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Donnerstag, 30. April 2020

EIN LITERARISCHES DUETT - Aus der Serie "Bevor mir die Zähne ausfallen"

Dieses Video aus der Serie "Bevor mir die Zähne ausfallen" vermittelt einen Einblick in eines meiner grössten Privilegien, die ich hier in Kolumbien geniessen darf. Ich komme jeden Mittwoch mit Miguel Angel Fajardo zusammen, einem jungen Cinéasten und Literaten, und lese mit ihm lateinamerikanische Gedichte. Zum Beispiel von Alejandra Pizarnik, von Piedad Bonnett, von Oscar Hahn, Fina García Marruz, Jorge Teiller, Caio Fernando Abreu, Vicente Huidobro, Fernando Molano Vargas und vielen anderen mehr. So entdecke ich jede Woche neue Landschaften auf dem literarischen Kontinent dieses geografischen Kontinents. Diese beiden Kontinente stimmen nicht in allen Teilen überein. Ich würde sogar meinen, dass der Poesie-Kontinent über die vielfältigeren und überraschenderen Landschaften und Schicksale verfügt, wo sich inmitten der schneebedeckten Anden Ozeane auftun und im dichtesten Dschungel Wüstenstriche. Liebe und Sehnsucht sind überall allgegenwärtig. Doch viele Dichter sind im realen Leben nicht zurecht gekommen und haben Selbstmord verübt. Andere hingegen legten eine akademische Karriere hin oder dichteten des Nachts, während sie tagsüber einem literaturfremden Beruf nachgingen. Mein literarischer Freund Miguel wollte mir wohl eine Freude bereiten, als er diesmal ein Gedicht von Raúl Gómez Jattin mitbrachte, denn er wusste, dass dieser kolumbianische Schriftsteller zu meinen Lieblingspoeten gehört, und er wusste auch, dass wir diesmal unser Treffen mit Video aufnehmen wollten. Das Gedicht jedoch, das er mir mitbrachte, kannte ich nicht, und ich verstand es nicht. Ich verstehe es bis zum heutigen Tag nicht ganz, und entsprechend eierte ich während unseres Gesprächs herum, stellte mich dümmer an als ich es sonst bin. Sei’s drum. Gómez Jattin ist auch einer, der an seinem realen Leben scheiterte und Flucht in die Verrücktheit nahm. Doch er schildert in vielen seiner Gedichte luzide seine eigene Situation, und das hat mich schon ein paarmal zu Tränen erschüttert. Er wurde am 22. Mai 1997 auf den Strassen Cartagenas von einem Bus erfasst und zu Tode gefahren. Man weiss nicht genau, ob es im Einverständnis des Opfers geschah. Darüber schreiben konnte er nicht mehr... Hier also ein Dokument aus Vor-Corona-Zeiten. Ich hoffe, dass Miguel bald wieder vorbeikommen darf und mir weitere Türen zu diesem vielfältigen poetischen Kontinent Lateinamerika öffnet.

 

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Mittwoch, 11. Juli 2018

Maskenball auf hoher See

Aufgenommen irgendwann vor langer Zeit - aber nicht auf der "Donizetti"

