Samstag, 19. Mai 2018

Wer kennt noch André Ratti?


Alles hatte mit Reinhard Glättli angefangen, einem grossgewachsenen, neugierigen, schlaksigen Schulabgänger, der noch nicht genau wusste, in welche Richtung sein Leben gehen solle. Nach jedem Lacher – und er lachte viel – warf er den Kopf nach hinten und strich sich dabei die langen Haare aus seinem Gesicht. Ich lernte ihn Ende der 1970er-Jahre kennen, wahrscheinlich in der Fantasio Bar am Rüdenplatz. Das ist nicht mehr genau auszumachen. Von da weg kreuzten sich unsere Wege zufällig, aber regelmässig irgendwo im Niederdorf und endeten jeweils bei einem Glas Bier. Er hatte eine Freundin, schwärmte aber unverhältnismässig oft von André Ratti, mit dem er anscheinend befreundet war. Reinhard wollte uns beide bekannt machen und konnte nicht verstehen, weshalb sich in mir alles gegen eine solche Begegnung sträubte: Eifersucht, Vorbehalte einem lauten Schwulen gegenüber, prinzipielle Abneigung gegen Fernsehgrössen, Aversion gegen füllige Bartträger – und so fort. Ich kannte André Ratti von wissenschaftlichen Sendungen her. Ich hielt ihn für oberflächlich und inkompetent, das genügte mir vollauf.
Eine Zeit lang hörte ich dann nichts mehr von Reinhard. Er hatte vor, seine Krampfadern wegoperieren zu lassen. Doch eines Morgens überraschte mich ein Anruf. Laut und deutlich sagte eine Stimme: Ratti.
Wieso der?, schoss es mir durch den Kopf. Hatte hier etwa Reinhard die Hand im Spiel? – Ratti jedoch teilte mir sachlich, aber bestimmt mit, Reinhard sei an den Folgen des chirurgischen Eingriffs verschieden: Herzversagen!
In Schockstarre fiel ich aufs Bett. Ratti fuhr fort, er gehe nicht an die Beerdigung, er gehe nie an Beerdigungen, und meinte: Ich weiss, dass Reinhard viel von dir gehalten hat. Deshalb rufe ich dich an, damit du es nicht aus der Todesanzeige erfahren musst.
Die Nachricht brachte mich völlig durcheinander. Wie kann so etwas nur möglich sein? So ein junger, hoffnungsfroher Mensch! Und wieso muss ich diese schlimme Nachricht von einem André Ratti erfahren, dem ich doch stets geflissentlich aus dem Weg gegangen bin? Hatte er mit Reinhard womöglich noch ein intimes Verhältnis gehabt?
Ich war erschüttert und brachte keinen richtigen Satz zustande. Zum Schluss seines Anrufes schlug Ratti vor, wir könnten uns doch in Gedenken an Reinhard einmal zu einer Tasse Kaffee treffen. In meinem Zustand vermochte ich mich seines Ansinnens nicht zu erwehren. – Wir machten ab.
Daraus entstand, zum Erstaunen beider, eine ritualisierte Freundschaft. Über Jahre hinweg. Bald war Reinhard kein Thema mehr, es waren Musik, insbesondere Opern, viel Klatsch und Tratsch, Reisen und Bücher. Ratti war früher schliesslich Verlagsbuchhändler beim Walter Verlag gewesen. Mindestens einmal pro Woche quatschten wir ausführlich am Telefon, und an den Samstagen schwammen wir jeweils im Hallenbad Uitikon-Waldegg einige Runden und besuchten dortselbst die Sauna. Von da weg war ich auch Gast bei seinen legendären Suppen-Einladungen. In der kleinen Zweizimmerwohnung beim Triemli kamen Krethi und Plethi zusammen und schufen prekäre Platzverhältnisse. Als er im selben Haus in eine Dreizimmerwohnung umziehen konnte, tat dies den beengten Platzverhältnissen keinen Abbruch. Jetzt kamen einfach noch mehr Gäste vorbei, darunter allerlei Fernsehgrössen aus jener Zeit. Sie sassen bei lauter Opernmusik am Boden, auf dem Badewannenrand, versunken im Sofa oder aufgereiht entlang des Balkongeländers und schlürften seine Suppe.
