Donnerstag, 3. Mai 2018

Die Trillerpfeife


Endlich kann ich hier einmal ein griechischstämmiges Eigenschaftswort verwenden, das ich während meines Volkskundestudiums lernen musste. Es veredelte damals den akademischen Anspruch dieser Studienrichtung ungemein. Es heisst apotropäisch. Das Wort bezeichnet die Eignung von Objekten oder Handlungen, Unheil abzuwehren. Es meint somit das, was man gerne Amuletten, Talismanen, Maskottchen und Glücksbringern zuschreibt.
Meine Geschichte ist simpel: Als ich mich in den 1970er-Jahren zum ersten Mal anschickte, nach New York City zu reisen, ging dieser Stadt der Ruf einer gefährlichen Räuberhöhle voraus. In der U-Bahn würde geschossen, so konnte man es der Presse regelmässig entnehmen, Überfälle am helllichten Tag waren gang und gäbe, knallharte Strassengangs tyrannisierten ganze Stadtteile ... Item, meine Mutter hatte Angst, mich allein dorthin ziehen zu lassen, auch wenn es sich nur um ein paar wenige Tage handelte, und sie liess sich von einer Freundin beraten, womit mir in dieser Stadt wohl am besten geholfen wäre.
Die Lösung ihrer Sorge war sowohl verblüffend als auch logisch. Eine Trillerpfeife sollte es richten. Bei Gefahr schlug man damit einfach Alarm, indem man die Räuber, die einen umzingelten, schrill verpfiff und so die Umgebung auf die eigene Notlage aufmerksam machte.
Seither bewaffne ich mich bei fast allen meinen Ausflügen in gefährliche Gegenden mit so einem Instrument. Die Trillerpfeifen wechselten, der Schutz ist geblieben. Es ist sogar so, dass ich hier in Bogotá schleunigst nach Hause zurückkehre, wenn ich bemerke, dass ich sie vergessen habe. Habe ich mich schon zu weit von meinem Zuhause entfernt, suche ich in der Stadt als erstes einen Chinesen-Laden auf, der solche Dinger feilbietet, um mich mit einem Ersatzschutz abzusichern.
Tatsächlich geschahen die paar Überfälle, die mir in meinem Leben widerfuhren, immer dann, wenn ich die Pfeife nicht auf mir trug. Das Apotropäische meiner Trillerpfeifen scheint mir damit genügend ausgewiesen.


© Nikolaus Wyss

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1 Kommentar:

Unknown hat gesagt…

die Idee ist verlockend, aber ob ich die im meiner Chaostasche gleich finden würde? Jedenfalls ist uns in NY vor 4 Jahren nichts passiert, obwohl wir 4 Wochen in Harlem wohnten....