Freitag, 22. Januar 2021

Der geniale Vetter

Jean-Paul Marchand, 25.3.1933 - 8.1.2021

Fangen wir vielleicht damit an, dass ich in der Mittelschule ein sehr schlechter Schüler war. Ich musste sogar eine Klasse wiederholen. Doch auch beim zweiten Mal befanden sich meine Noten im Keller. Mir war nicht zu helfen. Es war zum Verzweifeln. Lehrer sagten von mir, bei meinem schnellen Wachstum sei wohl der Verstand nicht ganz mitgekommen. Ich schien ihnen zwar auf den ersten Blick einen intelligenten Eindruck zu machen, doch als ihr Schüler erbrachte ich nie die eingeforderten Leistungen. Der lateinische Ablativ blieb mir während der ganzen Gymizeit fremd, in der Chemie machten mir schon die einfachsten Reaktionsgleichungen zu schaffen, und in der Mathematik beschäftigte ich mich mehr mit Strategien, nicht aufgerufen zu werden, als die Natur von Logarithmen und Wurzeln zu begreifen. Einzig beim Spicken brachte ich es zu einer gewissen Meisterschaft. Dabei half mir mein hochgeschätzter Banknachbar Lukas, der später CEO und Verwaltungsratspräsident einer Grossbank wurde. Ich bin ihm noch heute für seine selbstlose und von Mitleid geprägte Hilfsbereitschaft dankbar. Er hielt mich so eine Zeitlang über Wasser.

Für meine verzweifelte Mutter war ich ein hochgeschossenes und spindeldürres Fragezeichen. Sie führte meine Bockigkeit auf unsere zerrütteten Familienverhältnisse zurück. So konnte sie sich an meinem Schulversagen etwas mitschuldig fühlen. Mit der Finanzierung von Nachhilfeunterricht versuchte sie, den Schaden in Grenzen zu halten, wenn auch weitgehend erfolglos.

            Ich selbst hatte mich an den Status eines schlechten Schülers gewöhnt und nahm ihn als Schicksal hin. Der damit verbundene Schmerz zeigte sich in anhaltender Melancholie, in rasender Einsamkeit und in Attacken von Halskehren, wenn immer ich zu Hause wieder katastrophale Noten vorzeigen musste.

Seltsam war, dass ich mich bei meinem täglichen Schulversagen selbst betrachten konnte. Es war, als ob ich ausserhalb von mir selbst stünde und von weitem teilnahmslos meinem eigenen Unvermögen zusähe. Als Beobachter war ich der Überzeugung, dass dieser faule Sack irgendeinmal das Licht am Ende dieses Tunnels erblicken würde, doch nicht aufgrund grösserer Anstrengungen, sondern aufgrund seiner allmählichen und natürlichen Reifung und der damit verbundenen Zeit, die dabei zwar verloren ging, die ihn aber gleichzeitig von seiner Leistungsschwäche erlösen würde.

            Diese Zuversicht labte sich an schönen Momenten, denen ich zum Ausgleich beiwohnen durfte, und wo mein Versagen kein Thema war. Im familiären Umfeld, beim Besuch von Verwandten im Bernbiet zum Beispiel. Dort war ich einfach der Chlöis, Lorlis Sohn. Besonders prägend in Erinnerung bleibt mir dabei ein runder Geburtstag meines Onkels Charles Marchand. Er war in Murten Arzt, bewohnte mit seiner Familie in der Nähe des Bahnhofs ein schlossähnliches Gehöft, wo er bis ins hohe Alter seine Allgemeinpraxis führte. Man sagte von ihm, er würde während der Konsultationen hie und da einschlummern. Das tat aber seines Rufes, ein guter Arzt zu sein, keinen Abbruch. Im Gegenteil. Schliesslich befand sich seine Klientel im selben Alter wie er und dürfte ihrerseits manchmal weggedöst sein. Ein schönes Bild.

