Donnerstag, 16. Februar 2017

Al Imfeld gestorben

Mit Al Imfeld in Ghana 1999
Al Imfeld war ein bescheiden gebliebener Ermutiger, geübt im Umgang mit Enttäuschungen und Ausgenütztwerden, ein priesterlicher Spezialist und Ratgeber in fast allen Lebenslagen und Dingen (von Afrika bis Malcom X, vom Playboy bis zum Vietnamkrieg, von Prostituierten an der Langstrasse bis zu Wole Soyinka in Nigeria, vom Napf bis in die Niederungen Zimbabwes, von Würsten bis zum Zucker, von der Poesie bis zur Ökonomie). Er lebte äusserst ungesund, trug alle Viren dieser Welt mit sich herum und litt immer unter irgendwelchen Einschränkungen. Gerade dies verlieh ihm eine Aura der Unsterblichkeit. Umso grösser der Schock, als jetzt das Unvermeidliche doch noch eintraf.
Ich erinnere mich an unsere gemeinsamen Aufenthalte in Ghana und an einer Kasseler Documenta in den 90er Jahren. Er wirkte dabei so bescheiden und geradezu unbeteiligt, und gleichwohl wusste er alles in einem Masse, bei welchem ich in meinen Bemühungen weit auf der Strecke blieb.
Sträflich sein liederlicher Umgang mit seinen eigenen Texten. Wenn ich nicht schon vorher gewusst hätte, was REDIGIEREN heisst, bei ihm hätte ich es lernen müssen. Seine Beiträge für das Tages-Anzeiger Magazin in den 80er Jahren musste ich geradezu ausbeineln und neu zusammensetzen. Er galt als aufwändiger Autor. Doch statt beleidigt zu sein wegen meiner Eingriffe, zeigte er seine Freude: da war einer, der sich mit seinen Überlegungen befasste. Für ihn war das Ausdruck gemeinsamen Ringens um einen guten Text. Vermutlich kostete ihn das dann später aber seine Heimat bei der WOZ. Die schlecht bezahlten Redaktoren fanden wohl einfach keine Zeit, seine Beiträge in eine lesenswerte Form zu bringen.
Ich bewunderte ihn für seinen Umgang mit Rückschlägen und Enttäuschungen. Immer obsiegten Zuversicht und Hoffnung. Er freute sich auf die nächsten Projekte und Vorhaben, welche er mit verbissenem Fleiß vorantrieb, er freute sich aber auch auf die Zusammenkünfte im Rotary-Club und auf die Suppe vom nächsten Samstag, wenn er wieder in seiner schmalen Küche Gäste versammeln konnte und Rosemarie sich ins Zeug legte mit allerlei überraschenden Kombinationen von Kräutern, Käsen, Dörrfrüchten, Einlagen, Ergänzungen - und immer mit Wein. Anstelle künftiger Suppen tritt nun das Paradies. Ich bin überzeugt, dass er dort grosszügig empfangen wird. Verdient hat er es sich hier auf Erden. 
Ich entbiete aber auch meinen allergrössten Respekt Rosemarie Christen, die ihn in den letzten zehn Jahren gemanaged hat. Dank ihr konnte er auch im respektablen Alter seine Wirkung entfalten. Ich kondoliere ihr ebenso wie seinen familiären Angehörigen von ganzem Herzen.

© Nikolaus Wyss

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Dienstag, 14. Februar 2017

Milieu-Studie


Der König lag wieder einmal mit einer Lungenentzündung im Spital. Alle machten sich grosse Sorgen um ihn. Wie gerne hätte man ihn bei diesem Event dabei gehabt. Es ging um die Verleihung des Pazifischen Literaturpreises, welcher im Jahr 2012 einem philippinischen Schriftsteller zugesprochen wurde. Die kulturelle und akademische Elite Bangkoks hatte sich zu diesem Behufe im Hotel Mandarin Oriental eingefunden und bekam bei Wiener Salonmusik zum Empfang Häppchen und Drinks, serviert von Jungs und Mädels in exotischen Livrées (Video).
Ich kam im Schlepptau einer Journalisten-Freundin aus früheren Zeiten und musste mir auf dem Hinweg am Strassenrand noch schnell eine Krawatte besorgen. An die Qualität des Champagners mag ich mich nicht mehr erinnern und an die Small-Talks auch nicht. Aber die darauf einsetzenden Vorgänge blieben in meiner Erinnerung haften, als ob sie gestern stattgefunden hätten.
Nach einer Weile verschob sich die Gästeschar in den reich dekorierten und mit den Staatsflaggen der beteiligten Nationen ausgestatteten Festsaal, nicht ohne vorher noch eine Sicherheitsschleuse zu passieren, was zu einem respektablen Stau im Treppenhaus führte. Beim Warten nahm ich allerlei Parfum-Gerüche, aber auch schlechten Mundgeruch wahr. Dann setzten wir uns an runde Tische und harrten bei Wienerwalzer- und Tango-Klängen der Dinge, die im Programm angekündigt waren.

