Viele Seelen in einer Brust |
Wieso hast du die Schweiz verlassen?
Ich habe sie nicht verlassen. Ich
habe sie mir lediglich grenzüberschreitend erweitert, befinde mich sozusagen im
von der Schweiz leider noch nicht anerkannten Kanton Kolumbien. Hier gibt es Käsereien wie in der Schweiz. Die
grösste heisst Alpina. Sie ist eine Schweizer Gründung. Klar. Und den
besten Schüblig schweiz und breit kaufe ich um die Ecke an der Carrera 13 beim Metzger Koller, einem
vor über 50 Jahren hierher ausgewanderten Appenzeller.
Die hiesige dunkle Schokolade ist
mindestens so gut wie die von Cailler. Die Kakaobohnen kommen eh von
hier. Und ich brate mir auch Rösti mit Speckwürfeli. Kartoffeln sind hier, im
Gegensatz zur Schweiz, seit Tausenden von Jahren einheimisches Gewächs.
Unsere Schweizer Rohstofffirma Glencore
baut hier zu unserem volkswirtschaftlichen Nutzen Naturprodukte ab. Als guter
Schweizer bin ich es mir auch gewöhnt, die Augen zu verschliessen vor den
Begleitumständen dieses Raubbaus. Was gehen mich die korrupten Methoden der
Landausbeutung an, die Hinterlassung von Umweltschäden und
Menschenrechtsverletzungen? Hauptsache, uns geht es gut dabei, und wir können
uns den Kaffee leisten, der von hier stammt. In der Winterzeit kommen aus
Kolumbien noch die frischen Rosen hinzu, die wir unseren Liebsten in der
Schweiz verschenken und deren mit Gift kontaminierten, flächendeckenden
Gewächshäuser man beim Anflug auf den Flughafen El Dorado ansichtig wird. Ich befinde mich sozusagen an der
Quelle unseres helvetischen Wohlstandes.
Ich gucke mir auch hier die Tagesschau,
Aeschbacher (schade,
dass er aufhören musste), Schawinski (schade, dass er aufhören musste)
und die Matchs von Roger Federer
an, träume auf Schwiizertüütsch, höre das Echo der Zeit und die
Jodlerin Nadja Räss und
interessiere mich für die Seilbahnen
zum Zürcher Zoo hinauf oder über den See. Mich regen auch in Kolumbien
die sture SVP und die
selbstgerechte Zürcher SP auf.
Ich beteilige mich likend, diskutierend und vor allem mich ärgernd auf Facebook
an vielen Themen, die in der Schweiz zur Abstimmung kommen. Nur die Hornkuh-Initiative machte mich etwas
ratlos.
Früher, in der geografisch
definierten Schweiz, habe ich mich nicht stärker mit dem Lokalgeschehen auseinandergesetzt,
als ich es von hier aus tue. Nur sind jetzt noch ein paar neue Lebenswelten
hinzugekommen, denen ich gern zusätzlich meine Aufmerksamkeit schenke, weil sie
mich bereichern.
In der Schweiz konntest du dich am politischen
Geschehen aktiv beteiligen. In Kolumbien aber nicht.
Die aktive Teilnahme am öffentlichen
Geschehen der Schweiz ist mir gar nicht gut bekommen. Mein Versuch zum
Beispiel, in der Stadt Schlieren als Parlamentarier Fuss zu fassen, endete
desaströs und in kompletter Isolation. Nirgends fühlte ich mich fremder und
einsamer als in meiner angeblich heimatlichen Umgebung, wo ich immerhin Steuern
zahlte, Stimm- und Wahlrecht hatte und mich für die Verbesserung der
Lebensqualität und der Standortvorteile einsetzen wollte. Dieses rasch wachsende
Dörflein am Zürcher Stadtrand aber befand sich zu meiner Zeit, wie
Agglomerationssiedlungen anderswo auch, in unseliger Geiselhaft
erzkonservativer Alteingesessener, die sich wiederum im Würgegriff des Gewerbes
halten liessen. Die Verdienste dieser Zwangskomplizenschaft bestanden darin, im
Altersheim zwar ein Raucherstübli eingerichtet zu haben, gegen jede weitere
Lebensverbesserung für die Einwohnerschaft aber zu opponieren. Sie legten sich
gegen jede Temporeduktion quer und waren selbstverständlich auch gegen den Bau
der Limmattalbahn. Sie waren
sich nicht zu blöd, nochmals eine Abstimmung über dieses Bauprojekt zu
erzwingen, nur weil ihnen das Resultat des ersten Plebiszits nicht in den Kram
gepasst hatte. Bei der zweiten bekamen sie wenigstens so richtig eins aufs
Dach. Nicht einmal die direkt betroffenen Gemeinden, die das erste Mal noch
dagegen waren, aber vom übrigen Kanton überstimmt worden waren, sagten diesmal
nein. Das hält diese Altvorderen aber nach wie vor nicht davon ab, weiterhin
für ein Schlieren des 19. Jahrhunderts auf die Barrikaden zu steigen und allen
weiteren Urbanisierungsversuchen mit den übelsten Unterstellungen, den
fiesesten Intrigen und den fadenscheinigsten Argumenten entgegenzutreten. Leute
wie ich galten als Exoten, denen
man jeden guten Willen absprach und die man deswegen auch nicht ernst zu nehmen
brauchte. Wenigstens brachte mir damals die reformierte Kirche, die ja mit
Blick auf die Gesamtgesellschaft selbst schon über einen Exoten-Status verfügt,
die Wertschätzung entgegen, die ich meinte verdienen zu dürfen. Als
Kirchenpfleger war ich dort für Musikalisches verantwortlich und durfte unter
anderem ein erfolgreiches Orgelfestival organisieren.