Seine Frau, Tante Johänni, stammte aus einer reichen Zürcher Seifenfabrikanten-Dynastie und schien sich für das unbeschwerte Treiben ihrer angeheirateten Familie leicht zu genieren. Ihre drei Kinder, alle um Jahre älter als ich und schon bald mit ihren Studien fertig, sangen an diesem fraglichen Geburtstag laut bei Tisch, unterhielten die Gesellschaft am laufenden Band mit Anekdoten und Witzen und sorgten so für eine heitere, ja, ausgelassene Stimmung. In Erinnerung daran kommen mir jetzt noch Tränen der Rührung beim Ranz des vaches, den sie damals mit herzzerreissender Inbrunst zu singen wussten; auch all die an sich grässlichen und doch schwungvollen Studentenlieder gehörten zum unterhaltsamen Programm. Neben Änni und Nicolas stach unter den drei Geschwistern als Unterhalter besonders Jean-Paul hervor. An diesem Geburtstag hörte ich von ihm folgenden Witz, der mich fortan mein ganzes Leben begleiten sollte: Ein paar Männer waren im Wald mit Holzarbeiten beschäftigt. Da geschah es, dass eine fallende Tanne einen dieser Männer erschlug. Betroffenheit machte sich breit. Wer soll jetzt die traurige Nachricht dessen Gattin überbringen? Die Männer einigten sich auf Kari, und Kari machte sich mit klammem Herzen auf den Weg zum Hause des Verstorbenen. Er klopfte an die Türe. Als die Frau des Opfers sie öffnete, schoss Kari los: «Grüss Gott, Witwe». Darauf sah die Frau den Kari konsterniert an und meinte, sie sei doch gar keine Witwe, worauf ihr Kari trotzig antwortete: «Was wetten wir, dass ihr eine Witwe seid?» 

Jean-Paul klassifizierte seine Witze und hatte für jede Gattung Beispiele parat. Wenn er Witze erzählte, ging es ihm nicht nur um den erwarteten Lacher, es ging ihm, ganz wissenschaftlich, auch um die Natur der Pointe. Im vorliegenden Falle war die vermeintliche Pointe das Wort Witwe. Überraschend, an sich schon komisch-tragisch und des Lachens wert. Doch es stellt sich im Folgenden heraus, dass die Witwe erst der Anlauf war, denn der Witz wird getoppt mit dieser absurden Wette. Sie spielt mit der Fallhöhe zwischen Wissen und Nichtwissen und dem Unvermögen, eine adäquate Brücke als Ausgleich zu schlagen.

Wenn ich nur noch wüsste, wie seine vier oder fünf Kategorien, unter denen er jeden gelungenen Witz einzuordnen pflegte, heissen? Jeder Pointe, so höre ich ihn noch dozieren, liege eine alltägliche und deshalb als selbstverständlich angesehene Erwartungshaltung zugrunde, die durch den Witz ausgehebelt werde. Das heisse aber auch, dass ohne dieses vorausgehende Selbstverständnis kein Witz funktioniere, denn die Pointe fusse ja auf der überraschenden Übertölpelung desselben.  

Jean-Paul galt in der Verwandtschaft als Genie, das sich nach dem Gymnasium in seiner Genialität kaum entscheiden konnte, ob er eher Musik oder doch lieber Astronomie, eher Physik oder doch lieber Literatur, eher Geschichte oder doch lieber Mathematik studieren sollte. Ihm lagen eigentlich alle Studienrichtungen zu Füssen. Er pflegte sie dann alle bis ins hohe Alter auf respektablem Bildungsniveau - auch ohne diesbezügliche Universitätsstudien. Die alten Griechen waren ihm so wenig fremd wie die Kontrapunktik bei Johann Sebastian Bach. Die jüdische Kultur und deren Witze interessierten ihn ebenso wie absurde Lyrik und Sprachschöpfungen. Er aber entschied sich für das Studium der Differentialgeometrie und Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie an der Universität Bern. Später doktorierte er in Genf unter dem Titel Résonance et désintégration über mathematische Grundlagen der Quantenmechanik und die Beziehung zwischen dem Kontinuum und dem Diskreten, wie sie sich im Zeno Paradox und in den Phasenübergängen manifestiert.