Man hiess mich, den Fotoapparat zu versorgen, dann liess man niemanden mehr aus dem Saal. Glücklich die Kenner, die vorher noch schnell aufs Klo gegangen sind. Wir wurden also in diesem Saal festgehalten, einzig einige Sicherheitsbeamte in weisser Fest-Uniform schwirrten noch herum und liessen in ihrem geschäftigen Tun erahnen, dass mit der Ankunft des königlichen Stellvertreters, Kronprinz Vajiralongkorn, dem heutigen König Rama X, der eigentliche Anlass bald beginnen wird.
Ratsch, da gingen die Türen auf, ratsch, alle im Saal erhoben sich von ihren Stühlen, ratsch stimmte die Hofkapelle die Nationalhymne an, und ratsch bildeten die Sicherheitsbeamten eine Gasse, durch welche der hochdekorierte Prinz mit  Gefolge eintraf und zu Tische schritt. Sein Tisch war rechteckig und stand erhöht. Während des Diners konnte der Prinz so auf seine untertänige Festgesellschaft hinunterblicken. Wir aber konnten ihm, seiner hübschen dritten Gattin und weiteren Angehörigen des Hofs, beim Essen zusehen.
Am meisten beeindruckte mich, wie leer und unbeteiligt der Prinz mit seiner schrägen Mundhaltung in den Saal blickte. Er sprach kaum, weder mit seinesgleichen noch mit sonst jemandem. Nahm er überhaupt einen Bissen zu sich, oder wartete er nur ab, bis er endlich wieder gehen durfte? Das Servierpersonal näherte sich ihm von hinten auf den Knien, niemand stand in seiner Nähe aufrecht.
An diesem Abend wurde mindestens fünfmal die Nationalhymne intoniert. Nach dem Essen gab es Ansprachen und Preisübergabe. Als der Prinz aufstand und sich zum Gehen anschickte, erhob sich einmal mehr der ganze Saal. Dann wurden wir wieder eingesperrt, bis die königliche Gesellschaft das Hotelgelände verlassen hatte.
Nachtragen will ich noch, dass ich auf der Heimfahrt den Taxifahrer bitten musste, schnell anzuhalten. Mir wurde plötzlich so elend und schlecht, dass ich die feinen Köstlichkeiten des Abends in den Strassengraben auskotzte. – Später im Hotelzimmer gönnte ich meinem Magen noch ein salziges Bisquit und trank dazu das Wasser, das den Gästen gratis zur Verfügung gestellt wird. 