Ferienbegleitungen nach Comano im Tessin, wo ihm das Haus der Familie des Filmemachers Tobias Wyss zur Verfügung stand, oder oberhalb der Gestade des Lago Maggiore, wo seine Fernsehfreundin Ilse Heim auf der italienischen Seite ein Haus besass, ergänzten unseren freundschaftlichen Kontakt. Ich war kaum je allein mit ihm. Ich gehörte jetzt vielmehr zu seinem Hofstaat. Er liess sich immer von vielen Freunden umgeben und genoss die Bühne, die wir ihm damit gewährten.
Ich fragte mich oft, auf welchen Pfeilern unsere Freundschaft ruhte. Reinhard kann es nicht gewesen sein, auch wenn uns sein Tod zusammengeführt hatte. André Ratti repräsentierte etwas für mich, das mir eigentlich fern lag. Er lebte stellvertretend für mich meinen Schattenteil. Sein Anspruch auf Freiheiten und Übertretungen der herrschenden Normen, seine schamlosen und oft abstrusen Behauptungen schienen vom Saft seiner russischen und bündnerischen Wurzeln genährt zu werden und übten auf mich eine Faszination aus. Er war der laute, aufbrausende, ungerecht urteilende, leidenschaftliche Egomane, der sich regelmässig in Jungs verguckte, die lieber sein Geld entgegennahmen, als seine Zuneigung spüren wollten. In meiner Erinnerung geriet er des Öfteren in Liquiditätsengpässe.
Und dann überraschte er mich plötzlich mit der Idee, an einer Gesprächsrunde des Schweizer Fernsehens über die Nachfolgegeneration der 68er teilzunehmen. Als Stargast hatte er die umstrittene Psychoanalytikerin Alice Miller geladen, die es mit ihrem Buch Das Drama des begabten Kindes auf die Bestsellerliste gebracht hatte. Um sie herum gruppierte Ratti ein paar weitere Teilnehmerinnen und Teilnehmer, an die ich mich nicht mehr erinnere. Mich wollte er als Vertreter der jungen Generation dabeihaben.
Die Aufzeichnung ging vollständig in die Hosen. Das Gespräch wurde einseitig von Alice Miller dominiert, die allerdings auch unzufrieden war über dessen Verlauf, weil sie angeblich ihre Thesen nicht genügend verbreiten konnte. Am darauffolgenden Tag herrschte hektische Telefoniererei, die darin gipfelte, die Absetzung der verunglückten Sendung zu verlangen. Dass ich auch zu denen zählte, welche die Absetzung einforderten, verletzte André zutiefst. Er hielt mich für einen Verräter und Schisshasen.
Abends darauf wurde die Aufzeichnung trotzdem gesendet und kassierte unbarmherzige Kritik. Ratti aber blieb böse auf mich. Die regelmässigen Anrufe und die Ausflüge in die Sauna blieben von da an aus. Irgendwann hörte ich, dass er sich vom Schweizer Fernsehen verabschiedet und ins Tessin abgesetzt habe. Und dann vernahm ich plötzlich, dass er jetzt in Basel lebe.