Man frage mich bitte jetzt nicht, was das heisse und bedeute. Ich habe die vorangegangenen Sätze lediglich dem Lexikon der Berner Schriftstellerinnen und Schriftsteller entnommen. Diese überraschende, literarische Umgebung weist darauf hin, dass Jean-Paul Marchand durchaus Wert darauflegte, auch als Autor von literarischen Essays wahrgenommen zu werden. In späten Jahren nämlich, schon lange pensioniert, veröffentlichte er Texte, worin er seine naturwissenschaftlichen Erkenntnisse in oft skurriler Weise auf andere Disziplinen und Erfahrungsgebiete übertrug. Die Skurrilität rührt aber nur daher, weil wir von Quantenmechanik und Relativitätstheorie nichts verstehen. Für ihn jedoch war es ein Kontinuum von Erkenntnissen und angewandtem Wissen, das sich auch in der Philosophie und in der Epistemologie manifestierte und ihm die Möglichkeit bot, sich schriftstellerisch mit den unterschiedlichsten Themen zu beschäftigen. Allerdings, wie sich später herausstellen sollte, mit nur mässigem Erfolg.

Manche in der Verwandtschaft hielten Jean-Paul weniger für ein Genie als vielmehr für einen Sonderling. In der Familie erzählte man sich zum Beispiel die Geschichte, dass er als Artillerie-Leutnant im Militärdienst einmal ein Kanönli verloren habe und deshalb ein paar Tage einsitzen musste. Eine allfällige Zerknirschtheit sei bei ihm aber nie festzustellen gewesen. Hinter Gitter der Walliser Festung von Savatan war ihm die Buchlektüre untersagt, mit Ausnahme der Bibel.  Er aber verlangte nach einer Griechisch-Ausgabe des Alten Testaments. So musste die Gefängnisverwaltung einen Motorradfahrer losschicken, um ein entsprechendes Exemplar ausfindig zu machen. Zu guter Letzt stellte ein Pfarrer im Unterwallis dem Häftling Marchand leihweise seine Bibel in der gewünschten Sprache zur Verfügung. Beim Alten Testament gefiel Jean-Paul das Holzschnittartige, das Verhalten der Akteure, die ohne Federlesens zu ihren Entscheidungen kamen und harte Strafen ohne Moralkeule akzeptierten oder aussprachen. Auch Gott war noch ziemlich unzimperlich und gnadenlos. Nicht so wie im Neuen Testament mit all dem Leiden, all dem Klagen, all den Unwägbarkeiten, den Zweifeln, mit der anderen hinzuhaltenden Backe, mit der selbstlosen Liebe…

Für mich am wichtigsten aber war die Tatsache, dass Jean-Paul mich als intelligenten und aufgeweckten Cousin wahrnahm. Es interessierte ihn einen Dreck, ob ich im Gymi ein Versager war. Er traute mir zu, alles zu verstehen, was er mir zu erzählen wusste. Er gab mir das Gefühl, mindestens so gescheit zu sein wie er, ich musste es nicht einmal unter Beweis stellen. Es genügte, dass ich ihm aufmerksam, ja bewundernd zuhörte, und schon antizipierte er, ich würde alles kapieren. So half er unbewusst mit, mein von der Schule her arg ramponiertes Selbstbewusstsein zu stärken.