© Nikolaus Wyss

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Sonntag, 12. Februar 2017

Vom Gelingen eines Bezahlvorgangs


Integration findet auf unterschiedlichen Ebenen statt. Dazu gehören zum Beispiel eine gewisse Vertrautheit mit der Sprache vor Ort, das Wissen um die örtlichen Regeln hygienischer Standards, Kenntnisse über die verschiedenen Arten der Abfallbeseitigung und über die Tarife des öffentlichen Verkehrs, und schliesslich der gebührende Respekt vor den Bedürfnissen der Verwaltung bezüglich An- und Abmeldeverfahren und Steuern.
Eben in Kolumbien angekommen und bemüht, mich nicht allzu lange beim Status eines ahnungslosen und gemeinen Touristen aufzuhalten, machte ich mich sofort auf den Weg durch die Ämter und bekam bereits nach einer Woche einen Ausländerausweis, der mich im Land als offiziell Daseinsberechtigter auswies. Damit konnte ich unter anderem auch ein Bankkonto eröffnen.
Die Banken jedoch kultivieren heutzutage derartig ausgetüftelte Regeln für eine geordnete Kontoeröffnung, dass ich für die Beschaffung aller nötiger Papiere zweimal mehr Zeit und Aufwand brauchte als für das Erlangen des Ausländerausweises. Ich musste ein von einem Notariat beglaubigtes Schreiben meiner Pensionskasse vorweisen, welches bestätigte, dass ich über monatliche Einkünfte verfüge, und zwar auf Spanisch (ich hatte nur eines auf Englisch). Und ganz zum Schluss beschied man mir, dass ich vor der ersten Überweisung aus der Schweiz eine sechsmonatige Karenzfrist gewärtigen müsse.
Nein, der Kragen platzte mir nicht. Ich beschloss aber, die Kundenberaterin zu wechseln. Bei der zweiten gelang mir dann nach der Wiederholung des Procederes eine Kontoeröffnung mit sofortiger Überweisungsmöglichkeit. Als ich aber zuhause am Computer mein Konto aufsuchen wollte, stand ich wieder an. Irgendein Code fehlte mir, um mich als Zugangsberechtigten auszuweisen. Also ging ich ein weiteres Mal zur Bank und liess mir nochmals den Weg durch den elektronischen Dschungel erklären. Ich schrieb mir jeden Schritt feinsäuberlich auf.
Und dann klappte es. Schon wenige Tage später liess mich die Bank wissen, dass die erste Zahlung meiner Pensionskasse eingetroffen sei. Als ich aber am Bancomaten den aktuellen Kontostand ablesen wollte, gähnte beim Saldo eine runde Null. Kein einziger Peso war mir gutgeschrieben worden. Hatten sie das Geld zwischenzeitlich zurückgeschickt oder anderweitig verwendet? – Wieder ging ich zur Kundenberaterin, und sie erbarmte sich meiner erneut. Sie erklärte, man müsse den überwiesenen Betrag erst aus einem Sperrkonto herauslösen, bevor man über ihn frei verfügen könne. Geduldig lehrte sie mich darauf, die dafür nötigen Schritte der digitalen Kontoführung zu vollziehen. Zum Schluss küsste ich vor lauter Dankbarkeit ihre Hände.  
Eigentlich möchte ich in diesem Text einzig das Glücksgefühl hervorheben, das mich beschlich, als ich endlich erfolgreich die erste Zahlung zur Begleichung der Wohnungsmiete leisten konnte. Das war ein Gefühl, wie ich es hier in Kolumbien noch nicht erlebte. Jetzt erst bin ich angekommen, denn von jetzt weg beherrsche ich ein wichtiges Instrument hiesigen Alltagslebens. In diesem Moment kam mir aber auch die Erkenntnis, mit diesem einen Click vermutlich die Hälfte aller Kolumbianer bereits hinter mir gelassen zu haben, weil sie über gar kein Bankkonto verfügen. Unverhofft gehöre ich jetzt einer Schicht an, der man im allgemeinen eine gute und weitreichende Integration zugesteht, ja, die das Land mit seinen mittelständischen Werten wesentlich prägt und mitgestaltet. – Jetzt muss ich aber schleunigst besser Spanisch sprechen lernen. 