Anlässlich der nächsten Kunstmesse, die mich, wie jedes Jahr, ans Rheinknie fahren liess, hielt ich es für angebracht, ihn wieder einmal anzurufen. Nach so langer Zeit. Ich beschaffte mir seine Nummer und rief ihn aus einer Telefonkabine am Barfüsserplatz an. Er war überrascht. Nach einer längeren Pause teilte er mir in seiner direkten Art mit: Nikolaus, ich sage es dir grad klipp und klar: Ich habe Aids.
Ich weiss noch, wie ich entlang der Kabinenscheibe nach unten glitt und mit weichen Knien auf dem uringetränkten Boden landete. Und wie seinerzeit bei Reinhard blieben mir wieder die Worte im Halse stecken. Ratti jedoch fuhr weiter und beantwortete vorweg, was wohl als nächste Frage von mir gekommen wäre. Er wünsche momentan keine Besuche, er werde von seiner betagten Mutter gut umsorgt. Seine Sorge sei einzig, dass sie vor ihm ableben könnte. Punkt.
Ein paar Monate später traf ich ihn zufällig am Hauptbahnhof Zürich. Es war kurz nach seinem Einstand als erster Präsident der Aidshilfe Schweiz. Wir begrüssten uns verhalten herzlich. Er hatte Gewicht verloren und meinte dazu sarkastisch, endlich habe er seine Idealfigur erreicht. Ich hielt es bei dieser Gelegenheit für angebracht, ihn zu motivieren, ein paar Erinnerungen aus seinem Leben zusammenzutragen. Ich würde ihn dabei gerne unterstützen. Er habe doch so viel erlebt und sei mit so vielen spannenden Menschen zusammengekommen, dass eine Verschriftlichung seiner Erlebnisse angemessen und interessant wäre. Er stimmte dem Vorhaben zu, und schon ein paar Tage später fuhr ich mit einem Kassettenrekorder und vielen leeren Magnetbändern nach Basel, um ihn aus seinem Leben erzählen zu lassen.
Meine Aktion war ein Debakel. Statt Begegnungen zu schildern oder Geschichten von Freund- und Feindschaften zu erzählen, vermochte er nur zu sagen, dass diese Person besonders interessant und jene Operninszenierung besonders eindrücklich gewesen sei. Seine Beiträge bestanden eigentlich nur aus Bewertungen von Tatbeständen oder Personen. Alles oder jeder war entweder grossartig, fantastisch, herrlich, unglaublich und spannend, oder dann deprimierend, dumm, schlimm. Doch was dies oder jenes zu dem gemacht hatte, das ihn zu diesem Urteil bewog, vermochte er nicht zu sagen. Er entsagte sich jeder Begründung seiner Einschätzungen. Kein Nachhaken fruchtete, und nach drei Besuchen dieser Art gab ich das Vorhaben auf. Statt Geschichten zu verfassen hätte ich eine Ratingliste zusammenstellen können. Glücklicherweise – das Wort ist hier völlig fehl am Platz, ich weiss, aber in Bezug auf unser gemeinsames Vorhaben gleichwohl angebracht – verschlechterte sich sein Gesundheitszustand rapide. Meine gescheiterte Initiative musste nicht mehr thematisiert werden.
Von Weitem konnte ich beobachten, dass sich jetzt ein eingeschworener Kreis von Freunden um ihn bildete, die fest entschlossen waren, ihn bis zu seinem Ableben zu begleiten. Ich gehörte nicht dazu. Später liess ich mir sagen, bei seinem friedlichen Einschlafen hätten die Anwesenden russische Volksweisen intoniert.