Vor 50 Jahren nahm ich Abschied von Europa. Ich schiffte mich in Genua ein und überquerte mit der Donizetti den Atlantik. Mein Ziel war Venezuela. Von dort aus wollte ich Lateinamerika erobern.
Es gab viele Rückkehrer an Bord. Ihre offene, lateinische Art nahm mich sofort für sie ein. Die meisten kehrten von einem längeren Europaaufenthalt zurück. Die einen hatten dort studiert, andere geheiratet. Ausgelassen freuten sie sich auf ein Wiedersehen mit ihrer Heimat. In dieser Gesellschaft öffnete sich mein Herz. Innert kürzester Zeit lernte ich viele nette Leute kennen, mit denen ich mich auf Anhieb glänzend unterhielt, auf Französisch, Englisch und holperigem Spanisch.
An Bord lief stets etwas. Ich kam nicht dazu, eines meiner Bücher zu Ende zu lesen. Einmal war es der Kapitän, der zur Besichtigung der Kommandobrücke einlud, ein andermal wurde eine unterhaltsame Rettungsübung mit Schwimmwesten veranstaltet, dann galt es, aus unserer Mitte einen Neptun zu erküren, denn die Meerestaufe auf hoher See war angekündigt. Die Wahl fiel auf einen venezolanischen Künstler namens Perez, der dieser Würde mit bacchantischem Gehabe nachkam. Höhepunkt war der Augenblick, als er, verkleidet und gekrönt als fettleibiger Meeresgott, Champagner aus zierlichen Frauenschuhen trank und diese anschliessend über die Reling warf und den Fluten des Ozeans anvertraute. Alles im Schein des Vollmonds. Wir Passagiere jauchzen vor Vergnügen.
Nach diesem eindrucksvollen Fest fiel es mir nicht besonders schwer, mich für den am nächsten Abend angekündigten Maskenball anzumelden. Während des ganzen Tages überlegte ich mir, womit ich mich verkleiden und maskieren könnte. Dabei kam mir auch meine einmalige Mitwirkung in einer chaotischen Zürcher Guggenmusik zu Hilfe. Dort hatte ich mich ganz blau geschminkt, war mit einigem Aufwand in Lumpen gekleidet und trug eine Perücke aus Stroh. Auf dem Schiff fehlten mir jedoch die Requisiten für eine verrückte Verwandlung. Im Fundus der Künstlergarderobe im Unterdeck fand ich nichts, was mir zum Anziehen Spass gemacht hätte. Dort stapelten sich lediglich Pierrot-Mützen, Knollennasen, Chaplin-Spazierstöcke und Cowboyhüte.
Da aber Not bekanntlich erfinderisch macht, stellte ich mir schliesslich doch eine recht aussergewöhnliche Gewandung zusammen. Die bunten Taschentücher, die mir Grossmutter für die Reise geschenkt hatte, spielten dabei eine zentrale Rolle. Ich band sie mir nämlich um Arme und Beine, benützte eines auch als Stirnband, und ein weiteres wickelte ich mir ums linke Ohr. Mein Gesicht entstellte ich mit unzähligen Pflästerchen aus meiner kleinen Reiseapotheke. Bunte Pillen gegen Seekrankheit, Durchfall, Verstopfung, Schlaflosigkeit und Kopfweh brachten Farbe ins Gesicht: Schweren Tränen gleich baumelten sie an den Heftpflastern. Zum Schluss rieb ich mein Haar noch mit Zuckerwasser ein, damit es in alle Himmelsrichtungen zeigte.
