Freitag, 2. November 2018

Exot im eigenen Land oder: Wieso nur hast du die Schweiz verlassen, Nikolaus Wyss?

Viele Seelen in einer Brust

Wieso hast du die Schweiz verlassen?
Ich habe sie nicht verlassen. Ich habe sie mir lediglich grenzüberschreitend erweitert, befinde mich sozusagen im von der Schweiz leider noch nicht anerkannten Kanton Kolumbien. Hier gibt es Käsereien wie in der Schweiz. Die grösste heisst Alpina. Sie ist eine Schweizer Gründung. Klar. Und den besten Schüblig schweiz und breit kaufe ich um die Ecke an der Carrera 13 beim Metzger Koller, einem vor über 50 Jahren hierher ausgewanderten Appenzeller.
Die hiesige dunkle Schokolade ist mindestens so gut wie die von Cailler. Die Kakaobohnen kommen eh von hier. Und ich brate mir auch Rösti mit Speckwürfeli. Kartoffeln sind hier, im Gegensatz zur Schweiz, seit Tausenden von Jahren einheimisches Gewächs.
Unsere Schweizer Rohstofffirma Glencore baut hier zu unserem volkswirtschaftlichen Nutzen Naturprodukte ab. Als guter Schweizer bin ich es mir auch gewöhnt, die Augen zu verschliessen vor den Begleitumständen dieses Raubbaus. Was gehen mich die korrupten Methoden der Landausbeutung an, die Hinterlassung von Umweltschäden und Menschenrechtsverletzungen? Hauptsache, uns geht es gut dabei, und wir können uns den Kaffee leisten, der von hier stammt. In der Winterzeit kommen aus Kolumbien noch die frischen Rosen hinzu, die wir unseren Liebsten in der Schweiz verschenken und deren mit Gift kontaminierten, flächendeckenden Gewächshäuser man beim Anflug auf den Flughafen El Dorado ansichtig wird. Ich befinde mich sozusagen an der Quelle unseres helvetischen Wohlstandes.
Ich gucke mir auch hier die Tagesschau, Aeschbacher (schade, dass er aufhören musste), Schawinski (schade, dass er aufhören musste) und die Matchs von Roger Federer an, träume auf Schwiizertüütsch, höre das Echo der Zeit und die Jodlerin Nadja Räss und interessiere mich für die Seilbahnen zum Zürcher Zoo hinauf oder über den See. Mich regen auch in Kolumbien die sture SVP und die selbstgerechte Zürcher SP auf. Ich beteilige mich likend, diskutierend und vor allem mich ärgernd auf Facebook an vielen Themen, die in der Schweiz zur Abstimmung kommen. Nur die Hornkuh-Initiative machte mich etwas ratlos.
Früher, in der geografisch definierten Schweiz, habe ich mich nicht stärker mit dem Lokalgeschehen auseinandergesetzt, als ich es von hier aus tue. Nur sind jetzt noch ein paar neue Lebenswelten hinzugekommen, denen ich gern zusätzlich meine Aufmerksamkeit schenke, weil sie mich bereichern.
In der Schweiz konntest du dich am politischen Geschehen aktiv beteiligen. In Kolumbien aber nicht.
Die aktive Teilnahme am öffentlichen Geschehen der Schweiz ist mir gar nicht gut bekommen. Mein Versuch zum Beispiel, in der Stadt Schlieren als Parlamentarier Fuss zu fassen, endete desaströs und in kompletter Isolation. Nirgends fühlte ich mich fremder und einsamer als in meiner angeblich heimatlichen Umgebung, wo ich immerhin Steuern zahlte, Stimm- und Wahlrecht hatte und mich für die Verbesserung der Lebensqualität und der Standortvorteile einsetzen wollte. Dieses rasch wachsende Dörflein am Zürcher Stadtrand aber befand sich zu meiner Zeit, wie Agglomerationssiedlungen anderswo auch, in unseliger Geiselhaft erzkonservativer Alteingesessener, die sich wiederum im Würgegriff des Gewerbes halten liessen. Die Verdienste dieser Zwangskomplizenschaft bestanden darin, im Altersheim zwar ein Raucherstübli eingerichtet zu haben, gegen jede weitere Lebensverbesserung für die Einwohnerschaft aber zu opponieren. Sie legten sich gegen jede Temporeduktion quer und waren selbstverständlich auch gegen den Bau der Limmattalbahn. Sie waren sich nicht zu blöd, nochmals eine Abstimmung über dieses Bauprojekt zu erzwingen, nur weil ihnen das Resultat des ersten Plebiszits nicht in den Kram gepasst hatte. Bei der zweiten bekamen sie wenigstens so richtig eins aufs