Dienstag, 12. Januar 2021

Die Lektion

 

Die sozioökonomischen Umstände in Kolumbien bringen es mit sich, dass hier viele junge Frauen und Männer, die sich in prekären monetären Umständen befinden, uns älteren Ausländern den Hof machen in der Hoffnung, mit ihrer Jugendlichkeit und ihrer Anmut bei unsereiner Aufmerksamkeit zu erregen. Meine schiere Anwesenheit genügt diesen jungen Leuten in Not schon, mir die Rolle eines sugardaddy zuzuschreiben, der ihnen in Geldangelegenheiten, Studiengebühren, iPhones und Kleidern Unterstützung gewährt und im Gegenzug dazu ein bisschen Wärme bekommt und die Illusion, man sei auch mit 60 oder 70 noch ein toller Hecht.

Ich gebe unumwunden zu, dass ich solchen Arrangements auch schon erlegen bin. Doch meine Bilanz fällt ernüchternd aus. Entweder bin ich solchen Deals nicht gewachsen, oder ich bin zu geizig. Oder ich vermisse darin etwas, was mir eigentlich in jeder Begegnung und in jeder Beziehung wichtig wäre, eine gewisse Balance nämlich, die sich ausdrückt in gegenseitigem Respekt, in einer wechselseitigen Beglückung und in einer entsprechenden Zufriedenheit, die sich in meinem Falle einfach nicht einstellen wollten. Meine Erfahrungen liefen meistens darauf hinaus, dass sich jeder vom anderen ausgebeutet und unverstanden fühlte, was wiederum das frustrierende Gefühl nährte, selbst grosszügiger zu sein als der andere.

Mit anderen Worten: ich begann, mit wachsendem Mut und zunehmendem Gewinn die mir zugeschriebene Rolle als sugardaddy zurückzuweisen. Ich fühlte mich dabei stark und souverän – mit dem unbeabsichtigten Nebeneffekt, dass ich jetzt für noch attraktiver gelte. Jetzt repräsentiere ich nicht mehr den bedürftigen alten Mann, der sich auf solche Deals einlassen muss, um sich damit wenigstens noch ein Zipfelchen Lebenslust zu erkaufen. Jetzt zeichne ich mich vielmehr durch wahre Exklusivität aus, als jemand, der frei ist und seinen Alltag unabhängig von irgendwelchen Anfechtungen gestalten kann. Mir scheint zuweilen, als ob jetzt unter den Jungen eine Art Wettbewerb imgange sei, der im Versuch besteht, meine stolze Standhaftigkeit ins Wanken zu bringen. Ich bekomme jedenfalls viel Aufmerksamkeit. Sie ist ein schönes Geschenk für die Besiegung eigener Schwächen.

Durch Erfahrungen dergestalt gestählt lernte ich Edwar kennen, einen sympathischen Medizinstudenten. Er kommt aus Manizales, studiert aber hier in Bogotá. Auch er bekundete ein gewisses Interesse an mir. Wir unterhielten uns über sein Studium, und als er mir sagte, er hätte gerade Geburtstag, war ich mir nicht zu schade, ihn in einem der Crêpes&Waffles-Restaurants zum Essen einzuladen. Zu keinem Zeitpunkt kam die Frage auf, ob diese Zusammenkunft weitere Folgen zeitigen müsse, und ich machte auch keine Anstalten, darauf zu sprechen zu kommen. Ich genoss das Beisammensein und die Unterhaltung, und nach dem Essen gingen wir wieder unsrer eigenen Wege.

Monate später meldete sich Edwar wieder. Jetzt trug er in seinem Rucksack einen süssen Welpen mit sich herum, den er mir zeigen wollte. Das Tierchen wackelte verschlafen mit dem Kopf und liess aufs Tischtuch ein paar Tropfen fahren. Unsere Katze wurde angesichts dieses ungewohnten Besuchs ganz aufgeregt und schwankte zwischen Neugier und Angst. Sie war solche Begegnungen nicht gewohnt. Nachdem ich das verschlafene Baby ausführlich gewürdigt hatte, kam Edwar auf den Zweck seines neuerlichen Besuches zu sprechen. Er suche Geld für Hundefutter und für die anstehenden Impfungen des Jungtiers.

