Mittwoch, 11. Juli 2018

Maskenball auf hoher See

Aufgenommen irgendwann vor langer Zeit - aber nicht auf der "Donizetti"

Vor 50 Jahren nahm ich Abschied von Europa. Ich schiffte mich in Genua ein und überquerte mit der Donizetti den Atlantik. Mein Ziel war Venezuela. Von dort aus wollte ich Lateinamerika erobern.
Es gab viele Rückkehrer an Bord. Ihre offene, lateinische Art nahm mich sofort für sie ein. Die meisten kehrten von einem längeren Europaaufenthalt zurück. Die einen hatten dort studiert, andere geheiratet. Ausgelassen freuten sie sich auf ein Wiedersehen mit ihrer Heimat. In dieser Gesellschaft öffnete sich mein Herz. Innert kürzester Zeit lernte ich viele nette Leute kennen, mit denen ich mich auf Anhieb glänzend unterhielt, auf Französisch, Englisch und holperigem Spanisch.
An Bord lief stets etwas. Ich kam nicht dazu, eines meiner Bücher zu Ende zu lesen. Einmal war es der Kapitän, der zur Besichtigung der Kommandobrücke einlud, ein andermal wurde eine unterhaltsame Rettungsübung mit Schwimmwesten veranstaltet, dann galt es, aus unserer Mitte einen Neptun zu erküren, denn die Meerestaufe auf hoher See war angekündigt. Die Wahl fiel auf einen venezolanischen Künstler namens Perez, der dieser Würde mit bacchantischem Gehabe nachkam. Höhepunkt war der Augenblick, als er, verkleidet und gekrönt als fettleibiger Meeresgott, Champagner aus zierlichen Frauenschuhen trank und diese anschliessend über die Reling warf und den Fluten des Ozeans anvertraute. Alles im Schein des Vollmonds. Wir Passagiere jauchzen vor Vergnügen.
Nach diesem eindrucksvollen Fest fiel es mir nicht besonders schwer, mich für den am nächsten Abend angekündigten Maskenball anzumelden. Während des ganzen Tages überlegte ich mir, womit ich mich verkleiden und maskieren könnte. Dabei kam mir auch meine einmalige Mitwirkung in einer chaotischen Zürcher Guggenmusik zu Hilfe. Dort hatte ich mich ganz blau geschminkt, war mit einigem Aufwand in Lumpen gekleidet und trug eine Perücke aus Stroh. Auf dem Schiff fehlten mir jedoch die Requisiten für eine verrückte Verwandlung. Im Fundus der Künstlergarderobe im Unterdeck fand ich nichts, was mir zum Anziehen Spass gemacht hätte. Dort stapelten sich lediglich Pierrot-Mützen, Knollennasen, Chaplin-Spazierstöcke und Cowboyhüte.
Da aber Not bekanntlich erfinderisch macht, stellte ich mir schliesslich doch eine recht aussergewöhnliche Gewandung zusammen. Die bunten Taschentücher, die mir Grossmutter für die Reise geschenkt hatte, spielten dabei eine zentrale Rolle. Ich band sie mir nämlich um Arme und Beine, benützte eines auch als Stirnband, und ein weiteres wickelte ich mir ums linke Ohr. Mein Gesicht entstellte ich mit unzähligen Pflästerchen aus meiner kleinen Reiseapotheke. Bunte Pillen gegen Seekrankheit, Durchfall, Verstopfung, Schlaflosigkeit und Kopfweh brachten Farbe ins Gesicht: Schweren Tränen gleich baumelten sie an den Heftpflastern. Zum Schluss rieb ich mein Haar noch mit Zuckerwasser ein, damit es in alle Himmelsrichtungen zeigte.
