Montag, 6. Februar 2017

Inklusion statt Integration



Auf Besuch bei der Escuela Normal Superior Maria Auxiliadora de Copacabana in der Nähe von Medellin. Ich werde von Gloria Herrera empfangen. Später gesellt sich noch die energische Sor Sara hinzu, die Direktorin. Es gibt Fruchtsalat und einen angeregten Gedankenaustausch.

Die schulische Situation in Kolumbien ist gemäss dieser Frauen geprägt von einem dramatischen Stadt-Land-Gefälle. Viele Landstriche sind kriegsbedingt vernachlässigt worden. Ganze Familien wurden vertrieben, massakriert, auseinandergerissen. An einen normalen Schulunterricht war während Jahren nicht zu denken. Nur die wagemutigsten Lehrer getrauten sich, ihren Fuss in solche Gegenden zu setzen.

Viele Menschen wurden so über die Jahre zu Flüchtlingen im eigenen Land. Den Bedrohungen und der Verfolgung in der angestammten Umgebung entflohen, versuchten sie, in einem anderen Departement, an einem fremden Ort, in einer fremden Stadt Fuss zu fassen. Sie bekamen den Status von Binnen-Migranten, gelten aber trotz gewisser Privilegien, die ihnen von Staates wegen als Opfer zugestanden werden, als die unerwünschten, weil entwurzelten, verrohten und ungebildeten Bürger des Landes. Sie tun sich oft schwer damit, sich anderswo zurecht zu finden. Dieses Unwohlgefühl teilen sie übrigens mit den Alteingesessenen, die sich durch die Neuzuzüger bedroht sehen. Die hohe Kriminalität in den Städten wird meistens mit der Migranten-Invasion begründet.

Und hier höre ich im Gespräch zum ersten Mal einen Begriff, der konsequent an die Stelle von Integration gesetzt wird: er heisst Inklusion. Während für meine Gesprächpartnerinnen das Wort Integration immer auch ein Machtgefälle zum Ausdruck bringt, dass nämlich ein alteingesessener Kulturkreis von Neuzugezogenen verlangt, sich der neuen Umgebung anzupassen, bringt der Begriff der Inklusion zum Ausdruck, dass dieser Prozess des Einwachsens in neue Lebensumstände stets Anstrengungen von beiden Seiten erfordert und Konsequenzen für beide Seiten zur Folge hat. Es gibt nur ein Kolumbien und demzufolge gemäss der Verfassungs- und Menschenrechte für unbescholtene Bürger dieselbe Daseinsberechtigung für alle. Und wenn im  Verlauf einer violenten Historie Mitbürger verloren gegangen sind, so liegt es nicht nur an diesen, sich ins Gesamtsystem wieder einzufügen. Es liegt auch an den anderen, diesen Hand zu bieten und sich um diese verlorenen Söhne und Töchter zu kümmern, das eigene Herz zu öffnen, die Bereitschaft, einen neuen Kontext zu schaffen, wo alle ihre Rechte und Pflichten gleichermassen ausüben können.

Das tönt etwas idealistisch, aber im Kontext einer pädagogischen Grundhaltung scheint mir der Begriff der Inklusion ein sehr interessanter Ansatz zu sein. Er nimmt die Kinder und Jugendlichen, unabhängig von der Dauer ihrer örtlichen Wohnsitznahme, an ihrem Selbstwertgefühl und ihrem Potential, zusammen eine bessere Zukunft zu schaffen. So erweist sich das Gespräch in Copacabana auch als Ansatzpunkt, sich neu und anders mit der Flüchtlingswelle in Europa auseinanderzusetzen. Vorausgesetzt, dass man anerkennt, dass es nur eine Welt gibt, und dass wir alle Menschen sind und dass demzufolge Menschenrechte für alle gelten, wo immer wir früher geboren wurden. Ein weites Feld, gerade heutzutage, leider...

© Nikolaus Wyss

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