathan Liechti
Besuch des Schweizer Beitrags an der Fotográfica Bogotá in der Uni Tadeo. Bemerkenswert, ja seltsam ist, dass sich diese Schweizer BildkünstlerInnen bei der Auswahl ihrer Sujets fast alle auf die Darstellung des Elends kapriziert haben: Flüchtlinge im Balkan, Arme in Afrika und Brasilien. Als ob das Schöne, das dem Ruf der Schweiz vorauseilt, mit der Darstellung des Unschönen und Unglücks in der Fremde kompensiert werden müsste. Und dann noch ein ästhetischer Purzelbaum: die Fotos sind schön und exotisieren das Elend. Und dies hier in einem Land, das tagtäglich am eigenen Leib erfährt, wie hart und ungerecht das Leben mit einem umgeht. Zwiespältig das Ganze.

8. Mai
Dorothee Hess und ich anlässlich einer Veranstaltung im Büchertreff Schwamendingen
Heute vor elf Jahren verstarb meine Freundin Dorothee Hess-Bachofner nach langer, rätselhafter Krankeit, die sich erst im Laufe der Zeit als ALS herausstellte. Bei ihr schlug es zuerst auf die Sprache. Sie konnte sich nach einer Weile nicht mehr artikulieren. Das war sowohl für sie wie auch für ihre unmittelbare Umgebung besonders bitter, denn sie war die geborene Kommunikatorin. Sie hatte immer ein Ohr für andere und vermochte mit treffenden Worten zu reagieren. Man fühlte sich von ihr verstanden. Mit vielen verband sie eine Art Komplizenschaft, eine Mischung aus Klatsch und Anteilnahme, durchsetzt mit einer gehörigen Portion Humor. Sie führte ein gastliches Haus und war Mutter von vier gutaussehenden Buben, die es alle in ihren Leben zu etwas gebracht haben. Über ihren Gatten Heinz schrieb ich anlässlich seines Todes unter diesem Link etwas
Dorothee kommt mir immer an erster Stelle in den Sinn, wenn ich an Schwamendingen denke, wo ich 20 Jahre meines Lebens verbracht habe. Wir gründeten zusammen die Genossenschafts-Buchhandlung Büchertreff. Unsere Wege kreuzten sich aber auch sonst auf vielfältige Weise, und es gab Zeiten, wo wir gleichzeitig dieselben Bücher lasen und uns darüber austauschten. Sie kannte alle meine Lovers. Und die Tatsache, dass ich damals in meiner Einsamkeit ab und zu eine Portion Familienleben brauchte und dazu nur über die Strasse zu Hessens zu gehen brauchte, habe ich andernorts sicher schon zehnmal erwähnt. Jetzt würde Dorothee in ihrem 77. Lebensjahr stehen, und ich kann sie mir noch immer nicht anders vorstellen als sie damals war: agil, mit Schalk in den Augen, im Garten, mit Blumen, grad jetzt, im Mai, wo alles blüht.  

10. Mai
Hinter meinem Haus befindet sich eine Baubrache, welche als Parkplatz genutzt wird. Akkustisch ist das Geviert insofern interessant, als ihm einige spezifische Geräusche eigen sind. Zum einen ist da der Parkplatz-Zuweiser, der dem einfahrenden Automobilisten mit lautem Deledeledele zu verstehen gibt, er könne ruhig noch etwas näher zur Mauer auffahren. Hunderte Male am Tag. Deledeledele. Dann sind da zum andern die Alarmanlagen der Autos, die alle losgehen, wenn wieder einmal eines der häufigen Gewitter über der Stadt donnert. Dann zwitschern, heulen und schnattern die Vehikel wie eine Volière voller aufgescheuchter Vögel. 
Auf dem Gelände befindet sich auch ein Abbruchobjekt, in welchem sich Punks eingenistet haben. Ihr akkustischer Tageslauf fängt ungefähr um 15 Uhr an, wenn der eine sich anstelle einer Dusche am Schlagzeug aufzufrischen beginnt und ein anderer die wenigen Basstöne, die er beherrscht, dröhnen lässt. Manchmal gesellen sich weitere Musiker hinzu. Sie üben aber nicht, sie versuchen vielmehr, ihre Zeit zu vertreiben, indem sie der Umgebung musikalisch zu verstehen geben, dass sie nichts mit Musik zu tun haben wollen. Manchmal schreien sie auch einfach wild durcheinander. Das zieht sich in den Abend hinein. Doch richtig los geht es erst abends um halb elf, wenn ich zu Bette gehe und wenn deren Mädchen eintreffen, um die langweiligen Töne der Boys mit ihren Lachsalven und ihrem Gekreische zu übertreffen. Immerhin gibt es Abende, wo die Punks von schrecklich falsch intonierten Tönen auf der Terrasse der gegenüberliegenden Seite konkurrenziert werden. Dort werden nämlich regelmässig Karaoke-Anlässe durchgeführt, angefeuert von einem Animator, der nicht genug bekommt, über Lautsprecher die zögernde Gästeschar zum Singen aufzufordern. Alkohol hilft auch hier, und je später der Abend umso lauter das we are the champions...
Auf dieser Brache ist ein Neubau geplant. Sieben Stockwerke hoch. Der Verkauf der Appartments habe sich gut angelassen, versichert mir der Agent. Im kommenden Oktober schon sollen die Bagger auffahren. - Das Haus wird mir Licht wegnehmen, dafür verspreche ich mir ruhigere Abende. Man kann nicht einfach alles haben. 