Er hielt auch grosse Stücke auf meine Mutter, die zu jener Zeit als erfolgreiche Journalistin beim Schweizer Fernsehen und beim Tages-Anzeiger arbeitete. Sie schien sich ob den absonderlichen Erzählungen und überraschenden Assoziationen von Jean-Paul immer köstlich zu amüsieren und veröffentlichte ab und zu auch einen Text von ihm. Ich glaube, das war ganz generell Jean-Pauls Art: Das Gegenüber in seine feinsinnigen Überlegungen so miteinzubeziehen, dass es selbst Teil seines vielschichtigen, gescheiten Kosmos wurde, ohne, ausser Aufmerksamkeit, dazu viel beitragen zu müssen.

            Jean-Paul repräsentierte für mich im grösseren Familienkontext die heilende Gewissheit, dass im verbindenden Blut zwischen uns bestimmt auch für mich noch ein paar Intelligenz-Gene herumschwimmen, welche zur gegebenen Zeit aktiviert werden würden. Mit Jean-Paul als Leuchtturm im Hintergrund stolperte ich psychisch mehr oder weniger unbeschadet durch meine Adoleszenz. Meine schlechten Noten gerannen so zum Salz in der Suppe.

            Anfangs der 1970er Jahre besuchte ich Jean-Paul in Denver, Colorado, wo er als Associate Professor an der dortigen Universität Mathematik und Physik lehrte. Schon in den ersten Minuten nach meiner Ankunft übergab er mir den Autoschlüssel zu seinem Peugeot 504, mit dem ich in den folgenden Tagen Ausflüge in die Rocky Mountains unternehmen durfte, während er auf dem Campus weiterarbeitete und bei sich zu Hause wohl auch einige Damenbesuche empfing. Später fuhren wir zusammen zu einer Houseparty nach Boulder auf den Campus der dortigen University of Colorado, was mich insofern etwas reute, als am selben Abend Miles Davis in Denver ein Konzert gab (ich hörte ihn dafür später in San Francisco im Fillmore West).

Die Party in Boulder bestand darin, dass in einem Privathaus mit Umschwung ein Dutzend Akademiker zusammenkamen, die als Laienmusiker ein passables Orchesterchen bildeten. Im ersten Teil studierten sie gemeinsam ein klassisches Stück ein, während die Frauen und die nicht musizierenden Gäste im Garten den Grill anwarfen, Tische und Stühle aufstellten und das Essen vorbereiteten. Ich machte mich an der Zubereitung eines Salates zu schaffen. Dann wurde zum Hauskonzert geladen. Jean-Paul spielte im Ensemble die Geige, während vom Gartengrill her bereits der verführerische Duft von gut gewürzten Fleischstücken lockte. Spielten sie Haydn? Oder etwas Kammermusikalisches von Mozart? – Ich weiss es nicht mehr. In Erinnerung jedoch bleibt mir das bewundernswerte Talent der Amerikanerinnen und Amerikaner, sich schon beim erstmaligen Vorstellen den Namen des Gegenübers merken zu können, während ich noch heute zehn Sekunden nach der Nennung schon wieder nachfragen muss, wie diese Person jetzt nur heisse.

            Eine von Jean-Pauls vielen Interessen waren die Golzen, welche bei ihm bestimmt einen quantenmechanischen Hintergrund aufweisen, der uns aber verschlossen bleibt. Gleichwohl, dieser von ihm geprägte Begriff, den er dem Gedicht Gruselett von Christian Morgenstern entnommen hat (… und grausig gutzt der Golz), steht bei ihm für den Umstand, dass die Perfektion im Imperfekten liegt. Ein Golz, eine golzische Situation existiert für ihn dann, wenn die Vollendung einer Figur (eines Quadrates zum Beispiel) oder einer Situation schon erkennbar und doch noch nicht ganz verwirklicht ist. Bei einem Quadrat wäre dies wohl eine der vier Ecken, die statt einer kantigen 90-Grad-Spitze eine leicht abgerundete Ecke aufweist. Oder beim Mond zwei Tage, bevor er voll ist. Oder beim Sex: kurz davor. Oder bei der Pasta: al dente… Und so weiter. Der Golz weist also im Gegensatz zu etwas Vollendetem ein Potential auf und erlaubt dadurch Zukunftsaussichten, einen weiteren, möglichen Verlauf. Die Geschichten, die sich um Jean-Pauls Golzen rankten, waren unerschöpflich, und ich hege heute den Verdacht, ihm sei es wirklich ernst gewesen beim Versuch, dieses Wort in unseren alltäglichen Sprachwortschatz fest zu etablieren. Doch der Golz blieb zu Jean-Pauls Leidwesen zeitlebens exotisch, warf seinen Schatten auf den Urheber zurück und exotisierte ihn dadurch selbst. Dazu ein Witz von ihm: Ein Australier hätte gern einen neuen Bumerang gehabt. Seither versucht er, den alten fortzuwerfen.