© Nikolaus Wyss

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Donnerstag, 9. Februar 2017

Auf den Armen meines Vaters


Eines der wenigen Bilder aus meiner Kindheit, das so etwas wie heiteres Familienleben suggeriert, ist eine Fotografie, auf der mich mein Vater auf seinen Armen trägt. Ich dürfte damals zwei gewesen sein. Meine Mutter hat es aufgenommen. Sie war wahrscheinlich glücklich, damit einen Augenblick eingefangen zu haben, der zwar nicht der täglich gelebten Realität, aber der erstrebten, kaum je erreichten Idee einer familiären Harmonie entsprach. Nüchtern schrieb sie später dazu ins Album: 17. Mai. Elefantenbach, Degenried, Klus.
Ich erinnere mich nicht an diese Szene. Mein Gesichtsausdruck lässt aber eine gewisse Verlegenheit, ja Skepsis erahnen. Ich war mir schliesslich solche Momente des Familienglücks nicht gewohnt. Der Vater kam nur selten und normalerweise nur kurz zu Besuch. Er übersprang auf seiner Heimfahrt von Bern nach St. Gallen einfach einen Zug. So blieb er mir fremd. Die Zeit für eine Anfreundung reichte nicht. Meiner Mutter schien es damals gleich zu gehen. Sie wusste nicht, worüber sie sich mit ihm bei seinen kurzen Visiten hätte unterhalten können. Sie schwiegen sich an. Bedrückende Minuten lang. So habe ich es in Erinnerung.
Mein Vater war Politiker, und er sah die Politik als Schlüssel zu einer glanzvollen Karriere, die ihn in allererste Positionen unseres Landes hätte bringen sollen. Ihm schwebte die Führung eines Eidgenössischen Amtes oder einer Botschaft vor, in Peking zum Beispiel oder in Ottawa. Leider schien er aber immer von elenden Widersachern und bösen Intriganten umzingelt zu sein, sowohl im St. Galler Grossrat wie auch später im Nationalrat in Bern. Sie spielten ihm übel mit, so liess er uns wissen, und er hatte keine Hemmungen, bei uns im trauten Heim seine Gegner als Schleimer, Scheinheilige und Verräter zu bezeichnen. Bis auf den heutigen Tag habe ich jedoch nie genau herausgefunden, was denn schiefgelaufen war. Er wechselte sogar die Partei, um seinen Feinden zu entkommen, geriet damit aber vom Regen in die Traufe. Nach seinem Austritt aus der Freisinnig-Demokratischen Partei landete er beim Landesring der Unabhängigen. Dort schien er sich zwar innert kürzester Zeit den Ruf eines talentierten und nützlichen Juristen erworben zu haben, wandelte sich aber zusehends zum dienstfertigen Helfer seines übermächtigen Parteichefs Gottlieb Duttweiler, der ihm vor dem Licht stand.
Ausbrüche des Zorns verbargen sich bei seinen seltenen Besuchen normalerweise hinter diesem unerträglich langen, eisigen Schweigen, das grundsätzlich zwischen meinen Eltern herrschte und das zuerst durchbrochen werden musste. Das Signal dazu gab Mutter, indem sie in Ermangelung anderer Themen jeweils die Frage aufbrachte, wie es Dutti gehe. So konnte sie sicherstellen, dass für eine Weile Lärm die Stille durchbrach. Unangenehm zwar, doch weniger bedrückend als ätzendes Schweigen. Ihre Frage löste regelmässig Schimpftiraden aus. Vater begann lauthals über diese himmeltraurigen Schafseckel in Bern zu klagen, und aus seiner Empörung, die auf mein zartes Alter keine Rücksicht nahm, meinte ich schon als kleiner Bub Enttäuschung, Verzweiflung und Ohnmacht zu hören. Die kindliche Schlussfolgerung war klar: Die Politik ist ein dreckiges Geschäft und hinterlässt nichts als Opfer und Schäden.
An diese Erkenntnis hielt ich mich mehr oder weniger mein Leben lang. Über das stille Sympathisieren für das eine oder andere politische Anliegen hinaus liess ich mich nicht auf Politik ein und fuhr damit nicht schlecht. Ich ging zwar immer wählen und abstimmen, war aber keiner Partei treu und bewarb mich auch für kein Amt – mit Ausnahme des einen Males, wo ich in jungen Jahren, kaum zurück aus Lateinamerika und geprägt vom schrecklichen Bürgerkrieg in Kolumbien und von den Befreiungsbemühungen der Guerillas, Vilma Hinn und Niklaus Scherr, Nachbarn von mir, den Gefallen tat, mich zur Vervollständigung der POCH-Liste für den Zürcher Gemeinderat als Parteiloser auf letzter Position aufstellen zu lassen. Die Wahlen gingen ohne grosse Folgen an mir vorüber, nicht einmal zu einer Fiche bei Ernst Cincera reichte es.
Gleichwohl: Als ob dieses kurze politische Bekenntnis nach Ausgleich gerufen hätte, war ich im Jahr darauf während einiger Woche als Schreiberling im Lohn der SVP, bis sie merkten, dass wir wohl das Heu nicht unbedingt auf der gleichen Bühne hatten. Das war noch lange vor Christoph Blochers Zeiten. Das war es denn auch schon.
Im Spätherbst 2014, zu einer Zeit, in der sich andere in meinem Alter auf ihre Schrebergärten oder in ihre Kondominien nach Spanien oder Thailand zurückziehen, wo Altersgenossen von mir, aufgehetzt von einem Thomas Minder, einer Natalie Rickli, einem Adrian Amstutz, einem Lukas Reimann, einem Gregor Rutz oder einem Christoph Blocher online unflätige Äusserungen über die Lügner und Landesverräter in Bern absondern, welche mich in unangenehmster Weise an die lauten Besuche meines Vaters in unserem trauten Heim erinnern, 2014 also bewarb ich mich um einen Sitz im Zürcher Kantonsrat. Welcher Teufel ritt mich damals? Was brauchte ich noch zu wissen von diesem Leben? Was für Feinde suchte ich mir, unter denen ich schon zu Vaters Zeiten hatte leiden müssen? Immerhin hatte ich ja schon die unangenehmsten Erfahrungen im Schlieremer Stadtparlament hinter mir, wo all diese Intrigen und Scharmützel im Miniformat, diese Austricksereien und Unterschiebungen zum Alltag gehörten. Wahrscheinlich meinte ich, dass es im Kantonsrat etwas gesitteter zu und her ginge.
Ich bewarb mich also als Spitzenkandidat meiner Partei, Sektion Limmattal, für einen Sitz im kantonalen Parlament, ging einige Male vorher zu Ratssitzungen, sah von der Tribüne herab auf all diese Frauen und Männer, die sich bei Reden der Gegenpartei demonstrativ taub stellten, und ich überlegte mir noch, welche Umstände es macht, mitten in der Sitzung aufs Klo gehen zu müssen: Die ganze Bankreihe musste dafür aufstehen, so eng war die Anlage.
Es kam nicht so weit. Gewählt wurde mit 75 Stimmen mehr die Zweitplatzierte auf der Liste. Ich hatte die Wahl, mich entweder beleidigt zu fühlen – oder erleichtert. Ich entschied mich, eingedenk meines Vaters, für Zweiteres. Und das ist gut so. Bereut habe ich diese Schicksalswendung seither nie. Sie erlaubte mir, nochmals einen biografischen Schritt zu vollziehen.