Könnte deine lächerliche
Wehleidigkeit ein hinreichender Grund gewesen sein, die Schweiz zu verlassen?
Sie war wohl ein förderlicher Faktor
in einem ganzen Bündel von Gründen, das mich als Ganzes bewog, in meiner
eigenen Lebensgeschichte noch ein Kapitel Ausserschweiz anzuhängen. Eigentlich
wollte ich, man weiss es, auf den Mars.
Jaja, das ist eine andere
Geschichte. Was waren die weiteren Gründe für den Wegzug?
Günstige Umstände, wie zum Beispiel
der Wechselkurs und die Veränderungen in meiner Beziehung zu meinem Partner,
und – das Alter. In der Schweiz bereitet man sich von der Pensionierung an aufs
Sterben vor. Spätestens dann sucht man sich eine rollstuhlgängige Wohnung, die
im Notfall nicht allzu weit von einem Spital oder von einem Altersheim entfernt
sein sollte. Und man pflegt, zu Recht, die Angst, einsam zu werden und wird so
Mitglied im Seniorenturnverein oder im Jassklub. Mit solchen Beschäftigungen
kompensiert man die schwindende gesellschaftliche Bedeutung, der man sich im
Alter ausgesetzt sieht. Von den Jungen nicht mehr wahrgenommen, von den
Mittelalterlichen als Belastung empfunden und von den Gleichaltrigen argwöhnisch
beobachtet, befindet man sich in einem absurden Spiessrutenlauf der Missachtung
und gewöhnt sich sogar daran, sein eigenes Lächeln in der S-Bahn nicht mehr
erwidert zu sehen, das einem gleichsam als Brosamen noch hätte hingeworfen
werden können.
Das ist zu krass. Bist du
verbittert?
Überhaupt nicht verbittert, aber
genug stolz, mich mit diesem Abstellgleis nicht zufriedenzugeben.
Das Gefühl des Fremdseins und des
Exotentums wirst du aber auch in Kolumbien empfinden.
Klar, aber hier stimmt es mit meiner
real gelebten Situation überein. Hier habe ich keinen Anspruch auf eine Rolle,
die in Anerkennung, Wertschätzung oder Integration münden müsste. Hier bleibe
ich logischerweise fremd und suche schon gar nicht, mich in irgendeiner Weise
kolumbianisch zu geben oder mich gar zu integrieren. Hier herrscht das Gefühl
vor, temporärer Gast auf dieser Erde und im Speziellen in Kolumbien sein zu
dürfen. Das macht leicht, bescheiden und dankbar.
Aber macht es nicht auch etwas
einsam, sich unzugehörig zu fühlen?
Die dräuende Einsamkeit älterer
Menschen wie mich, die noch nicht alt genug sind fürs Pflegheim und für den
Alzheimer, habe ich in der Schweiz als ätzender empfunden als hier. Das hat
vermutlich mit dem Anspruch zu tun, den man an seine Umgebung stellt. Ich
verstehe mittlerweile die Alten in der Schweiz, die blindwütig unmögliche
Positionen einnehmen und Andersdenkende mit üblen Beschimpfungen eindecken, um
überhaupt wahrgenommen zu werden. Das hat etwas Trötzeliges. Wenn man mit der
eigenen Geburt schon zu spät dran war, um die Schweiz im Zweiten Weltkrieg
verteidigt haben zu dürfen, so besteht offenbar für unsere Generation
gleichwohl das dringende Bedürfnis, den eigenen Nachkommen zu zeigen, dass man
während seines eigenen Lebens für die Heimat einen kämpferischen Einsatz
geleistet hat. So hinterlässt meine Generation eine Schweiz, die geprägt ist
von Eigenbrötlertum – zum Beispiel mit der Selbstbestimmungs-Initiative – und
Abschottung. Auslöffeln müssen diese Suppe dann die Jüngeren, die sich an die
Veränderungen unseres Landes längst schon gewöhnen konnten und keine grosse
Sehnsucht nach den 1970er- und 1980er-Jahren empfinden. Eine fatale Art der
Hinterlassenschaft, die Gott sei Dank nicht immer von der abstimmenden Mehrheit
geteilt wird.