Man traf sich um halb neun im engen Flur vor dem grossen Festsalon, wo schon viele Passagiere Platz genommen hatten. Das kleine Orchester heizte die Stimmung an. Als ein Steward den Maskierten und Kostümierten Nummern verteilte, realisierte ich erst, dass unsere Verwandlungskünste prämiert werden sollten. Auf einen solchen Wettbewerb war ich gar nicht gefasst. Ich hatte mich schliesslich nicht mit Blick auf einen edlen Wettstreit um die beste Maske verkleidet, sondern wegen der Aussicht, im Reigen der Vergnügten mitzutanzen. Und jetzt das! Plötzlich erinnerte ich mich an Prüfungssituationen in der Schule, die für mich stets mit Bauchweh, unangenehmen Gefühlen und Versagensängsten verbunden waren. Im Spiegel der Toilette kontrollierte ich noch einmal meine Aufmachung und kam dann zum Schluss, dass ich wenig zu befürchten hätte. Im Vergleich mit den anderen langweilig Maskierten konnte ich in meiner Montur punkto Einfallsreichtums und Originalität durchaus bestehen. Das beruhigte mich einigermassen. Dann hörte ich, wie der Conférencier viersprachig unseren Auftritt ankündigte. Jede Maske musste sich in einem kurzen Solo der applaudierenden Menge präsentieren. Das Orchester untermalte mit passenden Klängen und einem wohlgesetzten Tusch die Kostümparade.
Ich war Nummer 24 und erinnere mich, wie ich mit all den flatternden Taschentüchern in den Saal rauschte in der Hoffnung auf günstige Aufnahme. Doch statt Applaus erntete ich betretenes Schweigen. Der Conférencier schaute mich entsetzt an und fragte nach einer peinlichen Pause, wen und was ich denn verkörpere. Ich zuckte verlegen mit den Achseln. Er versuchte, mir mit all seinen Sprachkenntnissen, schliesslich sogar mit ein paar Brocken auf Deutsch, eine Antwort zu entlocken. Doch ich konnte keine geben, denn ich hatte mir das während der Kostümierung gar nie überlegt. Schliesslich erwiderte ich, um der Schockstarre zu entrinnen, es sei Fantasia. Erleichtert nahm der Conférencier das Stichwort auf und schwafelte etwas von Phantasie. Ich hörte schon gar nicht mehr hin. Wie ein Häufchen Elend setzte ich mich zu den anderen Masken und nahm erst jetzt wahr, dass sich um mich herum lauter bekannte komische Figuren versammelt hatten. Neben mir sassen tollpatschige Charlots, bunte Harlekins, vollbusige Lebedamen (von Männern verkörpert), schrullige Hutzelweibchen, o-beinige Cowboys, einäugige Piraten, tapsende Seebären und andere Zirkusfiguren, wie zum Beispiel ein Indianerhäuptling. Ich war der einzige, der keine bekannte Gestalt verkörperte, offensichtlich in Unkenntnis dessen, was ein Maskenball eigentlich ist, nämlich eine Zitatensammlung.
Bald verliess ich unter irgendeinem Vorwand den Ort des Geschehens und verkroch mich in mein Kajütenbett unserer Viererkabine. Wütend riss ich meine vielen Pflästerchen vom Gesicht. Mein Schmerz war gross, ich fühlte mich von mir in Stich gelassen. Am nächsten Tag liess ich mich draussen nicht blicken. Durch das Fenster beobachtete ich, wie die Farbe des Meerwassers langsam von stahlblau zu grünblau wechselte, je mehr wir uns der Karibik näherten. Uns begleiteten jetzt fliegende Fische.
Später, es muss schon kurz vor Caracas gewesen sein, berichtete mir Jaime, dass beim Maskenball die Nummer 15 den ersten Preis erhalten habe. Der Sieger hatte einen Greis gemimt, mit etwas weissem Puder in seinem schwarzen Haar und einem biegsamen Stock. Über meine eigene Wertung schwieg sich Jaime rücksichtsvoll aus.



