Oscar |
Hier in Bogotá bin ich oftmals versucht, unter dem
Arbeitstitel Dem Teufel vom Karren gefallen über Menschen zu schreiben,
die ein leidvolles Schicksal mit sich herumtragen. Sie leben bei Kälte, Wind
und Regen auf der Strasse und suchen nachts unter Brücken oder in Hauseingängen
Schutz. Sie bedecken sich mit Lumpen oder aufgeweichten Kartons. Ihre Notdurft
verrichten sie hinter einem Baum. Zur Körperpflege haben sie kaum Gelegenheit,
und das Essen schnorren sie sich, so gut es geht, zusammen. Oftmals machen
Drogen ihr Leben noch komplizierter.
In dieser angedachten Serie hätte
auch Oscar seinen Platz
bekommen. An unserer Strasse machte er es sich zur Aufgabe, parkende Autos
einzuweisen und auf diese aufzupassen, um am Schluss ein bescheidenes Trinkgeld
zu kassieren. Als wir einzogen, begrüsste er uns überschwänglich und half uns
beim Hereintragen einiger Möbelstücke. Seither sind wir beste Freunde. Ich
fühlte mich in seiner Obhut gut beschützt.
Kochten wir zu viel oder blieb der
angekündigte Besuch aus, hatten wir mit ihm einen dankbaren Abnehmer der
Resten. Er zog uns auch immer ins Vertrauen, wenn aus der Nachbarschaft wieder
eine schlimme oder lustige Geschichte zu vermelden war. Selbstverständlich
waren uns seine Informationen immer ein paar Pesos wert. Ganz besonders
interessierte er sich für Fussball. Er war Fan von Santa Fé, und wenn im estadio
El Campín wieder einmal ein Derby mit dem Stadtrivalen Millionarios am Laufen war, so stellte er den scheppernden
Transistorradio, den er sich aus irgendeinem Müllhaufen gefischt hatte, auf
Strassenlautstärke ein und liess alle, die an ihm vorübergingen, am Verlauf des
Spieles teilhaben. Bei einem Goal war er jeweils aus dem Häuschen. Entweder vor
Freude bei Santa Fé oder vor
Entsetzen bei den Millionarios.
Einmal empfing er uns in Tränen
aufgelöst. Seine Tochter lag im Sterben. Erst so erfuhr ich, dass er Kinder
hatte. Tags darauf war sie tot. Ich tröstete und umarmte ihn.
Ich hatte also vor, über ihn zu schreiben und mehr
über ihn zu erfahren. Doch plötzlich war er verschwunden. Niemand konnte sagen,
wohin er gegangen sei. Sein herbes Lachen fehlte mir, seine positive
Einstellung dem Leben gegenüber, das es nicht sonderlich gut mit ihm meinte,
auch. Seine humorvolle Präsenz hatte mich jeweils in meinem Unvermögen, eine
gerechte Welt zu schaffen, getröstet.
Und dann, Wochen später, begegnete
ich ihm überraschend wieder. Diesmal war er frisch gewaschen und frisch
rasiert. Er trug saubere Kleider. Ich traute meinen Augen kaum.
Was ist passiert, Oscar?, rief ich ihm entgegen. Du hast dich ja total
gewandelt!
Sichtlich stolz berichtete er mir
darauf, kürzlich einem Wiedereingliederungsprogramm beigetreten zu sein, wo er
in einem Mehrbettzimmer hausen darf. Er bekommt jetzt Essen, Kleider, kann sich
täglich duschen und hat vor, seiner früheren Beschäftigung, nämlich
Schlagzeuger in einer Band zu sein, wieder nachzugehen. Er ist jetzt 69 und
gibt sich noch einmal eine Chance.
Wie ich mich freue für ihn. Und
gleichzeitig beschleichen mich Fragen. Wer wird denn jetzt unsere Nachbarschaft
sicher halten? Was machen wir künftig mit unseren Essensresten?
Ich schäme mich, dass mir angesichts
seines Glücks solche Gedanken kommen. Ich muss sie vertreiben, sie sind deplatziert.
Oscar zu gratulieren und ihm alles erdenklich Gute zu wünschen, ist alles, was mich
bewegen sollte.
Jetzt warte ich auf seine E-Mail-Adresse, die er
sich einrichten will, damit ich das Bild, das ihn in seiner neuen Aufmachung
zeigt, zuschicken kann.
© Nikolaus Wyss
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