André Ratti und ich auf dem Balkon des Hauses in Comano

© Nikolaus Wyss

Weitere Beiträge auf einen Click  

Dienstag, 8. Mai 2018

Ich vermisse Oscar

Oscar

Hier in Bogotá bin ich oftmals versucht, unter dem Arbeitstitel Dem Teufel vom Karren gefallen über Menschen zu schreiben, die ein leidvolles Schicksal mit sich herumtragen. Sie leben bei Kälte, Wind und Regen auf der Strasse und suchen nachts unter Brücken oder in Hauseingängen Schutz. Sie bedecken sich mit Lumpen oder aufgeweichten Kartons. Ihre Notdurft verrichten sie hinter einem Baum. Zur Körperpflege haben sie kaum Gelegenheit, und das Essen schnorren sie sich, so gut es geht, zusammen. Oftmals machen Drogen ihr Leben noch komplizierter.
In dieser angedachten Serie hätte auch Oscar seinen Platz bekommen. An unserer Strasse machte er es sich zur Aufgabe, parkende Autos einzuweisen und auf diese aufzupassen, um am Schluss ein bescheidenes Trinkgeld zu kassieren. Als wir einzogen, begrüsste er uns überschwänglich und half uns beim Hereintragen einiger Möbelstücke. Seither sind wir beste Freunde. Ich fühlte mich in seiner Obhut gut beschützt.
Kochten wir zu viel oder blieb der angekündigte Besuch aus, hatten wir mit ihm einen dankbaren Abnehmer der Resten. Er zog uns auch immer ins Vertrauen, wenn aus der Nachbarschaft wieder eine schlimme oder lustige Geschichte zu vermelden war. Selbstverständlich waren uns seine Informationen immer ein paar Pesos wert. Ganz besonders interessierte er sich für Fussball. Er war Fan von Santa Fé, und wenn im estadio El Campín wieder einmal ein Derby mit dem Stadtrivalen Millionarios am Laufen war, so stellte er den scheppernden Transistorradio, den er sich aus irgendeinem Müllhaufen gefischt hatte, auf Strassenlautstärke ein und liess alle, die an ihm vorübergingen, am Verlauf des Spieles teilhaben. Bei einem Goal war er jeweils aus dem Häuschen. Entweder vor Freude bei Santa Fé oder vor Entsetzen bei den Millionarios.
Einmal empfing er uns in Tränen aufgelöst. Seine Tochter lag im Sterben. Erst so erfuhr ich, dass er Kinder hatte. Tags darauf war sie tot. Ich tröstete und umarmte ihn.

Ich hatte also vor, über ihn zu schreiben und mehr über ihn zu erfahren. Doch plötzlich war er verschwunden. Niemand konnte sagen, wohin er gegangen sei. Sein herbes Lachen fehlte mir, seine positive Einstellung dem Leben gegenüber, das es nicht sonderlich gut mit ihm meinte, auch. Seine humorvolle Präsenz hatte mich jeweils in meinem Unvermögen, eine gerechte Welt zu schaffen, getröstet.
Und dann, Wochen später, begegnete ich ihm überraschend wieder. Diesmal war er frisch gewaschen und frisch rasiert. Er trug saubere Kleider. Ich traute meinen Augen kaum.
Was ist passiert, Oscar?, rief ich ihm entgegen. Du hast dich ja total gewandelt!
Sichtlich stolz berichtete er mir darauf, kürzlich einem Wiedereingliederungsprogramm beigetreten zu sein, wo er in einem Mehrbettzimmer hausen darf. Er bekommt jetzt Essen, Kleider, kann sich täglich duschen und hat vor, seiner früheren Beschäftigung, nämlich Schlagzeuger in einer Band zu sein, wieder nachzugehen. Er ist jetzt 69 und gibt sich noch einmal eine Chance.
Wie ich mich freue für ihn. Und gleichzeitig beschleichen mich Fragen. Wer wird denn jetzt unsere Nachbarschaft sicher halten? Was machen wir künftig mit unseren Essensresten?
Ich schäme mich, dass mir angesichts seines Glücks solche Gedanken kommen. Ich muss sie vertreiben, sie sind deplatziert. Oscar zu gratulieren und ihm alles erdenklich Gute zu wünschen, ist alles, was mich bewegen sollte.
Jetzt warte ich auf seine E-Mail-Adresse, die er sich einrichten will, damit ich das Bild, das ihn in seiner neuen Aufmachung zeigt, zuschicken kann.