Dieser Text erschien zum ersten Mal in Nr. 20/1981 der Zeitschrift femina. Damals begann der erste Satz mit "Vor elf Jahren... "
   

© Nikolaus Wyss

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Donnerstag, 1. Februar 2018

Bergnot auf dem Ruiz


Der Nevado del Ruiz, mit seinen 5311 Metern über Meer der zweithöchste aktive Vulkan auf der nördlichen Erdhalbkugel, ist meistens in Wolken gehüllt. Als ganzes Gebirgsmassiv erfasste ich ihn erst kürzlich auf einem Flug nach Medellín. Von oben ist er kein eleganter Kegel, wie man sich Vulkane gemeinhin vorstellt, nein, er liegt eher da wie ein Gürteltier mit weissem Panzer. In Lauerstellung. Oder wie ein aufgequollenes Geschwür, das von Zeit zu Zeit Eiter in Form von Asche und Lava absondert. Unvergessen das Unglück von Armero im Jahre 1985, als bei einem Ausbruch die Eiskappe an der Nordkante des Ruiz wegschmolz, sich als Schlammlawine zu Tale ergoss und über 20 000 Menschen unter sich begrub.
Beim Überflug dieses Gebirges erinnere ich mich jetzt, wie wir vor bald 50 Jahren diesen Berg von Manizales aus bestiegen haben. An meinem Geburtstag. Wir waren zu fünft, fuhren eng aneinandergequetscht in einem Jeep auf einer kurvenreichen Schotterstrasse bergauf durch bizarre Mondlandschaften und stellten fest, dass nicht nur wir, sondern auch der Motor der dünnen Luft wegen Mühe bekundete. Irgendwo hörte dann die Strasse auf. Wir liessen das Fahrzeug stehen und stiegen, schwer atmend, mit Sack und Pack noch ein paar 100 Meter weiter aufwärts, bis wir eine Berghütte erreichten. Sie stand gerade unterhalb der Firngrenze. Drinnen hatte der Hüttenwart ein heimeliges Kaminfeuer angefacht, doch er kriegte den Raum damit nicht warm. Nicht einmal die Suppe war richtig heiss. Für die Nacht richteten wir uns sternförmig ums Feuer ein. Die Füsse warm, der Oberkörper kalt, trotz dicker Decken. So ist es, wenn die Luft die Wärme nicht mehr zu tragen vermag. Meine Nacht verlief weitgehend schlaflos und wurde von starkem Kopfweh begleitet. Darauf war ich gefasst, das gehörte, liess ich mir sagen, zur üblichen Höhenerfahrung ungeübter Berggänger.
Noch im Dunkel des nächsten Morgens machten wir uns auf den Weg und stiegen über körnigen Firn bergan. Die Route galt nicht als schwierig, und die Gletscherspalten waren gut erkennbar. Je höher wir kamen und je flacher es wurde, umso strenger roch es nach Schwefel. Ausgerechnet jetzt setzte sich Nebel fest, und wir verloren die Orientierung. Es war weiss, wohin wir blickten. Gingen wir auf die eine Seite, endeten wir an einer Gletscherspalte. Gingen wir auf die andere, so meinten wir bereits am Kraterrand des Vulkans zu stehen. Es stank penetrant nach faulen Eiern. Wir wussten weder ein noch aus. Woher waren wir des Wegs gekommen? Wo ging es wieder hinunter? Hinter dem gleissenden Weiss des Nebels und des Firns lauerten überall Hindernisse und Ungewissheiten. Ratlos blieben wir stehen, breiteten die Windjacken aus, setzten uns in den Schnee und begannen, unsere Sandwiches zu essen und an Dörrfrüchten zu knabbern. Wir lächelten uns verlegen an und mochten uns nicht einzugestehen, dass wir in Bergnot geraten waren. Stunden vergingen, der Mittag war längst vorbei, der Nebel tat keinen Wank. Die Augen begannen zu brennen und zu tränen. Nennt man das nicht Schneeblindheit? Selbst wenn sich der Nebel gelichtet hätte, wären wir kaum noch imstande gewesen, etwas zu sehen. Doch dann, es mochte vier Uhr nachmittags geworden sein, bekam die Nebelfront endlich Risse. Jetzt konnten wir uns immerhin am Sonnenstand orientieren, wussten, wo Süden ist, und wir machten uns in diese Richtung auf den Weg. Es nachtete ein, als wir wieder zur Hütte gelangten, von der wir, mehr als zwölf Stunden zuvor, aufgebrochen waren.
Die Heimfahrt war insofern gefährlich, als niemand mehr von uns so richtig scharf sehen konnte. Nach unserer Rückkehr mussten wir alle mehrere Tage in dunklen Zimmern verbringen, bis das sandige Gefühl aus den Augen gewichen war. Vom Arzt bekamen wir Tropfen, Salben und Spritzen.
Noch etwas: Wenige Wochen später erhielt ich von meiner Mutter einen Brief, worin sie mich beunruhigt fragte, ob es mir gut gehe. An meinem Geburtstag sei nämlich mein Lieblingsbuch von damals, Der Fänger im Roggen, vom Büchergestell gefallen.

© Nikolaus Wyss

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