Man traf sich um halb neun im engen Flur vor dem grossen Festsalon, wo schon viele Passagiere Platz genommen hatten. Das kleine Orchester heizte die Stimmung an. Als ein Steward den Maskierten und Kostümierten Nummern verteilte, realisierte ich erst, dass unsere Verwandlungskünste prämiert werden sollten. Auf einen solchen Wettbewerb war ich gar nicht gefasst. Ich hatte mich schliesslich nicht mit Blick auf einen edlen Wettstreit um die beste Maske verkleidet, sondern wegen der Aussicht, im Reigen der Vergnügten mitzutanzen. Und jetzt das! Plötzlich erinnerte ich mich an Prüfungssituationen in der Schule, die für mich stets mit Bauchweh, unangenehmen Gefühlen und Versagensängsten verbunden waren. Im Spiegel der Toilette kontrollierte ich noch einmal meine Aufmachung und kam dann zum Schluss, dass ich wenig zu befürchten hätte. Im Vergleich mit den anderen langweilig Maskierten konnte ich in meiner Montur punkto Einfallsreichtums und Originalität durchaus bestehen. Das beruhigte mich einigermassen. Dann hörte ich, wie der Conférencier viersprachig unseren Auftritt ankündigte. Jede Maske musste sich in einem kurzen Solo der applaudierenden Menge präsentieren. Das Orchester untermalte mit passenden Klängen und einem wohlgesetzten Tusch die Kostümparade.
Ich war Nummer 24 und erinnere mich, wie ich mit all den flatternden Taschentüchern in den Saal rauschte in der Hoffnung auf günstige Aufnahme. Doch statt Applaus erntete ich betretenes Schweigen. Der Conférencier schaute mich entsetzt an und fragte nach einer peinlichen Pause, wen und was ich denn verkörpere. Ich zuckte verlegen mit den Achseln. Er versuchte, mir mit all seinen Sprachkenntnissen, schliesslich sogar mit ein paar Brocken auf Deutsch, eine Antwort zu entlocken. Doch ich konnte keine geben, denn ich hatte mir das während der Kostümierung gar nie überlegt. Schliesslich erwiderte ich, um der Schockstarre zu entrinnen, es sei Fantasia. Erleichtert nahm der Conférencier das Stichwort auf und schwafelte etwas von Phantasie. Ich hörte schon gar nicht mehr hin. Wie ein Häufchen Elend setzte ich mich zu den anderen Masken und nahm erst jetzt wahr, dass sich um mich herum lauter bekannte komische Figuren versammelt hatten. Neben mir sassen tollpatschige Charlots, bunte Harlekins, vollbusige Lebedamen (von Männern verkörpert), schrullige Hutzelweibchen, o-beinige Cowboys, einäugige Piraten, tapsende Seebären und andere Zirkusfiguren, wie zum Beispiel ein Indianerhäuptling. Ich war der einzige, der keine bekannte Gestalt verkörperte, offensichtlich in Unkenntnis dessen, was ein Maskenball eigentlich ist, nämlich eine Zitatensammlung.
Bald verliess ich unter irgendeinem Vorwand den Ort des Geschehens und verkroch mich in mein Kajütenbett unserer Viererkabine. Wütend riss ich meine vielen Pflästerchen vom Gesicht. Mein Schmerz war gross, ich fühlte mich von mir in Stich gelassen. Am nächsten Tag liess ich mich draussen nicht blicken. Durch das Fenster beobachtete ich, wie die Farbe des Meerwassers langsam von stahlblau zu grünblau wechselte, je mehr wir uns der Karibik näherten. Uns begleiteten jetzt fliegende Fische.
Später, es muss schon kurz vor Caracas gewesen sein, berichtete mir Jaime, dass beim Maskenball die Nummer 15 den ersten Preis erhalten habe. Der Sieger hatte einen Greis gemimt, mit etwas weissem Puder in seinem schwarzen Haar und einem biegsamen Stock. Über meine eigene Wertung schwieg sich Jaime rücksichtsvoll aus.



Dieser Text erschien zum ersten Mal in Nr. 20/1981 der Zeitschrift femina. Damals begann der erste Satz mit "Vor elf Jahren... "
   

© Nikolaus Wyss

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