Findet mich das Glück nicht oder ein Sonntag voller Fragen

Dies ist ein Text vom 17. Juni 2012, damals aus einer Laune heraus bei Facebook veröffentlicht.

Anlässlich meines Geburtstagsbesuches vor drei Tagen bei Facebook-Freund Matthyas Jenny erstand ich mir das wunderbare Büchlein Findet mich das Glück? von Fischli/Weiss. Es besteht aus lauter auf schwarzen Tafeln geschriebenen, anregenden und zuweilen auch absurden Fragen, leider nicht alle grammatikalisch über jeden Zweifel erhaben...
Aus einer Laune heraus liess ich mich heute Sonntag von den Fragen der beiden Künstler inspirieren und  fragte mich dabei, ob ich mit meinen eigenen Fragen einfach im Windschatten der beiden bleibe und mir dabei den Vorwurf, ein Kopist oder Epigone zu sein, einheimse, oder ob sich mit eigenen Fragen und Befindlichkeiten die Vorlage so variieren liesse, dass das Resultat meiner Bemühungen eine gewisse Eigenständigkeit aufweise. Voilà die sonntägliche Ausbeute, die abrupt abbrach, als ich die Wohnungstüre aufstiess und feststellte, dass ich noch staubsaugen muss...

-       Wieso lässt es meine Jugendlichkeit zu, dass ich mich alt fühle?
-       Was denken wohl meine Zähne, wenn ich sie putze?
-       Kann Griechenland Europa den Meister zeigen?
-       Fasziniert Kunst dann, wenn man für sie keine Worte mehr findet?
-       Langweilt sich die Kunst, wenn wir für sie keine Worte mehr finden?
-       Bin ich ein Trittbrettfahrer, wenn ich Fischli/Weiss in meinen Posts erwähne?
-       Ist es eine Folge der gestrigen Gaypride Parade, dass heute Morgen längs der Limmat auffällig viele Menschen joggten, deren Geschlechtszugehörigkeit von Ferne nicht auf den ersten Blick erkennbar war?
-       Welches Stück von mir wird einem Kannibalen am meisten munden?
-       Ist es wichtiger Fragen zu stellen als diese zu beantworten?
-       Wäre eine Welle der Entrüstung besser als stilles Wasser?
-       Nützt Facebook vor allem erfolglosen Autoren?
-       Wenn Reden Silber ist und Schweigen Gold, was ist dann Schreiben?
-       Hat der Liebe Gott Freude, wenn wir in der Kirche klatschen?
-       Lohnen sich Fragen auf Facebook?
-       Sind die Fragen zufrieden mit ihren Antworten?
-       Hat Sonnenschein einen verheerenderen Einfluss auf meinen Intelligenz-Koeffizienten als Mondschein?
-       Kann ich mich selber inspirieren oder werde ich bloss von Fischli/Weiss inspiriert?
-       Ist mein Velo beleidigt, wenn ich es nicht mehr finde?
-       Wo halten sich die ungestellten Fragen auf?
-       Kann eine Antwort warten, bis ihre Frage gestellt ist, oder zeigt sie sich manchmal auch ungefragt?
-       Was mache ich morgen?
-       Könnte ich in China glücklich werden?
-       Warum fällt mir zu Hause nichts ein?
-       Darf ich Kommentare ignorieren?

