Aufgenommen irgendwann vor langer Zeit - aber nicht auf der "Donizetti" |
Vor 50 Jahren nahm ich Abschied von Europa. Ich
schiffte mich in Genua ein und überquerte mit der Donizetti den Atlantik. Mein Ziel war Venezuela. Von dort aus wollte ich Lateinamerika erobern.
Es gab viele Rückkehrer an Bord.
Ihre offene, lateinische Art nahm mich sofort für sie ein. Die meisten kehrten
von einem längeren Europaaufenthalt zurück. Die einen hatten dort studiert,
andere geheiratet. Ausgelassen freuten sie sich auf ein Wiedersehen mit ihrer
Heimat. In dieser Gesellschaft öffnete sich mein Herz. Innert kürzester Zeit
lernte ich viele nette Leute kennen, mit denen ich mich auf Anhieb glänzend
unterhielt, auf Französisch, Englisch und holperigem Spanisch.
An Bord lief stets etwas. Ich kam nicht
dazu, eines meiner Bücher zu Ende zu lesen. Einmal war es der Kapitän, der zur
Besichtigung der Kommandobrücke einlud, ein andermal wurde eine unterhaltsame
Rettungsübung mit Schwimmwesten veranstaltet, dann galt es, aus unserer Mitte
einen Neptun zu erküren, denn die Meerestaufe auf hoher See war angekündigt.
Die Wahl fiel auf einen venezolanischen Künstler namens Perez, der dieser Würde
mit bacchantischem Gehabe nachkam. Höhepunkt war der Augenblick, als er,
verkleidet und gekrönt als fettleibiger Meeresgott, Champagner aus zierlichen
Frauenschuhen trank und diese anschliessend über die Reling warf und den Fluten
des Ozeans anvertraute. Alles im Schein des Vollmonds. Wir Passagiere jauchzen
vor Vergnügen.
Nach diesem eindrucksvollen Fest fiel
es mir nicht besonders schwer, mich für den am nächsten Abend angekündigten
Maskenball anzumelden. Während des ganzen Tages überlegte ich mir, womit ich
mich verkleiden und maskieren könnte. Dabei kam mir auch meine einmalige Mitwirkung
in einer chaotischen Zürcher Guggenmusik zu Hilfe. Dort hatte ich mich ganz
blau geschminkt, war mit einigem Aufwand in Lumpen gekleidet und trug eine
Perücke aus Stroh. Auf dem Schiff fehlten mir jedoch die Requisiten für eine
verrückte Verwandlung. Im Fundus der Künstlergarderobe im Unterdeck fand ich
nichts, was mir zum Anziehen Spass gemacht hätte. Dort stapelten sich lediglich
Pierrot-Mützen, Knollennasen, Chaplin-Spazierstöcke und Cowboyhüte.
Da aber Not bekanntlich erfinderisch
macht, stellte ich mir schliesslich doch eine recht aussergewöhnliche Gewandung
zusammen. Die bunten Taschentücher, die mir Grossmutter für die Reise geschenkt
hatte, spielten dabei eine zentrale Rolle. Ich band sie mir nämlich um Arme und
Beine, benützte eines auch als Stirnband, und ein weiteres wickelte ich mir ums
linke Ohr. Mein Gesicht entstellte ich mit unzähligen Pflästerchen aus meiner
kleinen Reiseapotheke. Bunte Pillen gegen Seekrankheit, Durchfall, Verstopfung,
Schlaflosigkeit und Kopfweh brachten Farbe ins Gesicht: Schweren Tränen gleich
baumelten sie an den Heftpflastern. Zum Schluss rieb ich mein Haar noch mit
Zuckerwasser ein, damit es in alle Himmelsrichtungen zeigte.
Man traf sich um halb neun im engen
Flur vor dem grossen Festsalon, wo schon viele Passagiere Platz genommen hatten.