© Nikolaus Wyss

Weitere Beiträge auf einen Click    

Montag, 7. Mai 2018

Im Wolfbächli

V.l.n.r. Wolfbachstrasse 9, 11, 15, 19

Dies ist keine Geschichte. Hier folgen bloss ein paar persönliche Notizen entlang einer Zürcher Quartierstrasse. Die Wolfbachstrasse ist eine Art Blinddarm, Nebenarm der verkehrsreichen Hottingerstrasse: Langweilig, dafür ruhig, vernachlässigbar, wenn man dort im Leben nicht einmal etwas Einprägendes erlebt hat. Trifft aber auf mich nicht zu. Die Wolfbachstrasse wäre mir deshalb spontan nie ins Bewusstsein gerückt, hätte mich ein potenzieller Verleger meiner Blogs bei meinem letzten Besuch in Zürich nicht sprechen wollen und vorgeschlagen, sich zum Lunch im Wolfbächli am Steinwiesplatz zu treffen. Als er zur Erklärung ansetzte, wie ich dorthin gelange, konnte ich kennerhaft abwinken und frischte vor unserem Treffen mit einem kleinen Spaziergang alte Erinnerungen auf.

Erste Station: Stepptanz bei Nina Macciacchini. Diese Koryphäe des künstlerischen Tanzes betrieb in den 1960er-Jahren im weissen Häuschen an der Wolfbachstrasse 11 eines ihrer Tanzstudios. Sie war eine vornehme und zu jener Zeit wohl auch hochangesehene Künstlerin mit gnädigem Lächeln. Meine Mutter, darauf bedacht, mir die beste aller Ausbildungen angedeihen zu lassen, gelangte meiner langen Beine wegen zur Überzeugung, ich sei zum Tänzer bestimmt. Also schleppte sie mich eines Tages ins Studio Macciacchini und schlug mir zum Schluss der Akquisitionspräsentation vor, es doch einmal mit Stepptanz zu versuchen. Da ich nicht grad spontan ablehnte – Zweifel galten als Zustimmung –, bekam ich Klapperschuhe und Strumpfhosen ausgeliehen und wurde schon in der nächstfolgenden Woche unter Anleitung von Madame de Vigier, einer von Nina Macciacchini angestellten Hilfskraft, in Fred Astaire unterrichtet, zusammen mit zehn anderen Halbwüchsigen.
Nach einem Jahr galt es, das Eingeübte einem grösseren Publikum zu präsentieren. Die Aufführung fand in einem der Nebensäle des Kongresshauses Zürich statt. Das Publikum bestand, wie meistens in solchen Fällen, aus erwartungsfrohen und stolzen Müttern. Ich liess das Geschehen mit einigen Stolperschritten über mich ergehen, im Bewusstsein, dass es sich damit ausgesteppt hatte. Dieses lärmende Geklapper auf hartem Untergrund war nichts für mich. Ich beschied meiner Mutter, damit aufhören zu wollen. Darauf folgten die kurzen Perioden der Orientierungsläufe im Wald und des Muskeltrainings beim früheren Wrestler Gottfried Grüneisen im Seefeld, der dort zusammen mit seiner rührigen Frau ein Hantelzentrum für schwache Jungs wie mich betrieb, bis meine erschlaffenden Schulleistungen mich dazu zwangen, einen Unterbruch derartiger Freizeitbetätigungen einzulegen. Doch in den Erzählungen meiner Mutter blieb mein Ausflug in die Welt des Showtanzes ein fester Bestandteil, den sie stolz mit dem Satz abzuschliessen pflegte, dass ich sogar im Kongresshaus aufgetreten sei!

Ein Haus weiter ostwärts befindet sich das Gesellenhaus Wolfbach, während 100 Jahren Herberge mit Festsaal des katholischen Gesellenvereins. Ich kenne seine Innenräume allerdings aus anderem Grund. Dort nistete sich nämlich zu jener Zeit das Schweizer Schwarz-Weiss-Fernsehen mit einem zweiten provisorischen TV-Studio ein, aus welchem auch meine Mutter ein paar ihrer Sendungen moderierte. Ich durfte dabei auf leisen Sohlen diesen Produktionen hinter der Kamera beiwohnen Was meinen neidischen Schulkameraden als Privileg vorkam, war aus der Sicht einer besorgten Mutter als Vorkehrung zu verstehen, mich nicht alleine zu Hause oder auf der Strasse herumlungern zu lassen. Ich fühlte mich allerdings in diesem backsteinernen Gesellenhaus nie besonders heimisch und meinte aus dessen Ritzen noch abgestandenen Biergeruch, vermischt mit heiligem Weihrauch, herauszuriechen. Damals war es eben noch von Bedeutung, ob etwas katholischen Ursprungs war oder nicht ...