Und vor der Gefahr der Vereinsamung
bist du in Kolumbien sicher?
Hier in Kolumbien bin ich ein Exot
mit Ausländerstatus. Niemand kann hier verstehen, dass einer ein Sehnsuchtsland
wie die Schweiz freiwillig verlässt, um sich in einem Drittweltland mit all
seinen ungelösten Problemen niederzulassen. Diese Frage interessiert offenbar
die Hiesigen. Und ich sage ihnen dann, man könne überall auf dieser Welt
sterben. Dafür brauche man die paradiesisch anmutende Schweiz nicht, denn fürs
ewige Paradies bleibe nach dem Abgang noch Zeit genug. Hier auf Erden heisse
die Devise lebendig sein. Die
Schweiz ist im Vergleich zu Kolumbien doch ziemlich unlebendig, abgesehen von
den alten Schreihälsen und blocherschen Wiederkäuern.
Die Leute in Kolumbien schütteln
also den Kopf ob deiner Ansiedlung?
Es stört sie, weil sie selbst ja so
gern ihr Land verlassen würden, um anderswo ein besseres Leben zu führen.
Kolumbien bietet denjenigen, die nicht in die richtige Familie hineingeboren
wurden und nicht über das Geld und die notwendigen Verbindungen verfügen, wenig
Chancen auf die Realisierung eigener beruflicher Ambitionen. Das betrifft die
überwiegende Mehrheit hier. Vielleicht schafft es der eine oder die andere noch
zu einem Studium. Später aber schrammen die meisten von ihnen ihr Leben lang
als toderos, als solche, die überall anpacken müssen, wo es nach Arbeit
aussieht, nahe am Mindestlohn vorbei.
Das sind triste Aussichten. Und du
hältst solche Zustände aus?
Mir kommt hier in diesem Land oft der
Begriff der Würde in den Sinn.
Wie geht jeder einzelne damit um und verarbeitet es für sich selbst, nicht ganz
das Leben führen zu können, das man für sich selbst für erstrebenswert hielte
und jeden Tag als Soap-Opera im Fernsehen abrufen kann? Gibt es eine komplizenhafte
Solidarität all jener, denen ein ähnliches Schicksal widerfährt? Wie sehr
legitimiert ein nicht erwünschter Lebenslauf ungesetzliches Verhalten und
unmoralisches Handeln? Vielleicht lassen sich mit dem Begriff der Würde und des
Selbstbildes der kolumbianischen Gesellschaft einige Vorgänge der jüngeren
Geschichte des Landes erklären.
Wie das?
Mir fällt zum Beispiel auf, dass die
meisten Kolumbianer zwar stolz sind auf ihr Land, gleichzeitig aber sehr
schlecht über ihresgleichen reden. Der Taxichauffeur, die Putzfrau, der
Handwerker, die Sekretärin, der Ladenbesitzer, der Wachmann, die Zahnärztin: Alle
bringen riesige Vorbehalte gegenüber ihren Landsleuten an. Diese seien
ungebildet, korrupt, unzuverlässig, rassistisch, es fehle ihnen an der nötigen
Erziehung und so fort – um sich aber davon sofort auszunehmen und abzusetzen.
Ich könne von Glück reden, ausgerechnet mit ihnen in Kontakt zu stehen, alle
anderen seien nämlich ladrones,
Diebe also, die mich nur abzocken würden.
Und was folgerst du daraus?
Dass hier eine grosse Ambivalenz
herrscht.
Ist das alles?
Wenn mir solche Spannungen vor der
eigenen Haustür auf dem Servierbrett präsentiert werden, so interessiert mich
das als alten Ethnologen, weil sie herausfordernd sind und nach Erklärungen
rufen, die ich noch nicht habe. Herausfordernder jedenfalls, als wenn die SBB
wieder einmal auf der Strecke Olten–Bern stecken bleibt. Wobei auch dort eine
Ambivalenz, wenn auch anderer Art, auszumachen ist. Nämlich der Anspruch,
einerseits an einem perfekten System teilzuhaben, andrerseits die
Überforderung, die den Teilnehmenden aus einem solchen System erwächst.
© Nikolaus Wyss
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