Donnerstag, 1. Februar 2018

Bergnot auf dem Ruiz


Der Nevado del Ruiz, mit seinen 5311 Metern über Meer der zweithöchste aktive Vulkan auf der nördlichen Erdhalbkugel, ist meistens in Wolken gehüllt. Als ganzes Gebirgsmassiv erfasste ich ihn erst kürzlich auf einem Flug nach Medellín. Von oben ist er kein eleganter Kegel, wie man sich Vulkane gemeinhin vorstellt, nein, er liegt eher da wie ein Gürteltier mit weissem Panzer. In Lauerstellung. Oder wie ein aufgequollenes Geschwür, das von Zeit zu Zeit Eiter in Form von Asche und Lava absondert. Unvergessen das Unglück von Armero im Jahre 1985, als bei einem Ausbruch die Eiskappe an der Nordkante des Ruiz wegschmolz, sich als Schlammlawine zu Tale ergoss und über 20 000 Menschen unter sich begrub.
Beim Überflug dieses Gebirges erinnere ich mich jetzt, wie wir vor bald 50 Jahren diesen Berg von Manizales aus bestiegen haben. An meinem Geburtstag. Wir waren zu fünft, fuhren eng aneinandergequetscht in einem Jeep auf einer kurvenreichen Schotterstrasse bergauf durch bizarre Mondlandschaften und stellten fest, dass nicht nur wir, sondern auch der Motor der dünnen Luft wegen Mühe bekundete. Irgendwo hörte dann die Strasse auf. Wir liessen das Fahrzeug stehen und stiegen, schwer atmend, mit Sack und Pack noch ein paar 100 Meter weiter aufwärts, bis wir eine Berghütte erreichten. Sie stand gerade unterhalb der Firngrenze. Drinnen hatte der Hüttenwart ein heimeliges Kaminfeuer angefacht, doch er kriegte den Raum damit nicht warm. Nicht einmal die Suppe war richtig heiss. Für die Nacht richteten wir uns sternförmig ums Feuer ein. Die Füsse warm, der Oberkörper kalt, trotz dicker Decken. So ist es, wenn die Luft die Wärme nicht mehr zu tragen vermag. Meine Nacht verlief weitgehend schlaflos und wurde von starkem Kopfweh begleitet. Darauf war ich gefasst, das gehörte, liess ich mir sagen, zur üblichen Höhenerfahrung ungeübter Berggänger.
Noch im Dunkel des nächsten Morgens machten wir uns auf den Weg und stiegen über körnigen Firn bergan. Die Route galt nicht als schwierig, und die Gletscherspalten waren gut erkennbar. Je höher wir kamen und je flacher es wurde, umso strenger roch es nach Schwefel. Ausgerechnet jetzt setzte sich Nebel fest, und wir verloren die Orientierung. Es war weiss, wohin wir blickten. Gingen wir auf die eine Seite, endeten wir an einer Gletscherspalte. Gingen wir auf die andere, so meinten wir bereits am Kraterrand des Vulkans zu stehen. Es stank penetrant nach faulen Eiern. Wir wussten weder ein noch aus. Woher waren wir des Wegs gekommen? Wo ging es wieder hinunter? Hinter dem gleissenden Weiss des Nebels und des Firns lauerten überall Hindernisse und Ungewissheiten. Ratlos blieben wir stehen, breiteten die Windjacken aus, setzten uns in den Schnee und begannen, unsere Sandwiches zu essen und an Dörrfrüchten zu knabbern. Wir lächelten uns verlegen an und mochten uns nicht einzugestehen, dass wir in Bergnot geraten waren. Stunden vergingen, der Mittag war längst vorbei, der Nebel tat keinen Wank. Die Augen begannen zu brennen und zu tränen. Nennt man das nicht Schneeblindheit? Selbst wenn sich der Nebel gelichtet hätte, wären wir kaum noch imstande gewesen, etwas zu sehen. Doch dann, es mochte vier Uhr nachmittags geworden sein, bekam die Nebelfront endlich Risse. Jetzt konnten wir uns immerhin am Sonnenstand orientieren, wussten, wo Süden ist, und wir machten uns in diese Richtung auf den Weg. Es nachtete ein, als wir wieder zur Hütte gelangten, von der wir, mehr als zwölf Stunden zuvor, aufgebrochen waren.
Die Heimfahrt war insofern gefährlich, als niemand mehr von uns so richtig scharf sehen konnte. Nach unserer Rückkehr mussten wir alle mehrere Tage in dunklen Zimmern verbringen, bis das sandige Gefühl aus den Augen gewichen war. Vom Arzt bekamen wir Tropfen, Salben und Spritzen.
Noch etwas: Wenige Wochen später erhielt ich von meiner Mutter einen Brief, worin sie mich beunruhigt fragte, ob es mir gut gehe. An meinem Geburtstag sei nämlich mein Lieblingsbuch von damals, Der Fänger im Roggen, vom Büchergestell gefallen.

© Nikolaus Wyss

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