Wohl hingegen fühlte ich mich in der Schallplattenabteilung des Musikhauses Jecklin, dessen Eingang sich auf der Höhe der Rämistrasse 42 befand. Im Erdgeschoss gab es U-Musik, einen Stock tiefer Klassik. Die Theken, wo ich mir die Vinylplatten anhören konnte, befanden sich auf der rückwärtigen Seite mit Blick auf einen Hof, der von der Wolfbachstrasse her erschlossen wurde. Dort herrschte immer Betrieb mit Ab- und Aufladen von Sperrgut. Oft dachte ich, wenn diese Arbeiter hörten, was ich jetzt höre, sie würden mit Arbeiten sofort aufhören. Die Musik tröstete mich in meiner pubertären Einsamkeit und in meinem Kummer über die vielen abverreckten Latein- und Mathematikprüfungen am Gymnasium, das weiter oben am Hügel lag. Johann Sebastian Bach und Miles Davis waren meine Favoriten, schnell gefolgt von Schuberts, Schumanns und Brahms’ Kammermusik, gleichzeitig aber auch von den Rolling Stones und Lou Reed mit seinen Velvet Underground.
Dass ich meinte, einiges von Musik zu verstehen, und durchaus zu unterscheiden wusste zwischen Beethoven und Mozart, verdanke ich dem Komponisten Armin Schibler, der uns am Gymnasium unterrichtete. Mich störten zwar seine spindeldürren Beine, die jeweils von eng anliegenden Hosen noch betont wurden, und ich konnte mit seinen Kompositionen herzlich wenig anfangen, aber seine Musikstunden bleiben mir in guter Erinnerung.
Er wohnte – und deshalb erwähne ich Schibler hier – mit seiner Familie am anderen Ende der Wolfbachstrasse, beim Steinwiesplatz. Seine Frau Tatjana spielte im Tonhalle-Orchester die Bratsche, und mit Sohn Thomas drückte ich eine Zeit lang die Schulbank. Nicht nur das. Thomas spielte im Schülerorchester das Fagott, und ich hatte damals die fatale Eingebung, dort auch dieses Instrument zu blasen. Was für mich aber eher ein soziales Engagement war, nämlich mit Gleichgesinnten in der Freizeit etwas Sinnvolles anzufangen, entpuppte sich bei Thomas als Berufung. Noch heute, so entnehme ich dem Internet, ist er dem Fagott treu geblieben und lehrt in der Nähe von München. Im Schülerorchester hängte er mich, wen wunderts, in kürzester Zeit ab, und ich war froh, mich, so gut es ging, hinter seinen virtuosen Tönen zu verstecken.

Mit dem Steinwiesplatz verbindet mich auch eine der ersten Ausstellungen des neugegründeten Vereins Kunsthalle Zürich. Wir waren damals, anfangs der 1990er-Jahre, noch ein ambulantes Unternehmen und schlugen an unterschiedlichsten Schauplätzen unsere Zelte auf, unter anderem eben in einem Neubau am Steinwiesplatz, wo später Kieser Training einzog. Ich glaube, es handelte sich um eine Einzelausstellung von Adrian Schiess. Wir Vorstandsmitglieder des Vereins, dem damals noch kaum flüssige Mittel zur Verfügung standen, kommandierten uns selbst zum Hütedienst ab, und ich erinnere mich gut an nicht enden wollende Sonntage in den frisch gemalten Räumen, während denen kein einziger Kunstfreund auftauchte. Da sass ich dann in meditativer Position gegenüber diesen unsäglich genauen, ebenförmigen und sorgfältig platzierten Farbquadern des Künstlers und wusste sie mir eigentlich nicht so recht zu erklären. Kurz, ich langweilte mich. Um meine Präsenz dann doch noch etwas produktiv erscheinen zu lassen, markierte ich für die Statistik mit drei Strichen fiktive Besuche. Das entsprechende Eintrittsgeld legte ich aus eigener Tasche abends in die Kasse.