Das kleine Orchester heizte die Stimmung an. Als ein Steward den Maskierten und
Kostümierten Nummern verteilte, realisierte ich erst, dass unsere
Verwandlungskünste prämiert werden sollten. Auf einen solchen Wettbewerb war
ich gar nicht gefasst. Ich hatte mich schliesslich nicht mit Blick auf einen
edlen Wettstreit um die beste Maske verkleidet, sondern wegen der Aussicht, im
Reigen der Vergnügten mitzutanzen. Und jetzt das! Plötzlich erinnerte ich mich
an Prüfungssituationen in der Schule, die für mich stets mit Bauchweh,
unangenehmen Gefühlen und Versagensängsten verbunden waren. Im Spiegel der
Toilette kontrollierte ich noch einmal meine Aufmachung und kam dann zum
Schluss, dass ich wenig zu befürchten hätte. Im Vergleich mit den anderen
langweilig Maskierten konnte ich in meiner Montur punkto Einfallsreichtums und
Originalität durchaus bestehen. Das beruhigte mich einigermassen. Dann hörte
ich, wie der Conférencier viersprachig unseren Auftritt ankündigte. Jede Maske
musste sich in einem kurzen Solo der applaudierenden Menge präsentieren. Das
Orchester untermalte mit passenden Klängen und einem wohlgesetzten Tusch die
Kostümparade.
Ich war Nummer 24 und erinnere mich,
wie ich mit all den flatternden Taschentüchern in den Saal rauschte in der
Hoffnung auf günstige Aufnahme. Doch statt Applaus erntete ich betretenes
Schweigen. Der Conférencier schaute mich entsetzt an und fragte nach einer
peinlichen Pause, wen und was ich denn verkörpere. Ich zuckte verlegen mit den
Achseln. Er versuchte, mir mit all seinen Sprachkenntnissen, schliesslich sogar
mit ein paar Brocken auf Deutsch, eine Antwort zu entlocken. Doch ich konnte
keine geben, denn ich hatte mir das während der Kostümierung gar nie überlegt.
Schliesslich erwiderte ich, um der Schockstarre zu entrinnen, es sei Fantasia. Erleichtert nahm der Conférencier
das Stichwort auf und schwafelte etwas von Phantasie. Ich hörte schon gar nicht
mehr hin. Wie ein Häufchen Elend setzte ich mich zu den anderen Masken und nahm
erst jetzt wahr, dass sich um mich herum lauter bekannte komische Figuren
versammelt hatten. Neben mir sassen tollpatschige Charlots, bunte Harlekins,
vollbusige Lebedamen (von Männern verkörpert), schrullige Hutzelweibchen, o-beinige
Cowboys, einäugige Piraten, tapsende Seebären und andere Zirkusfiguren, wie zum
Beispiel ein Indianerhäuptling. Ich war der einzige, der keine bekannte Gestalt
verkörperte, offensichtlich in Unkenntnis dessen, was ein Maskenball eigentlich
ist, nämlich eine Zitatensammlung.
Bald verliess ich unter irgendeinem
Vorwand den Ort des Geschehens und verkroch mich in mein Kajütenbett unserer
Viererkabine. Wütend riss ich meine vielen Pflästerchen vom Gesicht. Mein
Schmerz war gross, ich fühlte mich von mir in Stich gelassen. Am nächsten Tag
liess ich mich draussen nicht blicken. Durch das Fenster beobachtete ich, wie
die Farbe des Meerwassers langsam von stahlblau zu grünblau wechselte, je mehr
wir uns der Karibik näherten. Uns begleiteten jetzt fliegende Fische.
Später, es muss schon kurz vor Caracas
gewesen sein, berichtete mir Jaime, dass beim Maskenball die Nummer 15 den
ersten Preis erhalten habe. Der Sieger hatte einen Greis gemimt, mit etwas
weissem Puder in seinem schwarzen Haar und einem biegsamen Stock. Über meine
eigene Wertung schwieg sich Jaime rücksichtsvoll aus.
Dieser Text erschien zum ersten Mal in Nr. 20/1981 der Zeitschrift femina. Damals begann der erste Satz mit "Vor elf Jahren... "
© Nikolaus Wyss
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