Meine Antwort musste ihn enttäuscht haben. Ich tat ihm nämlich kund, wenn man sich schon ein Hündchen anlache, so übernehme man damit auch Verantwortung, deren Wahrnehmung nicht darin bestehen könne, andere zu Spenden zu nötigen. Missmutig gab ich ihm zwar ein paar Geldscheine, doch die Botschaft war klar. Ich zeigte mich nicht gewillt, in Zukunft für Futter und Gesundheit dieses Tiers für zuständig zu gelten. Die Stimmung zwischen uns kippte zwar nicht ganz, doch sie sackte ab. Bald beschloss er, weiterzuziehen. Wir wollten uns schon verabschieden, als ihm plötzlich in den Sinn kam, sein Handy im oberen Stock, wo wir uns unterhalten hatten, vergessen zu haben. In der Zwischenzeit wartete ich unten an der Tür. Als er zurückkam, zeigte er mir erleichtert sein Handy, das in einer gelben Schutzhülle steckte.

Nach der Verabschiedung sah ich Edwar noch nach, wie er sich vom Haus entfernte. Er winkte mir zu, dann schloss ich die Haustüre. Als ich wieder mein Zimmer betrat, bemerkte ich, dass mein eigenes Handy nicht mehr auf dem Tisch lag, ein iPhone der neuesten Generation. Violett mit transparenter Schutzhülle. Ich hatte es mir einige Wochen zuvor erstanden, um damit meine kleinen Barfuss-Videos zu drehen. Ich stürmte zur Haustür und auf die Strasse hinaus in der Hoffnung, Edwar von weitem noch zu sehen. Doch der war schon über alle Berge.

Später sandte er auf mein altes Handy ein paar SMS mit wüsten Beschimpfungen. Ich sei unfair gewesen zu ihm, ich müsse für mein mangelndes Verständnis für seine Probleme büssen. Er würde mir das Handy zurückgeben, wenn ich ihm vorgängig den Zugangscode verrate. Er gab mir dafür zwei Stunden Zeit. Liesse ich aber diese Frist verstreichen, so zerstöre er das iPhone vor laufender Kamera und werfe den Schrott in meinen Vorgarten, denn er habe mein Handy gar nicht nötig, es gehe ihm nur um eine Lektion.

Ich begann in meinem bescheidenen psychologischen Wissensschatz zu wühlen, um eine adäquate Bezeichnung für ein solches Verhalten zu finden, doch mir wollte nur der sehr allgemeine Begriff eines Psychopathen in den Sinn kommen. Kurz tauchte auch der Begriff des Machismo auf, wo eigensinnige Männer ihre Regeln selbst aufstellen, ungeachtet geltenden Rechts. Vor allem aber war ich enttäuscht von mir selbst, zu wenig aufgepasst zu haben, zu viel Vertrauen geschenkt und eine Person falsch eingeschätzt zu haben. Noch schlimmer: ich repräsentierte für Edwar offenbar eine Welt, die verpflichtet gewesen wäre, ihm zu helfen, und die es verdient, bestraft zu werden, wenn sie diese Rolle nicht zur Zufriedenheit des anderen ausfüllt.

In meinen Antwort-SMS beschuldigte ich ihn, er sei ein Dieb und ein Erpresser, er aber reklamierte für sich, ein gerechter Rächer zu sein. Ich liess die Frist verstreichen. Natürlich teilte ich Edwar den Zugangscode nicht mit. Die gehässige Kommunikation starb darauf ab, weil er mich von seinen sozialen Plattformen wegsperrte. Ich wiederum deklarierte bei Apple mein iPhone für gestohlen, was eine Sperrung zur Folge hatte. Zur Polizei ging ich nicht. Ich wusste nicht einmal, wie Edwar zum Nachnamen heisst, geschweige denn, wo er wohnt. Stattdessen begann ich, jeden Tag im Vorgarten nach Überresten meines iPhones Ausschau zu halten. Der Verlust war für mich verkraftbar, mich reute einzig die Schweizer SIM-Karte und die mit ihr verbundenen Whatsapp-Kontakte. Insgeheim hoffte ich, diese aus den Handytrümmern noch heil retten zu können. Doch so sehr ich jeden Morgen das Gärtchen darauf absuchte, das zertrümmerte iPhone tauchte nicht auf. Stattdessen teilte Edwar mir auf Instagram kurz und bündig mit «Sorry no sorry bitch» - dann sperrte er mich erneut.

Der Titel dieses Berichts war für mich von Anfang an klar: Die Lektion. Die Frage bleibt nur: worin besteht sie denn jetzt und zu wessen Erkenntnisgewinn? Ich dachte, wenn ich darüber schreibe, würden mir die Antworten dazu schon einfallen. Doch weit gefehlt.


© Nikolaus Wyss

 

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1 Kommentar:

Unknown hat gesagt…

Das tut mir sehr leid, ungefreut, solcherlei ist mir früher öfter geschehen, habe dazugelernt! Würde das verbuchen unter Kollateralschaden des Lebens.