©Nikolaus Wyss

Montag, 6. Februar 2017

Inklusion statt Integration



Auf Besuch bei der Escuela Normal Superior Maria Auxiliadora de Copacabana in der Nähe von Medellin. Ich werde von Gloria Herrera empfangen. Später gesellt sich noch die energische Sor Sara hinzu, die Direktorin. Es gibt Fruchtsalat und einen angeregten Gedankenaustausch.

Die schulische Situation in Kolumbien ist gemäss dieser Frauen geprägt von einem dramatischen Stadt-Land-Gefälle. Viele Landstriche sind kriegsbedingt vernachlässigt worden. Ganze Familien wurden vertrieben, massakriert, auseinandergerissen. An einen normalen Schulunterricht war während Jahren nicht zu denken. Nur die wagemutigsten Lehrer getrauten sich, ihren Fuss in solche Gegenden zu setzen.

Viele Menschen wurden so über die Jahre zu Flüchtlingen im eigenen Land. Den Bedrohungen und der Verfolgung in der angestammten Umgebung entflohen, versuchten sie, in einem anderen Departement, an einem fremden Ort, in einer fremden Stadt Fuss zu fassen. Sie bekamen den Status von Binnen-Migranten, gelten aber trotz gewisser Privilegien, die ihnen von Staates wegen als Opfer zugestanden werden, als die unerwünschten, weil entwurzelten, verrohten und ungebildeten Bürger des Landes. Sie tun sich oft schwer damit, sich anderswo zurecht zu finden. Dieses Unwohlgefühl teilen sie übrigens mit den Alteingesessenen, die sich durch die Neuzuzüger bedroht sehen. Die hohe Kriminalität in den Städten wird meistens mit der Migranten-Invasion begründet.

Und hier höre ich im Gespräch zum ersten Mal einen Begriff, der konsequent an die Stelle von Integration gesetzt wird: er heisst Inklusion. Während für meine Gesprächpartnerinnen das Wort Integration immer auch ein Machtgefälle zum Ausdruck bringt, dass nämlich ein alteingesessener Kulturkreis von Neuzugezogenen verlangt, sich der neuen Umgebung anzupassen, bringt der Begriff der Inklusion zum Ausdruck, dass dieser Prozess des Einwachsens in neue Lebensumstände stets Anstrengungen von beiden Seiten erfordert und Konsequenzen für beide Seiten zur Folge hat. Es gibt nur ein Kolumbien und demzufolge gemäss der Verfassungs- und Menschenrechte für unbescholtene Bürger dieselbe Daseinsberechtigung für alle. Und wenn im  Verlauf einer violenten Historie Mitbürger verloren gegangen sind, so liegt es nicht nur an diesen, sich ins Gesamtsystem wieder einzufügen. Es liegt auch an den anderen, diesen Hand zu bieten und sich um diese verlorenen Söhne und Töchter zu kümmern, das eigene Herz zu öffnen, die Bereitschaft, einen neuen Kontext zu schaffen, wo alle ihre Rechte und Pflichten gleichermassen ausüben können.

Das tönt etwas idealistisch, aber im Kontext einer pädagogischen Grundhaltung scheint mir der Begriff der Inklusion ein sehr interessanter Ansatz zu sein. Er nimmt die Kinder und Jugendlichen, unabhängig von der Dauer ihrer örtlichen Wohnsitznahme, an ihrem Selbstwertgefühl und ihrem Potential, zusammen eine bessere Zukunft zu schaffen. So erweist sich das Gespräch in Copacabana auch als Ansatzpunkt, sich neu und anders mit der Flüchtlingswelle in Europa auseinanderzusetzen. Vorausgesetzt, dass man anerkennt, dass es nur eine Welt gibt, und dass wir alle Menschen sind und dass demzufolge Menschenrechte für alle gelten, wo immer wir früher geboren wurden. Ein weites Feld, gerade heutzutage, leider...

© Nikolaus Wyss

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