Donnerstag, 25. April 2019

Stägeli uuf, Stägeli ab juhee (Tagebuch 5)

Boteros Sohn Pedrito, der mit vier Jahren bei einem Autounfall ums Leben kam. Der Künstler wählte während acht Monaten kein anderes Sujet mehr als seinen verunglückten Sohn, hier in Unifrom auf Pferd. Aus dem Fenster des 1. Stocks des Hauses rechts unten winkt übrigens ohnmächtig der Künstler um Hilfe. Bei diesem Autounfall verlor er selber beinahe seine rechte Hand...

15. April
Hinter das Geheimnis der grotesk-fetten, rubens-ähnlichen Leiber liess mich auch der Dokumentarfilm über den kolumbianischen Künstler Fernando Botero nicht blicken. Er spricht im Streifen zwar vom Volumen, das er in reinster Form im Rinascimento und dort im Speziellen in den Werken von Piero della Francesca für sich entdeckt habe, doch erklärt dies noch nicht viel. Vielleicht eher noch die Diskussion zum Schluss des Films, wo es um das Stilbildende und das Alleinstellungsmerkmal eines Künstlers geht. Was macht denn einen guten Künstler aus? - Botero: dessen Kunst soll wiedererkennbar, unterscheidbar und deshalb einmalig sein
Dieser Anspruch ist ihm vollends gelungen. Ich liebe sein stets auf den ersten Blick erkennbares Werk, das witzig und anklägerisch, demaskierend und liebevoll zugleich ist. Botero ist für mich auch deshalb von Bedeutung, weil er wohl einer der ersten Künstler Kolumbiens ist, der nicht etwas nachempfindet, was anderswo erfunden worden ist, wie die vielen akademisierenden kolumbianischen "Gaugins", "van Goghs" und "Cezannes", die hier gerne in angesehenen Sammlungen herumhängen. Botero ist vielmehr seit Anbeginn ein eigenständiger Erfinder seines eigenen Stils, der von Medellin aus in die ganze Welt hinausstrahlt und ein abundantes und leicht verrücktes Kolumbien zeigt, wie wir es gerne sehen wollen. Er malt Charakterfiguren, die ihre Äquivalenz in der Literatur eines Gabriel García Márquez wiederfinden. Beide Lebenswerke schafften es, einen legitimen Platz im Weltkulturerbe zu beanspruchen. 
Botero zeigt sich ausserdem von einer Grösszügigkeit sondergleichen: er stiftete einen Grossteil seiner gewichtigen Werke dem Museo de Antioquia in Medellin und dem Museo Botero hier in Bogotá, wobei sich seine Schenkungen nicht nur auf eigene Werke beschränken sondern auch Bilder und Skulpturen von Miro, Picasso, Monet, Beckmann, Henry Moore, Max Ernst, Salvator Dalí und vielen anderen umfassen, woraus sich nebenbei leicht schliessen lässt, dass der Künstler zu ansehnlich viel Geld gekommen sein muss in seinem eigenen Leben.

20. April
Meine Gotte wäre heute 111 Jahre alt geworden. Sie starb mit 103. Das letzte Mal, als ich sie besuchte, lag sie zwar im Pflegeheim, konnte aber noch eine ganze Reihe von Goethe-Gedichten auswendig rezitieren. Auf meine Frage, wie es ihr denn gehe, antwortete sie: immer abwärts, immer abwärts. Dabei wollte sie mit dem Zeigefinger nach unten deuten. Doch ihre durch Arthrose beschädigten Finger zeigten seitwärts und keineswegs nach unten. Das beeindruckte mich tief und gab ihrer Aussage eine heitere Note. 

21. April (Ostern)
Ist sie jetzt tot oder doch nicht? Vor über einem Jahr gestorben, erhält die Künstlerin Marianne Eigenheer zu ihrem gestrigen Geburtstag auf facebook noch Dutzende von Glückwünschen für ein langes Leben. 
Mir ist ja klar, dass ich selber meinen fb-account nicht löschen kann, wenn ich tot bin. Darum geht es mir gar nicht. Ich finde es vielmehr bemerkenswert, einer virtuellen Gemeinschaft von Toten und Lebenden anzugehören. Das hat etwas Österliches. Jesus starb zwar am Kreuz, auferstand aber schon am 3. Tag. Seither ist er unter uns und begleitet uns, so wie es eben viele tote facebook-Freunde auch tun, indem sie noch unter uns weilen und unsere Glückwünsche empfangen... 