©Nikolaus Wyss

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Dienstag, 19. März 2019

Stägeli uuf, Stägeli ab juhee (Tagebuch 3)

2. März 
In meinem Facebook-Freundeskreis gibt es einen mir nicht näher und nicht persönlich bekannten Menschen, der seit Jahr und Tag mit Krankheiten, Herzinfarkten in Serie, allerlei Rückschlägen von Kopf bis Fuss und mit Notfall-Einweisungen konfrontiert ist. Seine schlimmen Erfahrungen mit Spitälern und Ärzten, in seinen Augen allesamt inkompetent, sind Legende. Manchmal postet er Nahaufnahmen seiner offenen Beine, das andere Mal sieht man die Schläuche, wie sie an seinem Spitalbett herunterbaumeln. 
Fein säuberlich und akribisch lässt er die Leserschaft an seinem Krankheitsverlauf teilhaben, schimpft und jammert zuweilen, manchmal glänzt er auch mit Galgenhumor und gewährt uns so Einblick in seine Befindlichkeit und in mancherlei Grenzerfahrungen.
Grenzerfahrungen aber machen auch wir in der Konfrontation mit seinem Schicksal, mit diesem schmerzvollen Aufundab. Wie können wir uns gegenüber so wenig Verheissung und Hoffnung nur verhalten? Sind wir in der Lage, darauf adäquat zu reagieren? Die Lektüre der Antworten auf dessen Posts ist ein interessantes und spannendes Panoptikum von Äusserungen der Anteilnahme, des Mutmachens, der eigenen Ratlosigkeit, zuweilen auch der versteckten Abscheu, des Entsetzens und des Sarkasmus. Der Mann hat schon so vieles durch- und überlebt, dass man schon gar nicht mehr glaubt, dass er je einmal an seinem Leiden sterben könnte. 

Jetzt sind bei ihm zum wiederholten Mal Suizidgedanken en vogue. Auf tiefgrauem Hintergrund schreibt er zum Beispiel: "Noch zwei Wochen wie die letzten. Wie es aussieht: Zeit für Suizid (Pentotal)". Und flugs stehen fb-Freunde in den Löchern, um ihm dies mit den unterschiedlichsten Strategien und Worten auszureden. Da heisst es zum Beispiel:
"Also zwei Wochen sind ja überschaubar", worauf der Patient antwortet: "Zeitlich ja, aber überlebbar nicht." Und der Helfer legt nach: "Jetzt bist du dem Tod so oft von der Schippe gesprungen." 
Hier könnte nun ein 254 Seiten umfassender Zitatenschatz des abwechslungsreichen Krankendiskurses folgen, der für einen findigen Verleger ein gefundenes Fressen wäre. Nur so als Tipp. Variante: Würde ich von einem Psychologie-Studierenden gefragt, worüber er denn eine Doktorarbeit schreiben solle, so gäbe es hier genügend Stoff für eine interessante Analyse, wie eine Social-Media-Leserschaft mit Grenzerfahrungen eines ihrer Freunde umgeht. Shitstorms sind bisher ausgeblieben. Irgendwie tröstlich.

4. März
Letzte Nacht habe ich mich wieder einmal in Schlaflosigkeit geübt und dafür Radio gehört. Bei Gabriel Faurés wunderbarem Lied Après un rêve begann ich vor mich hinzuweinen. Morgens um drei: 

Après un rêve 

Dans un sommeil que charmait ton image 
Im Schlaf erschien mir dein Antlitz 
Je revais le bonheur ardent mirage, 
Ich  träumte vom feurigen Glück 
Tes yeux etaient plus doux, ta voix pure et sonore, 
Deine Augen waren so lieblich, Deine Stimme schön und rein
Tu rayonnais comme un ciel eclaire par l'aurore; 
Du strahltest wie der Himmel beim Sonnenaufgang 
Tu m'appelais et je quittais la terre 
Du riefst mich und ich erhob mich 
Pour m'enfuir avec toi vers la lumiere, 
Um mit zu dir ans Licht zu gelangen
Le cieux pour nous entr'ouvraient leurs nues, 
Der Himmel öffnete für uns seine Wolken 
splendeurs inconnues, 
welch unbekannte Herrlichkeit,
Ieurs divines entre vues, 
welch himmlischer Anblick 
Helas! Helas, triste reveil des songes, 
Doch dann, welch trauriges, sorgenvolles Erwachen
Je t'appelle, o nuit, rends-moi tes mensonges, 
Oh Nacht, gib mir deine Lügen zurück 
Reviens, reviens radieuse, 
Komm, komm wieder, frohlocke, 
Reviens, ô nuit mystérieuse! 
Komm wieder, du geheimnisvolle Nacht
(Französischer Text: Romain Bussine)
 
