Freitag, 27. April 2018

Was ist noch hängig?

Chlöiseli in Tante Trudis Bergli im Neckertal


Hier ein paar Fragen zu Unerledigtem. Gibt es Dinge, die noch bereinigt werden müssten, bevor du gehst?
Ich laufe nicht mit dem Gewicht eines schweren Pakets von Unerledigtem herum, das noch abgetragen werden müsste, bevor ich sterbe. Mein Paket ist ein Päckli – relativ leicht. Die Einsicht, dass ich doch nichts ungeschehen machen kann, hilft mir, es zu tragen. Dieses Gepäck begleitet mich lediglich wie die Furchen im Gesicht und die erschlafften Muskeln: Wenn ich mich nicht gerade im Spiegel betrachte, so sind sie mir wurst. Mir kommen zwar jeden Tag Dinge in den Sinn, die in meinem Leben nicht so gelaufen sind, wie sie hätten verlaufen sollen: Missverständnisse, Verletzungen, Ungeklärtes, Übergriffe, Sachen, die ich seinerzeit einer besseren Lösung hätte zuführen müssen, Umstände auch, wo mir andere etwas schuldig geblieben sind oder mich betrogen haben. Das Wunderbare ist jedoch, dass sich diese Erinnerungen und Gedanken meistens nach kurzer Zeit wieder verflüchtigen, sei es, weil ich mich von Schönerem ablenken lasse oder weil sie von anderen Dingen, die auch noch unerledigt oder ungelöst geblieben sind, abgelöst werden.
Keine Vorwürfe, die dich dein Leben lang begleiten und dir deine Lebensbilanz versauen, wie es bei deinem Vater selig der Fall war?
Es gibt ein paar wenige, wiederkehrende Erinnerungen, die über die Jahre hinweg in meinem Gefühlshaushalt einen Sonderstatus gewonnen haben. Sie sind wie alte Bekannte, die mich manchmal aufsuchen und mir Gelegenheit geben, meine Scham oder meine Wut zu pflegen, damit ich mich nicht allzu fest in meinem Seelenfrieden suhle. Eine Portion schlechtes Gewissen oder das leidenschaftliche Kultivieren von gewissen Feindbildern hält einen lebendig. Deshalb denke ich nicht im Traum daran, mich dieser Erinnerungen zu entledigen durch irgendwelche Sühne- und Bussenrituale. Sie weisen vielmehr auf die engen Grenzen meiner eigenen Vollkommenheit hin. Das ist ganz vernünftig.
Beispiel?
Zum Beispiel Tante Trudi. Hier geht es um Scham. Immer wenn meine Mutter für längere Zeit geschäftlich verreisen musste, steckte sie mich ins Bergli im Neckertal, Toggenburg. Das war ein Kinderheim für Fälle wie mich. Es war das Lebenswerk von Tante Trudi, die eigentlich gelernte Färberin war und viel von Chemie verstand. Zum Frühstück gab es Porridge und anschliessend zum Calciumaufbau der Kinderknochen sandigen Säntis-Kalk auf Butterbrot, und abends formten wir ums Spinett einen Kreis und sangen fromme Lieder. Ich war zwischen meinem dritten und meinem 14. Geburtstag vielleicht 35 Male dort für jeweils zehn bis 20 Tage. Im Bergli entwickelte ich mein ausserordentliches Talent zur Überanpassung. Heimweh verkniff ich mir und stieg damit bereits in jungen Jahren zur braven rechten Hand von Tante Trudi auf. Während sie zum Rechten sah, mit ungezogenen Kindern schimpfte und sie für ein verlängertes Mittagsschläfchen einsperrte, ging ich mit den anderen Kindern zur Post mit gut in der Tasche verstecktem Portemonnaie, wo uns Herr Lendenmann Briefmarken ausgab und Briefe und Pakete entgegennahm, die er dann behänd abstempelte. In unmittelbarer Nähe befand sich das Tiefkühlhaus, wo Tante Trudi in einem grossen Fach Beeren, Fleisch und Gemüse eingelagert hatte. Es gehörte zum besonderen Vergnügen für mich, zuerst den dicken Pelzmantel, der mir bis zum Boden reichte, anzuziehen, um mit ebenso dicken Handschuhen im eisigen Raum aus dem Bergli-Fach das Benötigte herauszuholen. Auch der Gang zu Bauer Naef unten im Talboden zählte zu meinen Pflichten. Bei ihm holte ich auf Monatsrechnung Butter und Milch. Zu meinen ungelisteten Aufgaben gehörte auch das Trösten der Kleinen. Ich putzte ihnen die Schnudernase, versah Hütedienste, überwachte den Sandhaufen und genoss als Bravster das Privileg, die Lieder für den abendlichen Gesang auswählen zu dürfen. Zum Lohn konnte ich abends länger aufbleiben oder musste nur die Hälfte dieses sandigen Kalkbrotes essen.
