Dienstag, 24. Januar 2017

Verkehrsstau



Die Behauptung ist wohl kaum übertrieben, dass hier in Bogota mindestens die Hälfte aller Verkehrsstaus durch unvermitteltes Anhalten von Verkehrsteilnehmern auf offener Strecke verursacht wird. Busse und Taxis halten mitten auf der Strasse, um einen Passagier aufzulesen, der ihm zugewinkt hat. Oder jemand wartet mit seinem Offroader nicht gerade nahe am Strassenrand, bis die Gattin mit einem riesengrossen Blumenstrauss oder der Gatte mit einem Harass Limonade aus einem Geschäft tritt. Camions laden aus, wo es ihnen gerade passt, und für Pizza-Kuriere ist es wichtiger, das Essen warm abzuliefern als zuerst einen günstigen Standplatz auszukundschaften.
Die übrigen Verkehrteilnehmer versuchen mit Blick auf  Rückspiegel und Kühlerhaube das Hindernis zu umzirkeln und hupen kräftig, was allerdings beim Wartenden scheinbar keinerlei Schuldgefühle auslöst. Schliesslich kann er davon ausgehen, dass in den nächsten fünf Sekunden ein anderer wegen eines ebenso dringenden Vorhabens mitten auf der Strasse anhalten wird und dann genau dieses Recht beansprucht, das ihm die jetzt Hupenden abspenstig machen wollen.
So wälzt sich der Verkehr auf weniger Spuren, als ihm eigentlich zugedacht sind, voran, schafft unverhoffte Lücken und bleibt doch meistens irgendwo stehen. Alle beklagen sich über die mangelnde Verkehrsdisziplin, sind aber selber ebensosehr Verursacher der Staus. 
Es ist genauso wie vor 46 Jahren, als ich zum ersten Mal in Bogota lebte. Während sich sonst vieles wandelte in diesem Land und kaum mehr vergleichbar ist mit damals, die Verkehrsattitude ist gleich beblieben. Die Strassen wucherten zwar in alle Richtungen, und damit einher wucherte auch das dringende Bedürfnis, dort anzuhalten, wo es einem gerade passt. 
Die Polizei? – Die ist mir in diesem Kontext noch gar nie aufgefallen. Habe ich sie übersehen, oder übersieht sie selber geflissentlich diese Übertretungen? – Vielleicht aber sind das gar keine Übertretungen, vielleicht gehören sie zur hiesigen Volkskultur wie die lateinamerikanischen Rhythmen und die gastreibenden Bohnen auf dem Mittagstisch.


© Nikolaus Wyss

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