So gefühlvoll dieses Lied, so abgrundtief romantisch und vollkommen schön. Und ich erinnerte mich plötzlich, wie ich damals vor über 40 Jahren in unserem Haus an der Bocklerstrasse in Schwamendingen am Klavier sitzen und meinen Freund und Mitbewohner, den Musikstudenten und Sänger Hans-Martin Bossert, zu diesem Lied begleiten durfte. Ich war stolz, dass ich ohne zu üben den Klavierpart schaffte und so am Wunder dieser Musik teilhaben konnte. Und dann streifte mich letzte Nacht der unangenehme Gedanke auch noch, dass ich mich ein Leben lang wohl eher unterfordert habe. Statt diese himmlische Melodie als Aufforderung zu verstehen, das Klavierspiel noch besser zu beherrschen und mit Hans-Martin zum Klingen zu bringen, zum Beispiel für die hinreissenden Richard Strauss-Lieder oder den ganzen Liedschatz von Schubert, Schumann und Brahms, liess ich es aus lauter Bequemlichkeit bei diesem einen Höhepunkt bleiben und wandte mich weniger anforderungsreichen Tätigkeiten zu. 
Ich bin heute der Meinung, dass mein Leben fast ausschliesslich aus Schlupflöchern bestand, um mich vor den anforderungsreicheren Teilen zu drücken, davor, mit Ehrgeiz und Ausdauer Ziele zu erreichen. Dieses eine Lied erinnert mich an uneingelöste Vorhaben. Heute lädt es mich nostalgisch dazu ein, in dem, was nicht geschehen ist, keine Defizite zu erkennen, sondern das Leben so zu nehmen, wie es mir halt widerfuhr. 

5. März
Meine Erfahrungen mit der Parahotellerie: Am meisten lassen meine Gäste beim Abschied ihr Haar-Shampoo zurück. Musste seit letztem Sommer keines mehr selber kaufen. Und mein Haar bedankt sich für die Abwechsung der Düfte und der Wirkkraft...

6. März
Mein venezolanischer Freund Rodrigo berichtet mir heute einmal mehr entnervt über die Grenze hinweg: «Pero para los políticos revolucionários es mentira que pasa algo. Siempre buscan una excusa y un culpable a todas las desgracias.» - Oder auf Deutsch: «Für die revolutionär gesinnten Politiker hier ist alles nur Lüge, was über die aktuellen Vorgänge berichtet wird. Sie suchen immer nach einer Ausrede und nach Schuldigen für das herrschende Elend.» 
Und dann gibt es einen ganzen Hardliner-Block von Menschen, auch in der Schweiz, die einem weismachen wollen, dass Nicolás Maduro die einzige richtige Lösung sei für dieses Land am Abgrund, demokratisch legitimiert und deshalb unantastbar, denn die Amerikaner hätten es eh nur aufs venezolanische Oel abgesehen. Derweil überqueren bei Cúcuta täglich Hunderte wenn nicht Tausende von Flüchtlingen die Grenze, wollen dem Hunger entkommen und den Grosseltern zu Hause Geld heimschicken, und wenn sie hier in Bogotá landen, so verkaufen sie Schleckzeug in den Bussen, die Kleinkinder auf dem Arm, und viele der Jungen und Gutaussehenden versuchen, sich mit Prostitution über Wasser zu halten. Die Online-Dating-Portale Grindr und Tinder laufen heiss. Ich habe mich dort schon mit attraktiven Zahnärzten und Hochschullehrern unterhalten, die sich für eine Pizza verkaufen würden. 

19. März
Ich weiss etwas, was sie nicht weiss und nicht einmal ahnt. Sie wächst heran, und wenn sie nicht vor sich hindöst, schleckt und putzt sich in einem fort, lässt Haare zurück, frisst in einem Zug den Napf leer, wenn es Futter gibt, und geniesst sowohl die Ruhe des Augenblicks als auch meine Gesellschaft. Manchmal ist sie zu wildem Spiel aufgelegt, so krallig, dass Möbel und Kleider Maschen lassen. 
Würde ich es ihr sagen, was ihr bevorsteht, würde sie es weder verstehen noch begreifen, so dass mir in dieser Angelegenheit nur der quälende Monolog bleibt, der in der existentiellen Frage mündet, ob es mir überhaupt erlaubt ist, ihr die Chancen auf Mutterfreuden zu unterbinden. 
In zwei Tagen schon werden wir sie zum Tierarzt bringen, und belämmert wird sie nach einem halben Tag als ein anderes Tier zurückkehren, mit Halskrause bestückt, welche sie bestimmt mehr als nur stören wird. Kein Kater wird sich je um sie bemühen und seine Duftnoten am Eingang hinterlassen. Sie wird träge werden und gefrässig bis zum Dicksein, und ich werde Schuld auf mich geladen haben und habe dafür erst noch 180.000 Pesos bezahlt. 

©Nikolaus Wyss


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