            Gerne hätte ich Jean-Paul noch meine Referenz und meine tief empfundene Dankbarkeit erwiesen, als ich im vergangenen Herbst in der Schweiz weilte und mein Lesebuch gegen den Hunger Auf dem Amakong trotz Pandemie-Einschränkungen unter die Leute zu bringen versuchte. Jean-Paul lag, so liess man mich wissen, im Pflegeheim von Sugiez. Seit Monaten umnachtet, nicht mehr ansprechbar. Es hätte sich nur um einen kurzen Gruss gehandelt, um einen Abschied. Doch die Covid-19-Vorsichtsmassnahmen des Hauses liessen nicht zu, ihn zu besuchen. Stattdessen machte ich seiner jüngeren Schwester Änni in Murten meine Aufwartung. Sie berichtete von alten Tagen und anstehenden Herausforderungen. Zum Mittagessen gingen wir im Städtchen zu einem Thai-Restaurant und assen dort das Tagesmenu: Fleischvogel mit Kartoffelstock. Wir unterhielten uns freundschaftlich und herzlich, doch Änni erzählte mir von Jean-Paul auch Geschichten, die nicht ganz in mein geschöntes Bild von ihm passen wollten. Er war wohl nicht nur ein Genie und ein liebenswerter Sonderling, für Nahestehende war er wohl schlicht auch ein schwieriger Mensch.

            Zu guten Zeiten schon beschäftigte er sich mit dem Tod. Für ihn gab es zwei davon: den Wärme- und den Kältetod. Gesellschaften würde, so dozierte er, in ihrer Erstarrung regelmässig der Kältetod ereilen. Er hingegen befand sich, so dünkt es mich, eher in der Nähe der alles zersengenden, tödlichen Hitze.

Jetzt ist er gestorben, am 8. Januar 2021, in seinem 87. Lebensjahr. 


 © Nikolaus Wyss
 
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Dienstag, 12. Januar 2021

Die Lektion

 

Die sozioökonomischen Umstände in Kolumbien bringen es mit sich, dass hier viele junge Frauen und Männer, die sich in prekären monetären Umständen befinden, uns älteren Ausländern den Hof machen in der Hoffnung, mit ihrer Jugendlichkeit und ihrer Anmut bei unsereiner Aufmerksamkeit zu erregen. Meine schiere Anwesenheit genügt diesen jungen Leuten in Not schon, mir die Rolle eines sugardaddy zuzuschreiben, der ihnen in Geldangelegenheiten, Studiengebühren, iPhones und Kleidern Unterstützung gewährt und im Gegenzug dazu ein bisschen Wärme bekommt und die Illusion, man sei auch mit 60 oder 70 noch ein toller Hecht.

Ich gebe unumwunden zu, dass ich solchen Arrangements auch schon erlegen bin. Doch meine Bilanz fällt ernüchternd aus. Entweder bin ich solchen Deals nicht gewachsen, oder ich bin zu geizig. Oder ich vermisse darin etwas, was mir eigentlich in jeder Begegnung und in jeder Beziehung wichtig wäre, eine gewisse Balance nämlich, die sich ausdrückt in gegenseitigem Respekt, in einer wechselseitigen Beglückung und in einer entsprechenden Zufriedenheit, die sich in meinem Falle einfach nicht einstellen wollten. Meine Erfahrungen liefen meistens darauf hinaus, dass sich jeder vom anderen ausgebeutet und unverstanden fühlte, was wiederum das frustrierende Gefühl nährte, selbst grosszügiger zu sein als der andere.

