Auf Besuch
bei der Escuela Normal Superior Maria Auxiliadora de Copacabana in der Nähe von Medellin. Ich werde von Gloria Herrera empfangen. Später gesellt
sich noch die energische Sor Sara
hinzu, die Direktorin. Es gibt Fruchtsalat und einen angeregten
Gedankenaustausch.
Die
schulische Situation in Kolumbien ist gemäss dieser Frauen geprägt von einem
dramatischen Stadt-Land-Gefälle. Viele Landstriche sind kriegsbedingt
vernachlässigt worden. Ganze Familien wurden vertrieben, massakriert,
auseinandergerissen. An einen normalen Schulunterricht war während Jahren
nicht zu denken. Nur die wagemutigsten Lehrer getrauten sich, ihren Fuss in
solche Gegenden zu setzen.
Viele
Menschen wurden so über die Jahre zu Flüchtlingen im eigenen Land. Den Bedrohungen und der Verfolgung in der angestammten Umgebung entflohen, versuchten sie, in einem anderen
Departement, an einem fremden Ort, in einer fremden Stadt Fuss zu fassen. Sie
bekamen den Status von Binnen-Migranten, gelten aber trotz gewisser
Privilegien, die ihnen von Staates wegen als Opfer zugestanden werden, als die
unerwünschten, weil entwurzelten, verrohten und ungebildeten Bürger des Landes.
Sie tun sich oft schwer damit, sich anderswo zurecht zu finden. Dieses
Unwohlgefühl teilen sie übrigens mit den Alteingesessenen, die sich durch die
Neuzuzüger bedroht sehen. Die hohe Kriminalität in den Städten wird meistens
mit der Migranten-Invasion begründet.
Und hier
höre ich im Gespräch zum ersten Mal einen Begriff, der konsequent an die Stelle
von Integration gesetzt wird: er heisst Inklusion. Während für meine
Gesprächpartnerinnen das Wort Integration immer auch ein Machtgefälle zum
Ausdruck bringt, dass nämlich ein alteingesessener Kulturkreis von
Neuzugezogenen verlangt, sich der neuen Umgebung anzupassen, bringt der Begriff
der Inklusion zum Ausdruck, dass dieser Prozess des Einwachsens in neue
Lebensumstände stets Anstrengungen von beiden Seiten erfordert und Konsequenzen
für beide Seiten zur Folge hat. Es gibt nur ein Kolumbien und demzufolge gemäss der
Verfassungs- und Menschenrechte für unbescholtene Bürger dieselbe
Daseinsberechtigung für alle. Und wenn im
Verlauf einer violenten Historie Mitbürger verloren gegangen sind, so
liegt es nicht nur an diesen, sich ins Gesamtsystem wieder einzufügen. Es liegt
auch an den anderen, diesen Hand zu bieten und sich um diese verlorenen Söhne und Töchter zu kümmern, das
eigene Herz zu öffnen, die Bereitschaft, einen neuen Kontext zu schaffen, wo alle ihre Rechte und Pflichten gleichermassen ausüben können.
© Nikolaus Wyss
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