Der Kontakt zu Tante Trudi blieb auch bestehen, als ich im Bergli nicht mehr regelmässiger Gast war, weil ich mir, grossgewachsen, wie ich war, unter dem Türsturz den Kopf anzuschlagen begann. Sie schrieb mir ab und zu Briefe und jammerte ein bisschen, es sei nicht mehr so wie früher. Sie zog mich auch bei ihren Überlegungen zu Rate, ob sie nach ihrer Pensionierung an den Genfersee ziehen solle. Wohlerzogen, wie ich war, antwortete ich ihr, wenn auch immer eher etwas knapp und zeitlich verzögert. Die Überwindung meiner Widerstände kostete mich viel Kraft, befand ich mich doch jetzt in einem Alter, wo anderes angesagt war, die Entdeckung der Welt nämlich, die ersten Küsse, das Aufbleiben über Nacht, der erste Joint, der erste Rausch, die Jugendunruhen von 1968 ...
Als sie dann in Chexbres am Genfersee wohnte, beklagte sie sich in ihren Briefen, dass ich sie dort nie besuche komme.
Als ich 23 war und schon weit gereist, bat sie mich plötzlich um den Gefallen, ihren kleinen Neffen, der den Sommer bei seinen Verwandten in der Schweiz verbracht hatte, zurück nach Kanada zu begleiten. Seine Eltern mussten schon früher aufbrechen, und Tante Trudi wollte nicht, dass der Bub – er mochte damals etwa sieben Jahre alt gewesen sein – allein die grosse Reise unternahm. Also stellte ich mich nach kurzer Bedenkzeit für diese Unternehmung zur Verfügung, der Gratisflugschein lockte allzu sehr. Nachdem ich den Kleinen pflichtschuldigst in Montreal abgeliefert hatte, verbrachte ich vor meinem Rückflug in die Schweiz noch ein paar Tage in New York City. Ich erinnere mich gut an die Septemberhitze in dieser Stadt. Die Schuhe blieben auf dem Asphalt kleben, und das Deodorant versagte kläglich.
Nach meiner Rückkehr hätte ich Tante Trudi wohl den Vollzug meiner Mission vermelden müssen, doch ich konnte mich die ganze Zeit nicht darauf festlegen, ob ich mich jetzt bei ihr für die Reise bedanken sollte oder ob es ihre Aufgabe wäre, sich bei mir für den Begleitdienst zu bedanken. Irgendwie blieb ich in diesen lächerlichen Überlegungen stecken und liess ungebührlich viel Zeit verstreichen, ohne etwas von mir hören zu lassen. Stattdessen reiste ich ins Engadin zu Not Vital und seiner Familie und vergass mit der Zeit, was noch zu tun gewesen wäre. Und dann, Monate später im Hauptbahnhof Zürich, begegnete ich ihr zufällig – und ich grüsste sie nicht. Ich lief erhobenen Hauptes einfach an ihr vorbei, als ob ich sie nicht erkannt hätte. Das wars.
Krass.
Als sie Jahre später starb, vernahm ich, dass sie testamentarisch ihren liebsten Heimkindern etwas Geld vermacht hatte. Ich war nicht darunter. Klar. Recht hatte sie. Noch heute quält mich zuweilen mein Versäumnis, für das es keine Entschuldigung gibt.
Hast du heute wenigstens eine Erklärung für dein Verhalten damals?