So weit mein Wiederauffrisch-Spaziergang. Im Restaurant Wolfbach gab es bei erlesenem Wein leckere Kalbsleberli mit Risotto und eine herrliche Crema Catalana. Das Gespräch mit dem Verleger war von Wohlwollen geprägt, Entscheide wurden keine getroffen. So schreibe ich weiterhin meine Blogs und freue mich auf die stets wachsende Leserschaft. Am Anfang waren es im Schnitt 200 pro Beitrag, jetzt stosse ich damit schon bald an die Tausendergrenze. Vielleicht interessieren diese ermutigenden Zahlen den Verleger. Klar, eine Null mehr hintendran wäre schon noch erfreulicher, aber eine Wolfbachstrasse bringt das einfach nicht hin. Doch deswegen zum Broadway wechseln, zu Fred Astaire? – Nein, da mache ich nicht mit!

Links Kieser-Training, hinter dem Baum Schiblers Haus, rechts Rest. Wolfbach


 

© Nikolaus Wyss

Weitere Beiträge auf einen Click   

Donnerstag, 3. Mai 2018

Die Trillerpfeife


Endlich kann ich hier einmal ein griechischstämmiges Eigenschaftswort verwenden, das ich während meines Volkskundestudiums lernen musste. Es veredelte damals den akademischen Anspruch dieser Studienrichtung ungemein. Es heisst apotropäisch. Das Wort bezeichnet die Eignung von Objekten oder Handlungen, Unheil abzuwehren. Es meint somit das, was man gerne Amuletten, Talismanen, Maskottchen und Glücksbringern zuschreibt.
Meine Geschichte ist simpel: Als ich mich in den 1970er-Jahren zum ersten Mal anschickte, nach New York City zu reisen, ging dieser Stadt der Ruf einer gefährlichen Räuberhöhle voraus. In der U-Bahn würde geschossen, so konnte man es der Presse regelmässig entnehmen, Überfälle am helllichten Tag waren gang und gäbe, knallharte Strassengangs tyrannisierten ganze Stadtteile ... Item, meine Mutter hatte Angst, mich allein dorthin ziehen zu lassen, auch wenn es sich nur um ein paar wenige Tage handelte, und sie liess sich von einer Freundin beraten, womit mir in dieser Stadt wohl am besten geholfen wäre.
Die Lösung ihrer Sorge war sowohl verblüffend als auch logisch. Eine Trillerpfeife sollte es richten. Bei Gefahr schlug man damit einfach Alarm, indem man die Räuber, die einen umzingelten, schrill verpfiff und so die Umgebung auf die eigene Notlage aufmerksam machte.
Seither bewaffne ich mich bei fast allen meinen Ausflügen in gefährliche Gegenden mit so einem Instrument. Die Trillerpfeifen wechselten, der Schutz ist geblieben. Es ist sogar so, dass ich hier in Bogotá schleunigst nach Hause zurückkehre, wenn ich bemerke, dass ich sie vergessen habe. Habe ich mich schon zu weit von meinem Zuhause entfernt, suche ich in der Stadt als erstes einen Chinesen-Laden auf, der solche Dinger feilbietet, um mich mit einem Ersatzschutz abzusichern.
Tatsächlich geschahen die paar Überfälle, die mir in meinem Leben widerfuhren, immer dann, wenn ich die Pfeife nicht auf mir trug. Das Apotropäische meiner Trillerpfeifen scheint mir damit genügend ausgewiesen.


© Nikolaus Wyss

Weitere Beiträge auf einen Click