23. April (Osterdienstag)
Ich schrieb vor 29 Jahren am Osterdienstag in mein Tagebuch: Jesus, der auch für mich, der ich immer dicker werde und die Hosen kaum mehr zubringe, am Kreuz gestorben und anschliessend auferstanden ist: brächte der Ruhe in mein Leben? Oder wäre es vielleicht doch eher Buddha? 

25. April
Noch ein österlicher Nachtrag. Johan erzählt mir, dass seine Mutter ihm als Bub untersagt habe, an Karfreitag schwimmen zu gehen. Solche Vergnügungen würden dem Todestag Christi nicht gerecht. Er tat es trotzdem, und sie entdeckte es, weil er mit aufgequollenen Fingerkuppen heimkehrte. Sie kündigte darauf folgendes Verfahren an: weil Semana Santa sei und sie sich nicht versündigen wolle, werde sie die Strafe aufschieben bis am darauffolgenden Ostermontag. 
Als dann dieser Tag anbrach, schlug sie ihren Sohn windelweich. 
  

©Nikolaus Wyss 

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Samstag, 13. April 2019

Stägeli uuf, Stägeli ab juhee (Tagebuch 4)



31. März
Während des Sprungs aufs Buffet kommt ihr in den Sinn, dass sie das eigentlich nicht darf. Noch bevor sie landet, legt sie die Ohren flach, während ich vom Tisch aufspringe, drohende Laute ausstosse und in die Hände klatsche. Sofort macht sie sich aus dem Staub, versteckt sich unerreichbar unter dem Sofa und beginnt mit ausgedehnter Körperpflege, als ob diese schon von langer Hand geplant gewesen wäre. Und ich denke, sie denkt sich, dann warten wir halt, bis der alte Herr zu Bette geht...

4. April
Der Mars steht mir vor dem Licht. Schier hätte ich einen Verleger gehabt, der bereit gewesen wäre, eine Auswahl meiner Blogs in Buchform zu veröffentlichen. Unter der Bedingung allerdings (die ich übrigens jedem hoffnungsvollen Schreibtalent auch gestellt hätte): zuerst etwas Grosses, ein Roman, ein zusammenhängender Text. Ich schickte ihm darauf das Fragment meiner Mars-Reise, einer fiktionalen Beschreibung meines Fluges dorthin in Begleitung von John, eines südafrikanischen Charmebolzen mit indischen Anteilen im Blut, mit Michelle, einer chinesischen Krankenschwester aus Malaysia, und mit Pedro aus Kolumbien (claro), der autistische Züge aufweist und als einziger an Bord etwas von Weltraumreisen versteht. Im Manuskript übrigens bin ich der Repräsentant der Alten Welt.
Dieser Reisebericht kam vor Jahren schon ins Stocken, weil mir die Worte fehlten und auch der Mut, den Geschlechtsakt im schwerelosen Zustand zu beschreiben, der zwischen John und Michelle hätte vollzogen werden sollen. Diese Hürde habe ich bislang noch nicht überwunden, so dass die Chance allmählich schwindet, je einmal ein paar meiner Blogs in Papierform zu sehen. Sei's drum.

9. April
Wie habe ich mich damals überhaupt gewaschen, in den 50er Jahren? Dusche gab's bei uns keine, und das Bad wurde in der Regel nur samstags eingelassen. Was in der übrigen Zeit? Haare waschen? Katzenwäsche? Mit dem Waschlappen halt? - Mir bleibt ein Gespräch unter Erwachsenen in Erinnerung, die über einen Lehrer meinten: Der trägt jeden Tag ein frisches Hemd und riecht nach Parfum. Der muss vom anderen Ufer sein. 
Und dann, mit siebzehn, wohnte ich ein paar Monate bei der befreundeten Arztfamilie V. Sie gewährte mir Asyl, während meine Mutter eine Weltreise unternahm. In deren Haus gab es eine Dusche, die ich regelmässig benutzen durfte. Eines Tages merkte ich, dass der wohlgepflegte Herr des Hauses mir beim Duschen offenbar schon eine ganze Weile zugeschaut hat. Ich genierte mich, er aber meinte nur: vergiss nicht, auch deine Vorhaut zu reinigen.
Bis zu diesem Zeitpunkt wusste ich nicht einmal, dass ich eine habe, und schon gar nicht, wie dieses Stück heisst. Er aber verliess das Badezimmer erhobenen Hauptes, wahrscheinlich stolz auf sich selbst, sich an mir nicht vergriffen zu haben.