Mit anderen Worten: ich begann, mit wachsendem Mut und zunehmendem Gewinn die mir zugeschriebene Rolle als sugardaddy zurückzuweisen. Ich fühlte mich dabei stark und souverän – mit dem unbeabsichtigten Nebeneffekt, dass ich jetzt für noch attraktiver gelte. Jetzt repräsentiere ich nicht mehr den bedürftigen alten Mann, der sich auf solche Deals einlassen muss, um sich damit wenigstens noch ein Zipfelchen Lebenslust zu erkaufen. Jetzt zeichne ich mich vielmehr durch wahre Exklusivität aus, als jemand, der frei ist und seinen Alltag unabhängig von irgendwelchen Anfechtungen gestalten kann. Mir scheint zuweilen, als ob jetzt unter den Jungen eine Art Wettbewerb imgange sei, der im Versuch besteht, meine stolze Standhaftigkeit ins Wanken zu bringen. Ich bekomme jedenfalls viel Aufmerksamkeit. Sie ist ein schönes Geschenk für die Besiegung eigener Schwächen.

Durch Erfahrungen dergestalt gestählt lernte ich Edwar kennen, einen sympathischen Medizinstudenten. Er kommt aus Manizales, studiert aber hier in Bogotá. Auch er bekundete ein gewisses Interesse an mir. Wir unterhielten uns über sein Studium, und als er mir sagte, er hätte gerade Geburtstag, war ich mir nicht zu schade, ihn in einem der Crêpes&Waffles-Restaurants zum Essen einzuladen. Zu keinem Zeitpunkt kam die Frage auf, ob diese Zusammenkunft weitere Folgen zeitigen müsse, und ich machte auch keine Anstalten, darauf zu sprechen zu kommen. Ich genoss das Beisammensein und die Unterhaltung, und nach dem Essen gingen wir wieder unsrer eigenen Wege.

Monate später meldete sich Edwar wieder. Jetzt trug er in seinem Rucksack einen süssen Welpen mit sich herum, den er mir zeigen wollte. Das Tierchen wackelte verschlafen mit dem Kopf und liess aufs Tischtuch ein paar Tropfen fahren. Unsere Katze wurde angesichts dieses ungewohnten Besuchs ganz aufgeregt und schwankte zwischen Neugier und Angst. Sie war solche Begegnungen nicht gewohnt. Nachdem ich das verschlafene Baby ausführlich gewürdigt hatte, kam Edwar auf den Zweck seines neuerlichen Besuches zu sprechen. Er suche Geld für Hundefutter und für die anstehenden Impfungen des Jungtiers.

Meine Antwort musste ihn enttäuscht haben. Ich tat ihm nämlich kund, wenn man sich schon ein Hündchen anlache, so übernehme man damit auch Verantwortung, deren Wahrnehmung nicht darin bestehen könne, andere zu Spenden zu nötigen. Missmutig gab ich ihm zwar ein paar Geldscheine, doch die Botschaft war klar. Ich zeigte mich nicht gewillt, in Zukunft für Futter und Gesundheit dieses Tiers für zuständig zu gelten. Die Stimmung zwischen uns kippte zwar nicht ganz, doch sie sackte ab. Bald beschloss er, weiterzuziehen. Wir wollten uns schon verabschieden, als ihm plötzlich in den Sinn kam, sein Handy im oberen Stock, wo wir uns unterhalten hatten, vergessen zu haben. In der Zwischenzeit wartete ich unten an der Tür. Als er zurückkam, zeigte er mir erleichtert sein Handy, das in einer gelben Schutzhülle steckte.

Nach der Verabschiedung sah ich Edwar noch nach, wie er sich vom Haus entfernte. Er winkte mir zu, dann schloss ich die Haustüre. Als ich wieder mein Zimmer betrat, bemerkte ich, dass mein eigenes Handy nicht mehr auf dem Tisch lag, ein iPhone der neuesten Generation. Violett mit transparenter Schutzhülle. Ich hatte es mir einige Wochen zuvor erstanden, um damit meine kleinen Barfuss-Videos zu drehen. Ich stürmte zur Haustür und auf die Strasse hinaus in der Hoffnung, Edwar von weitem noch zu sehen. Doch der war schon über alle Berge.

Später sandte er auf mein altes Handy ein paar SMS mit wüsten Beschimpfungen. Ich sei unfair gewesen zu ihm, ich müsse für mein mangelndes Verständnis für seine Probleme büssen. Er würde mir das Handy zurückgeben, wenn ich ihm vorgängig den Zugangscode verrate. Er gab mir dafür zwei Stunden Zeit. Liesse ich aber diese Frist verstreichen, so zerstöre er das iPhone vor laufender Kamera und werfe den Schrott in meinen Vorgarten, denn er habe mein Handy gar nicht nötig, es gehe ihm nur um eine Lektion.

Ich begann in meinem bescheidenen psychologischen Wissensschatz zu wühlen, um eine adäquate Bezeichnung für ein solches Verhalten zu finden, doch mir wollte nur der sehr allgemeine Begriff eines Psychopathen in den Sinn kommen. Kurz tauchte auch der Begriff des Machismo auf, wo eigensinnige Männer ihre Regeln selbst aufstellen, ungeachtet geltenden Rechts. Vor allem aber war ich enttäuscht von mir selbst, zu wenig aufgepasst zu haben, zu viel Vertrauen geschenkt und eine Person falsch eingeschätzt zu haben. Noch schlimmer: ich repräsentierte für Edwar offenbar eine Welt, die verpflichtet gewesen wäre, ihm zu helfen, und die es verdient, bestraft zu werden, wenn sie diese Rolle nicht zur Zufriedenheit des anderen ausfüllt.

In meinen Antwort-SMS beschuldigte ich ihn, er sei ein Dieb und ein Erpresser, er aber reklamierte für sich, ein gerechter Rächer zu sein. Ich liess die Frist verstreichen. Natürlich teilte ich Edwar den Zugangscode nicht mit. Die gehässige Kommunikation starb darauf ab, weil er mich von seinen sozialen Plattformen wegsperrte. Ich wiederum deklarierte bei Apple mein iPhone für gestohlen, was eine Sperrung zur Folge hatte. Zur Polizei ging ich nicht. Ich wusste nicht einmal, wie Edwar zum Nachnamen heisst, geschweige denn, wo er wohnt. Stattdessen begann ich, jeden Tag im Vorgarten nach Überresten meines iPhones Ausschau zu halten. Der Verlust war für mich verkraftbar, mich reute einzig die Schweizer SIM-Karte und die mit ihr verbundenen Whatsapp-Kontakte. Insgeheim hoffte ich, diese aus den Handytrümmern noch heil retten zu können. Doch so sehr ich jeden Morgen das Gärtchen darauf absuchte, das zertrümmerte iPhone tauchte nicht auf. Stattdessen teilte Edwar mir auf Instagram kurz und bündig mit «Sorry no sorry bitch» - dann sperrte er mich erneut.

Der Titel dieses Berichts war für mich von Anfang an klar: Die Lektion. Die Frage bleibt nur: worin besteht sie denn jetzt und zu wessen Erkenntnisgewinn? Ich dachte, wenn ich darüber schreibe, würden mir die Antworten dazu schon einfallen. Doch weit gefehlt.


© Nikolaus Wyss

 

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