Montag, 9. Januar 2017

Der Migros-Sack



In Studenten-Zeiten lebte ich mit sehr ausgeprägten, eigenwilligen Menschen zusammen. In unserer WG schien die ganze Welt zusammenzukommen, vom Vertreter der chinesischen Medizin bis zum Laufsteg-Model. 

Franz, der Künstler unter uns, spezialisierte sich aufs Fertigen von Tomaten-Konfitüre, die niemand mochte, und er verwandelte Wanderkarten in 3D-Tableaux. Sein Meisterstück jedoch war ein mit Farbstiften auf Packpapier schraffierter, riesengrosser Migros-Sack. Irgendwie erinnerte mich das Bild an Andy Warhols Kunstverständnis, Alltag auf Leinwand zu bannen. Jedenfalls verknallte ich mich in dieses Bild und kaufte es ihm für das wenige Geld, das ich damals besass, ab.

Als die WG aufgelöst und das Haus abgerissen wurde, verliefen sich unsere Wege. Nur noch ab und zu drangen Nachrichten von Franz an mein Ohr. Ich vernahm einmal, dass er auf Tennisplätzen die weissen Striche nachgräde, und jemand anderer berichtete mir, dass er sich auf mathematisch-physikalische Probleme verlegt habe und die Kunst hätte sausen lassen. Doch der Migros-Sack begleitete mich auf allen Stationen meines bisherigen Lebens.

Als ich wegen meiner Übersiedlung nach Übersee meine Schlieremer Wohnung auflöste, versuchte ich Franz zu kontaktieren, um zu fragen, was ich wohl mit diesem Bild anstellen solle, oder ob er es am besten zurücknehmen und es vielleicht jemand anderem vermachen könnte. Seine Antwort liess nicht lange auf sich warten: Kein Platz dafür, er verstehe sich auch nicht mehr als Künstler, sondern als Wissenschaftler. Er kaufe mir das Bild gern zurück, würde aber als neuer Besitzer mich sofort beauftragen, es der Kehrichtabfuhr zu übergeben. Es habe schliesslich seinen Zweck, mich zu erfreuen, erfüllt. Jetzt sei die Zeit gekommen, davon Abschied zu nehmen, so wie ich auch Abschied nehme von meinem bisherigen Umfeld.

Ich war geschockt und fühlte mich unter Druck. Der schon vorhandene Abschiedsschmerz schoss noch um ein Vielfaches an. Ich schrieb ihm kleinmütig zurück, ich wolle kein Geld, versuche aber so zu handeln wie von ihm aufgetragen.

Als wenige Tage später der Aufräumer kam und meine Dinge aus der Wohnung entsorgte, stiess er auch auf diesen Migros-Sack, den er lange betrachtete und meinte, so was schmeisse man nicht weg. Er liess mich zwar nicht wissen, was er damit vorhatte, aber er vermittelte mir ein Fünkchen Hoffnung, dass der Wunsch des neuen Besitzers nicht in Erfüllung gehen werde. 

© Nikolaus Wyss

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