11. April
Auskundschaften aller Kaffeehäuser in Fussdistanz zu unserem Haus. Heute stattete ich der Pasteleria Helena de Lombana einen Besuch ab, hier in der Nähe an einer ruhigen Seitenstrasse gelegen. Bedienung freundlich, Gipfeli frisch, café latte anständig im Aroma, appetitliche Auslage. Doch schwierig zu erreichen, weil der Zugangsweg als Parkplatz benutzt wird, dazu allzu schmale und etwas wackelige Sitzgelegenheiten, kleine Tische. Was mir aber wirklich auf den Wecker ging, war der Sound. Schlecht eingestellte Lautsprecher stiessen einzig brummelige Basstöne hervor, die Melodie blieb kaum erkennbar. Dass die das nicht merken? Nicht merken wollen? Oder: es ist ihnen egal. Hauptsache, es tönt. - In mir läuft wieder einmal der ganze Film der Ignoranz ab, welchem ich hier in diesem Land begegne: wenn es dunkel wird, schalten die Autofahrer ihre Abblendlichter nicht wie selbstverständlich ein und lassen auch den Blinker blinken, wenn sie gar nicht abzubiegen gedenken. Im allgemeinen gilt: den anderen und seine Bedürfnisse übersehen, so lange es geht. Durchgänge versperren, auf dem Parkplatz den Motor stundenlang laufen lassen, geflissentlich Fussgänger ignorieren, an der Kasse small talken, auch wenn sich dahinter schon eine eindrücklich grosse Warteschlange gebildet hat... Und sollte sich einer doch bemerkbar machen und reklamieren, so tut man überrascht: Que pena con usted - oh welch Ungemach für Sie. 
Doch die Mehrheit verzichtet, ihrer Ungeduld lautstark Ausdruck zu verleihen, sie nimmt die Umstände schicksalsergeben hin und wartet geduldig, bis sich wieder, ohne Intervention, eine Lücke auftut. 
Ich verliess die Pasteleria kommentarlos und ohne Wunsch, dorthin zurückzukehren. Que pena. Oder so: ich werde mich in Zukunft zuerst in dieses Kaffeehaus hineinhören und entscheide erst dann, ob ich bleiben will.

12. April
Angeregt durch die Lektüre von Gedichten, die mir Miguel-Angel jeden Mittwoch vorbeibringt, diese Woche waren es welche des Chilenen Jorge Teillier, bin ich gestern Abend in mich gegangen und habe das erste Mal seit 50 Jahren etwas aufs Papier gebracht, das zumindest den Anspruch auf Poesie hat, auch wenn ich nicht weiss, ob dieser gerechtfertigt ist. Egal. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an eine Begegnung mit einem der damaligen Literaturpäpste Zürichs, nein, nicht mit Emil Staiger, sondern mit Werner Weber, der seinerzeit das Feuilleton der NZZ beherrschte und samstags auf der Frontseite der Zeitung mit den Initialen "ww" das Sagen hatte. Eine Autorität also. Weber schickte ich seinerzeit ein paar jugendliche Gedichte zu und bat ihn um seine Beurteilung. Zu meiner Überraschung schrieb er zurück und lud mich zu einer Unterredung in die Redaktion an der Falkenstrasse ein. Wir gingen jedes einzelne Gedicht durch, er machte seine Kommentare und ermutigte mich, fortzufahren, was ich dann sein liess.
Und jetzt dies:

Mein Haus 
Den Stimmen leih ich mein Haus 
Wem sie gehören
kümmert mich nicht
Was sie erzählen
entgeht mir. Ich hör nur
Geplapper, Geplauder und Lachen
Ich hör auch
- manchmal -
unsicheres Erwägen,
zähes Ringen um Worte,
als ob ichs wär,
der nicht weiss,
was es braucht,
die Stimmung zu schildern
die mich umhüllt hier
wie ein seidenes Tuch.
Alleine im Dachstock.
Nahe bei mir
und bei den andern.