Dach. Nicht einmal die direkt betroffenen Gemeinden, die das erste Mal noch dagegen waren, aber vom übrigen Kanton überstimmt worden waren, sagten diesmal nein. Das hält diese Altvorderen aber nach wie vor nicht davon ab, weiterhin für ein Schlieren des 19. Jahrhunderts auf die Barrikaden zu steigen und allen weiteren Urbanisierungsversuchen mit den übelsten Unterstellungen, den fiesesten Intrigen und den fadenscheinigsten Argumenten entgegenzutreten. Leute wie ich galten als Exoten, denen man jeden guten Willen absprach und die man deswegen auch nicht ernst zu nehmen brauchte. Wenigstens brachte mir damals die reformierte Kirche, die ja mit Blick auf die Gesamtgesellschaft selbst schon über einen Exoten-Status verfügt, die Wertschätzung entgegen, die ich meinte verdienen zu dürfen. Als Kirchenpfleger war ich dort für Musikalisches verantwortlich und durfte unter anderem ein erfolgreiches Orgelfestival organisieren.
Könnte deine lächerliche Wehleidigkeit ein hinreichender Grund gewesen sein, die Schweiz zu verlassen?
Sie war wohl ein förderlicher Faktor in einem ganzen Bündel von Gründen, das mich als Ganzes bewog, in meiner eigenen Lebensgeschichte noch ein Kapitel Ausserschweiz anzuhängen. Eigentlich wollte ich, man weiss es, auf den Mars.
Jaja, das ist eine andere Geschichte. Was waren die weiteren Gründe für den Wegzug?
Günstige Umstände, wie zum Beispiel der Wechselkurs und die Veränderungen in meiner Beziehung zu meinem Partner, und – das Alter. In der Schweiz bereitet man sich von der Pensionierung an aufs Sterben vor. Spätestens dann sucht man sich eine rollstuhlgängige Wohnung, die im Notfall nicht allzu weit von einem Spital oder von einem Altersheim entfernt sein sollte. Und man pflegt, zu Recht, die Angst, einsam zu werden und wird so Mitglied im Seniorenturnverein oder im Jassklub. Mit solchen Beschäftigungen kompensiert man die schwindende gesellschaftliche Bedeutung, der man sich im Alter ausgesetzt sieht. Von den Jungen nicht mehr wahrgenommen, von den Mittelalterlichen als Belastung empfunden und von den Gleichaltrigen argwöhnisch beobachtet, befindet man sich in einem absurden Spiessrutenlauf der Missachtung und gewöhnt sich sogar daran, sein eigenes Lächeln in der S-Bahn nicht mehr erwidert zu sehen, das einem gleichsam als Brosamen noch hätte hingeworfen werden können.
Das ist zu krass. Bist du verbittert?
Überhaupt nicht verbittert, aber genug stolz, mich mit diesem Abstellgleis nicht zufriedenzugeben.
Das Gefühl des Fremdseins und des Exotentums wirst du aber auch in Kolumbien empfinden.
Klar, aber hier stimmt es mit meiner real gelebten Situation überein. Hier habe ich keinen Anspruch auf eine Rolle, die in Anerkennung, Wertschätzung oder Integration münden müsste. Hier bleibe ich logischerweise fremd und suche schon gar nicht, mich in irgendeiner Weise kolumbianisch zu geben oder mich gar zu integrieren. Hier herrscht das Gefühl vor, temporärer Gast auf dieser Erde und im Speziellen in Kolumbien sein zu dürfen. Das macht leicht, bescheiden und dankbar.
Aber macht es nicht auch etwas einsam, sich unzugehörig zu fühlen?
Die dräuende Einsamkeit älterer Menschen wie mich, die noch nicht alt genug sind fürs Pflegheim und für den Alzheimer, habe ich in der Schweiz als ätzender empfunden als hier. Das hat vermutlich mit dem Anspruch zu tun, den man an seine Umgebung stellt. Ich verstehe mittlerweile die Alten in der Schweiz, die blindwütig unmögliche Positionen einnehmen und Andersdenkende mit üblen Beschimpfungen eindecken, um überhaupt wahrgenommen zu werden. Das hat etwas Trötzeliges. Wenn man mit der eigenen Geburt schon zu spät dran war, um die Schweiz im Zweiten Weltkrieg verteidigt haben zu dürfen, so besteht offenbar für unsere Generation gleichwohl das dringende Bedürfnis, den eigenen Nachkommen zu zeigen, dass man während seines eigenen Lebens für die Heimat einen kämpferischen Einsatz geleistet hat. So hinterlässt meine Generation eine Schweiz, die geprägt ist von Eigenbrötlertum – zum Beispiel mit der Selbstbestimmungs-Initiative – und Abschottung. Auslöffeln müssen diese Suppe dann die Jüngeren, die sich an die Veränderungen unseres Landes längst schon gewöhnen konnten und keine grosse Sehnsucht nach den 1970er- und 1980er-Jahren empfinden. Eine fatale Art der Hinterlassenschaft, die Gott sei Dank nicht immer von der abstimmenden Mehrheit geteilt wird.
