Montag, 23. Januar 2017

Jonatan Misterioso


Einer der paar Jonatans, an welche ich mich kaum mehr erinnere

Seit meiner Ankunft vor ein paar Wochen bekomme ich hier in Bogota täglich zwei bis drei Anrufe von Leuten, die wissen wollen, wo Jonatan stecke.
Jonatan? Was für ein Jonatan? Kenne ich überhaupt einen? Wie kommen die darauf, dass ich einen Jonatan kennen müsste? Habe ich irgendwo Spuren hinterlassen, die zu einer solchen Annahme veranlassen? Am Anfang war ich der Überzeugung, keinen einzigen Jonatan zu kennen. Erst nach dem zwölften Anruf fielen mir ein paar Jonatans ein, denen ich bei früheren Besuchen Kolumbiens begegnet sein mochte. Mit keinem mehr bin ich noch in Kontakt, keiner überlebte in meinem Adressbüchlein.
Da war doch ein Jonatan in Cucuta, der Stadt nahe der venezolanischen Grenze. Er half mir die Stadt zu entdecken und schärfte mir auch ein, wo ich zu gehen und welche Strassen ich zu meiden habe. Ich wollte ihn zum Dank für seine Hilfe zum Abendessen einladen. Erschienen ist er jedoch nicht. Am übernächsten Tag übergab man mir an der Reception ein zerknülltes Papier. Jonatan entschuldigte sich darin. Er sei nicht zum Essen erschienen, weil er kurz vor unserer Abmachung in einer Bar gelandet sei und über den Durst getrunken habe. Am frühen Morgen des folgenden Tages hätte ihn die Polizei in einem Strassengraben entdeckt.
Wenn ich mich recht entsinne, begleitete mich ein anderer Jonatan in den Zoo von Barranquilla. Sein Vater war Dächlikappen-Produzent und bediente mit seinen Produkten die Fan-Gemeinden verschiedener Fussballclubs. Ich fragte Jonatan, ob ich mir aus seiner elterlichen Produktion auch eine Gorra, so heisst hier eine solche Kappe, erstehen könne. Er versprach, mir das nächste Mal eine mitzubringen. Ich weiss nicht mehr warum, doch es kam nicht dazu.
Ein weiterer, den ich jetzt Jonatan nenne, bei dem ich aber beim besten Willen nicht mehr weiss, ob er wirklich so heisst, war ein junger Assistenzarzt aus Santa Marta. Wir waren seit geraumer Zeit in Email-Kontakt, und als er erfuhr, dass ich für ein paar Tage im benachbarten Taganga an der karibischen Küste Urlaub machte, entschloss er sich, mich an einem seiner freien Nachmittage persönlich kennenzulernen. Die Nachbarin des Hauses, in welchem ich wohnen durfte, beobachtete diesen Besuch und meldete ihn sofort den Hausbesitzern in Bogotá. Diese verboten mir darauf in einem dramatisch verlaufenden Telefongespräch, in Zukunft Besuche in ihrem Hause zu empfangen. Es sei dort schon einmal einer umgebracht worden. Dieses Verbot ohne Kenntnisse der genaueren Umstände verletzte mich in meinem Stolz. Ich entschloss mich, noch gleichentags Taganga in Gesellschaft dieses Doktors zu verlassen in der festen Absicht, dorthin nie mehr einen Fuss zu setzen.
Wie wahrscheinlich ist es, dass die unermüdlichen Anrufer einen dieser Jonatans meinen.
Doch da gab es noch einen, der durchaus in den Fokus von Ermittlern geraten sein könnte. Ein Architekturstudent mit blau gefärbten Haarsträhnen. Dem Marijuana-Konsum war er nicht abhold. Wegen seiner sexuellen Orientierung hatte er sich mit seinen Eltern überworfen, worauf sie jegliche Geldüberweisung an ihn stoppten. Jonatan musste sein Studium unterbrechen. Er lebte in einer Wohngemeinschaft ganz im Norden der Stadt, doch der Hausbesitzer nahm ihm den Schlüssel weg und liess ihn nicht mehr rein, weil dieser ihm die Miete schuldete. Jonatan bat darauf bei mir um Unterschlupf. Ein sympathischer aber wilder Bursche, der mir mit der Zeit etwas happig wurde. Ich war jedenfalls froh, als er sich Tage später entschloss, zu seiner Tante nach Medellin zu fahren. Ich schenkte ihm noch das Busbillett, seither ist er aus meinem Gesichtsfeld verschwunden.
Doch, das muss der sein. Was wohl aus ihm geworden ist? Wieso suchen sie ihn? Hat er etwas angestellt, etwas unterschlagen? Müsste ich mich um ihn kümmern und mich auf die Suche machen? Ihn allenfalls vor seinen Häschern warnen?
Nein, einen Jonatan kenne ich wohl besser nicht.


© Nikolaus Wyss

Weitere Beiträge auf einen Click 

 

  

Keine Kommentare: