Dienstag, 8. Mai 2018

Ich vermisse Oscar

Oscar

Hier in Bogotá bin ich oftmals versucht, unter dem Arbeitstitel Dem Teufel vom Karren gefallen über Menschen zu schreiben, die ein leidvolles Schicksal mit sich herumtragen. Sie leben bei Kälte, Wind und Regen auf der Strasse und suchen nachts unter Brücken oder in Hauseingängen Schutz. Sie bedecken sich mit Lumpen oder aufgeweichten Kartons. Ihre Notdurft verrichten sie hinter einem Baum. Zur Körperpflege haben sie kaum Gelegenheit, und das Essen schnorren sie sich, so gut es geht, zusammen. Oftmals machen Drogen ihr Leben noch komplizierter.
In dieser angedachten Serie hätte auch Oscar seinen Platz bekommen. An unserer Strasse machte er es sich zur Aufgabe, parkende Autos einzuweisen und auf diese aufzupassen, um am Schluss ein bescheidenes Trinkgeld zu kassieren. Als wir einzogen, begrüsste er uns überschwänglich und half uns beim Hereintragen einiger Möbelstücke. Seither sind wir beste Freunde. Ich fühlte mich in seiner Obhut gut beschützt.
Kochten wir zu viel oder blieb der angekündigte Besuch aus, hatten wir mit ihm einen dankbaren Abnehmer der Resten. Er zog uns auch immer ins Vertrauen, wenn aus der Nachbarschaft wieder eine schlimme oder lustige Geschichte zu vermelden war. Selbstverständlich waren uns seine Informationen immer ein paar Pesos wert. Ganz besonders interessierte er sich für Fussball. Er war Fan von Santa Fé, und wenn im estadio El Campín wieder einmal ein Derby mit dem Stadtrivalen Millionarios am Laufen war, so stellte er den scheppernden Transistorradio, den er sich aus irgendeinem Müllhaufen gefischt hatte, auf Strassenlautstärke ein und liess alle, die an ihm vorübergingen, am Verlauf des Spieles teilhaben. Bei einem Goal war er jeweils aus dem Häuschen. Entweder vor Freude bei Santa Fé oder vor Entsetzen bei den Millionarios.
Einmal empfing er uns in Tränen aufgelöst. Seine Tochter lag im Sterben. Erst so erfuhr ich, dass er Kinder hatte. Tags darauf war sie tot. Ich tröstete und umarmte ihn.

Ich hatte also vor, über ihn zu schreiben und mehr über ihn zu erfahren. Doch plötzlich war er verschwunden. Niemand konnte sagen, wohin er gegangen sei. Sein herbes Lachen fehlte mir, seine positive Einstellung dem Leben gegenüber, das es nicht sonderlich gut mit ihm meinte, auch. Seine humorvolle Präsenz hatte mich jeweils in meinem Unvermögen, eine gerechte Welt zu schaffen, getröstet.
Und dann, Wochen später, begegnete ich ihm überraschend wieder. Diesmal war er frisch gewaschen und frisch rasiert. Er trug saubere Kleider. Ich traute meinen Augen kaum.
Was ist passiert, Oscar?, rief ich ihm entgegen. Du hast dich ja total gewandelt!
Sichtlich stolz berichtete er mir darauf, kürzlich einem Wiedereingliederungsprogramm beigetreten zu sein, wo er in einem Mehrbettzimmer hausen darf. Er bekommt jetzt Essen, Kleider, kann sich täglich duschen und hat vor, seiner früheren Beschäftigung, nämlich Schlagzeuger in einer Band zu sein, wieder nachzugehen. Er ist jetzt 69 und gibt sich noch einmal eine Chance.
Wie ich mich freue für ihn. Und gleichzeitig beschleichen mich Fragen. Wer wird denn jetzt unsere Nachbarschaft sicher halten? Was machen wir künftig mit unseren Essensresten?
Ich schäme mich, dass mir angesichts seines Glücks solche Gedanken kommen. Ich muss sie vertreiben, sie sind deplatziert. Oscar zu gratulieren und ihm alles erdenklich Gute zu wünschen, ist alles, was mich bewegen sollte.
Jetzt warte ich auf seine E-Mail-Adresse, die er sich einrichten will, damit ich das Bild, das ihn in seiner neuen Aufmachung zeigt, zuschicken kann.

© Nikolaus Wyss

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