13. April 
Als ich heute die Bäckerei verliess, überraschte mich vor der Tür ein Stadtstreicher, von denen es hier ja unzählige gibt. Sie schlafen unter Brücken oder in Hauseingängen, wühlen im Abfall und betteln einen an. Ein Stadtstreicher also, dem ein unausstehlicher Geruch vorausging und mich veranlasste, mich mit ein paar Pesos sofort aus seinem Dunstkreis freizukaufen. Dieser Stadtstreicher aber richtete nach der Geldübergabe ein paar Worte an mich auf Englisch, mit einem guten Englisch notabene, einem Englisch, das dem meinen eindeutig überlegen war. Hingerissen zwischen Neugier und Abscheu obsiegte darauf die Neugier, und ich hörte, aus halb erträglicher Distanz, seinen Ausführungen zu. Er habe Englisch unterrichtet, und er erklärte mir seine Methode, bei welcher man dreimal schneller die Sprache erlerne als beim üblichen Büffeln. Dabei wedelte er mit einem Zeitungsfetzen vor meinen Augen herum. Die Methode sollte mir natürlich sofort einleuchten, und ich kam mir dumm vor, sie nicht zu begreifen. Mir kam aber in diesem Augenblick ein Schreiben meiner Cousine Elisabeth in den Sinn, welche mir unter Bezugnahme auf die Beobachtung, dass beim Fortschreiten des Alterns die Zeit immer kürzer und schneller werde, vor ein paar Tagen schrieb: «Ein Bekannter, der sich nach einer sehr früh beendeten, brillianten Anwaltskarriere zunehmend als Sozialfall durch Berns Altstadtgassen bewegte, erklärte mir vor etwa 30 Jahren, weshalb wir das Gefühl haben, die Zeit rase immer schneller: Weil für ein einjähriges Kind ein Jahr 100% seines Lebens ist, während es z.B. für einen 70jährigen nur noch 1,4% seines Lebens ist.»
Wie alt mag "mein" Stadtstreicher hier vor der Bäckerei sein? Ich vergass ihn zu fragen, wie schnell für ihn seine Zeit schon voranschreite (oder steht sie für ihn doch eher ohnmächtig still? - Jeden Tag dasselbe. Betteln um ein paar Münzen), und was er mit seiner übrig gebliebenen Zeit noch anzustellen gedenke. Bin aber froh, dass diese Fragen meinen Mund nicht verlassen haben. Sie wären wohl als verletzend und erniedrigend empfunden worden. 

©Nikolaus Wyss

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Freitag, 5. April 2019

Ein Osterbrief

Eine Art freudebringender Osterhase

Meine Lieben
Soll ich jetzt ins Lied meiner Grossmutter einstimmen, ins Lied auch meiner Onkeln und Tanten, meiner Mutter und meines Vaters, die dereinst sangen, wie schnell doch die Zeit vergeht? Es dünkte sie alle, sie rase schneller mit jedem Jahr.
Ich kann nicht abstreiten, dass auch ich dieses Phänomen Jahr für Jahr heftiger empfinde. Feierte ich doch im Februar bei Vollmondschein und Salsa-Rhythmen grad noch meinen 70. Geburtstag, und jetzt ist der März auch schon vorbei.. Wo soll das bloss enden? 
Eine andere Beobachtung hingegen wiegt die Ohnmacht gegenüber der Zeit fast auf: Mit Amama, meiner Grossmutter, pflegten wir jeweils ein Fahri zu machen durch die prachtvolle Frühlingsblust im Emmental. Wir kehrten zu einer schmackhaften Forelle blau in einem der vielen Bären auf der Strecke ein, wir betrachteten andächtig die geraniengeschmückten Bauernhäusern, und wir suchten auf einem abgelegenen Friedhof den Grabstein einer längst verstorbenen Verwandten - und alles, was uns auf diesen Ausflügen widerfuhr, kommentierte sie dankbar mit den Worten: Dass ich das noch erleben darf! 
Auch bei mir herrscht dieses Gefühl vor. Mit jedem Tag stärker. Dass ich bei vollem Bewusstsein und bei unbeeinträchtigter Wahrnehmung dieses Kolumbien noch erleben darf. Dieses Kolumbien, das ich vor bald 50 Jahren schon einmal betrat mit dem Gefühl, jetzt wirklich in der Fremde zu sein. Das weiche, gesüsste Brot war einfach nur schrecklich, der Kaffee ungeniessbar, die Post brauchte 14 Tage, und je länger ich dort verweilte, umso klarer wurde für mich, dass ich in diesem Land nichts verloren habe. Reichlich deprimiert kehrte ich zwei Jahre später ins Heimatland zurück und hatte doch das Gefühl, dort etwas unerledigt hinterlassen zu haben. Es war die Niederlage meines Lebens.
Und jetzt, wieder hier, lebe ich das, was ich vor 50 Jahren vergeblich angestrebt hatte.  Ich habe ein Haus, bin sorglos und gesund, bin umgeben von Freunden und Gästen. Schade nur, dass die Zeit so rast. Die aktuelle Übung besteht darin, den Augenblick zu geniessen, mir jeden Tag dankbar sagen zu dürfen, dass ich das noch erleben darf - in der vagen Hoffnung, damit dem Rasen der Zeit einen kleinen Dämpfer zu versetzen.
Frohe Ostern! 

© Nikolaus Wyss

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