Und vor der Gefahr der Vereinsamung bist du in Kolumbien sicher?
Hier in Kolumbien bin ich ein Exot mit Ausländerstatus. Niemand kann hier verstehen, dass einer ein Sehnsuchtsland wie die Schweiz freiwillig verlässt, um sich in einem Drittweltland mit all seinen ungelösten Problemen niederzulassen. Diese Frage interessiert offenbar die Hiesigen. Und ich sage ihnen dann, man könne überall auf dieser Welt sterben. Dafür brauche man die paradiesisch anmutende Schweiz nicht, denn fürs ewige Paradies bleibe nach dem Abgang noch Zeit genug. Hier auf Erden heisse die Devise lebendig sein. Die Schweiz ist im Vergleich zu Kolumbien doch ziemlich unlebendig, abgesehen von den alten Schreihälsen und blocherschen Wiederkäuern.
Die Leute in Kolumbien schütteln also den Kopf ob deiner Ansiedlung?
Es stört sie, weil sie selbst ja so gern ihr Land verlassen würden, um anderswo ein besseres Leben zu führen. Kolumbien bietet denjenigen, die nicht in die richtige Familie hineingeboren wurden und nicht über das Geld und die notwendigen Verbindungen verfügen, wenig Chancen auf die Realisierung eigener beruflicher Ambitionen. Das betrifft die überwiegende Mehrheit hier. Vielleicht schafft es der eine oder die andere noch zu einem Studium. Später aber schrammen die meisten von ihnen ihr Leben lang als toderos, als solche, die überall anpacken müssen, wo es nach Arbeit aussieht, nahe am Mindestlohn vorbei.
Das sind triste Aussichten. Und du hältst solche Zustände aus?
Mir kommt hier in diesem Land oft der Begriff der Würde in den Sinn. Wie geht jeder einzelne damit um und verarbeitet es für sich selbst, nicht ganz das Leben führen zu können, das man für sich selbst für erstrebenswert hielte und jeden Tag als Soap-Opera im Fernsehen abrufen kann? Gibt es eine komplizenhafte Solidarität all jener, denen ein ähnliches Schicksal widerfährt? Wie sehr legitimiert ein nicht erwünschter Lebenslauf ungesetzliches Verhalten und unmoralisches Handeln? Vielleicht lassen sich mit dem Begriff der Würde und des Selbstbildes der kolumbianischen Gesellschaft einige Vorgänge der jüngeren Geschichte des Landes erklären.
Wie das?
Mir fällt zum Beispiel auf, dass die meisten Kolumbianer zwar stolz sind auf ihr Land, gleichzeitig aber sehr schlecht über ihresgleichen reden. Der Taxichauffeur, die Putzfrau, der Handwerker, die Sekretärin, der Ladenbesitzer, der Wachmann, die Zahnärztin: Alle bringen riesige Vorbehalte gegenüber ihren Landsleuten an. Diese seien ungebildet, korrupt, unzuverlässig, rassistisch, es fehle ihnen an der nötigen Erziehung und so fort – um sich aber davon sofort auszunehmen und abzusetzen. Ich könne von Glück reden, ausgerechnet mit ihnen in Kontakt zu stehen, alle anderen seien nämlich ladrones, Diebe also, die mich nur abzocken würden.
Und was folgerst du daraus?
Dass hier eine grosse Ambivalenz herrscht.
Ist das alles?
Wenn mir solche Spannungen vor der eigenen Haustür auf dem Servierbrett präsentiert werden, so interessiert mich das als alten Ethnologen, weil sie herausfordernd sind und nach Erklärungen rufen, die ich noch nicht habe. Herausfordernder jedenfalls, als wenn die SBB wieder einmal auf der Strecke Olten–Bern stecken bleibt. Wobei auch dort eine Ambivalenz, wenn auch anderer Art, auszumachen ist. Nämlich der Anspruch, einerseits an einem perfekten System teilzuhaben, andrerseits die Überforderung, die den Teilnehmenden aus einem solchen System erwächst.

© Nikolaus Wyss

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