Der Nevado
del Ruiz, mit seinen 5311 Metern über Meer der zweithöchste aktive
Vulkan auf der nördlichen Erdhalbkugel, ist meistens in Wolken gehüllt. Als
ganzes Gebirgsmassiv erfasste ich ihn erst kürzlich auf einem Flug nach Medellín.
Von oben ist er kein eleganter Kegel, wie man sich Vulkane gemeinhin vorstellt,
nein, er liegt eher da wie ein Gürteltier mit weissem Panzer. In Lauerstellung.
Oder wie ein aufgequollenes Geschwür, das von Zeit zu Zeit Eiter in Form von
Asche und Lava absondert. Unvergessen das Unglück von Armero im Jahre 1985, als bei einem Ausbruch die Eiskappe an der
Nordkante des Ruiz wegschmolz, sich als Schlammlawine zu Tale ergoss und über
20 000 Menschen unter sich begrub.
Beim Überflug dieses Gebirges
erinnere ich mich jetzt, wie wir vor bald 50 Jahren diesen Berg von Manizales
aus bestiegen haben. An meinem Geburtstag. Wir waren zu fünft, fuhren eng
aneinandergequetscht in einem Jeep auf einer kurvenreichen Schotterstrasse
bergauf durch bizarre Mondlandschaften und stellten fest, dass nicht nur wir,
sondern auch der Motor der dünnen Luft wegen Mühe bekundete. Irgendwo hörte
dann die Strasse auf. Wir liessen das Fahrzeug stehen und stiegen, schwer
atmend, mit Sack und Pack noch ein paar 100 Meter weiter aufwärts, bis wir eine
Berghütte erreichten. Sie stand gerade unterhalb der Firngrenze. Drinnen hatte
der Hüttenwart ein heimeliges Kaminfeuer angefacht, doch er kriegte den Raum damit
nicht warm. Nicht einmal die Suppe war richtig heiss. Für die Nacht richteten
wir uns sternförmig ums Feuer ein. Die Füsse warm, der Oberkörper kalt, trotz dicker
Decken. So ist es, wenn die Luft die Wärme nicht mehr zu tragen vermag. Meine
Nacht verlief weitgehend schlaflos und wurde von starkem Kopfweh begleitet.
Darauf war ich gefasst, das gehörte, liess ich mir sagen, zur üblichen
Höhenerfahrung ungeübter Berggänger.
Noch im Dunkel des nächsten Morgens
machten wir uns auf den Weg und stiegen über körnigen Firn bergan. Die Route
galt nicht als schwierig, und die Gletscherspalten waren gut erkennbar. Je
höher wir kamen und je flacher es wurde, umso strenger roch es nach Schwefel.
Ausgerechnet jetzt setzte sich Nebel fest, und wir verloren die Orientierung.
Es war weiss, wohin wir blickten. Gingen wir auf die eine Seite, endeten wir an
einer Gletscherspalte. Gingen wir auf die andere, so meinten wir bereits am
Kraterrand des Vulkans zu stehen. Es stank penetrant nach faulen Eiern. Wir
wussten weder ein noch aus. Woher waren wir des Wegs gekommen? Wo ging es
wieder hinunter? Hinter dem gleissenden Weiss des Nebels und des Firns lauerten
überall Hindernisse und Ungewissheiten. Ratlos blieben wir stehen, breiteten
die Windjacken aus, setzten uns in den Schnee und begannen, unsere Sandwiches
zu essen und an Dörrfrüchten zu knabbern. Wir lächelten uns verlegen an und
mochten uns nicht einzugestehen, dass wir in Bergnot geraten waren. Stunden
vergingen, der Mittag war längst vorbei, der Nebel tat keinen Wank. Die Augen
begannen zu brennen und zu tränen. Nennt man das nicht Schneeblindheit? Selbst
wenn sich der Nebel gelichtet hätte, wären wir kaum noch imstande gewesen,
etwas zu sehen. Doch dann, es mochte vier Uhr nachmittags geworden sein, bekam
die Nebelfront endlich Risse. Jetzt konnten wir uns immerhin am Sonnenstand
orientieren, wussten, wo Süden ist, und wir machten uns in diese Richtung auf
den Weg. Es nachtete ein, als wir wieder zur Hütte gelangten, von der wir, mehr
als zwölf Stunden zuvor, aufgebrochen waren.
Die Heimfahrt war insofern gefährlich,
als niemand mehr von uns so richtig scharf sehen konnte. Nach unserer Rückkehr
mussten wir alle mehrere Tage in dunklen Zimmern verbringen, bis das sandige
Gefühl aus den Augen gewichen war. Vom Arzt bekamen wir Tropfen, Salben und
Spritzen.
Noch etwas: Wenige Wochen später
erhielt ich von meiner Mutter einen Brief, worin sie mich beunruhigt fragte, ob
es mir gut gehe. An meinem Geburtstag sei nämlich mein Lieblingsbuch von
damals, Der Fänger im Roggen, vom Büchergestell gefallen.
© Nikolaus Wyss
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