Manchmal denke ich, es sei die spontane Konsequenz meiner andauernden Überangepasstheit im Kindesalter gewesen. Als überbraves Kind fühlte ich mich von Tante Trudi doch sehr vereinnahmt und meinte vielleicht, die Zeit für die Befreiung sei gekommen. Das interpretiere ich jetzt hinein. Damals war ich mir dessen nicht bewusst.
Mit deiner «Befreiung» hast du allerdings Schuld auf dich geladen.
Ich weiss, deshalb erzähle ich es hier ja. Und ich pflege diese Geschichte auch wie ein zartes Pflänzchen, aus obgenannten Gründen. Ich machte da wirklich eine ganz schlechte Figur. Sie bewahrt mich vor Übermut. Mein Selbstbild wird bis an mein Lebensende durch so ein Vorkommnis beschädigt bleiben und mahnt mich bei ähnlichen Gelegenheiten, im eigenen Handeln die Wirkungen gründlicher mit zu bedenken.
Moralisch, moralisch.
Naja, wenigstens hilfts ...
Hast du noch ein weiteres Beispiel mit Sonderstatus in deinem Gefühlshaushalt?
Etwas mit Wut vielleicht?
Bitte. Wir hören.
Also. Gegen Ende meiner Amtszeit als Rektor der Luzerner Kunsthochschule drang der Begriff Interdisziplinarität so langsam ins Bewusstsein unserer Führungsorgane. Er löste den bereits etwas angestaubten Begriff Nachhaltigkeit ab. Wir Hochschulleiterinnen und -leiter wurden aufgefordert, zuhanden des strategischen Steuerorgans der Fachhochschule Zentralschweiz FHZ Vorschläge einzureichen, womit Lehre und Forschung über die eigene Institution hinweg mit interdisziplinären Angeboten hätten bereichert werden können. Mir gelang es als Vertreter der Künstlerinnen und Designer die Idee eines Kreativitätslabors einzubringen in der Überzeugung, dass die Kreativität nicht das Privileg unserer eigenen Hochschule ist, sondern auch in allen anderen Disziplinen ihre Wirkung entfaltet. Ich nannte es Crealab. Nebst der Schärfung des Begriffs Kreativität wäre es in diesem Labor um die Erforschung von Rahmenbedingungen gegangen, unter welchen Kreativität zu sprudeln beginnt und unter welchen sie versiegt.
Es wurden Kredite für die Vertiefung des Vorhabens gesprochen, und ich machte mich, zusammen mit einer Vertreterin der Wirtschaftshochschule, die wegen ihrer Krebstherapie eine Perücke trug, ans Werk. Wir verstanden uns gut und reichten Monate später das verlangte Dossier ein, das wiederum zu gefallen schien. Da wurde mir klar: Wenn ich als Rektor zurücktrete, möchte ich mich gerne um die Leitung dieses zu gründenden Labors bewerben.
Ich trat zurück, wartete auf die Ausschreibung der ins Auge gefassten 50-Prozent-Stelle und reichte fristgerecht mein Bewerbungsdossier ein.
Nichts geschah. Weder wurde der Eingang meiner Unterlagen bestätigt, noch bat man mich je zu einem Bewerbungsgespräch. Später liessen mich meine eigenen Geschäftsleitungskolleginnen und -kollegen wissen, dass sie bereits einen Entscheid zu meinen Ungunsten getroffen hätten.
Das entspricht nicht gerade einer sauberen Corporate Governance. So geht man nicht mit einem langjährigen Kollegen um, der sich nichts hat zuschulden kommen lassen ...
Würde ich auch sagen. Immerhin war ich zu dieser Zeit ja noch Mitglied dieses Gremiums, das die entsprechenden Entscheidungen zu fällen hatte, wenn auch in gekündigtem Zustand. Hinter meinem Rücken also vereitelten sie mir die Möglichkeit, mich um diese Stelle zu bewerben, die ich selbst geschaffen hatte.
Hatten sie wenigstens eine Begründung für ihr unfeines Tun?
Witzig! Sie wollten angeblich dem Eindruck entgegenwirken, dass man einem Geschäftsleitungsmitglied nach dessen Abgang einen Fallschirm verschaffen würde. Dazu muss man allerdings wissen, dass jeder, der als Rektor zurücktritt und noch ein bisschen arbeiten will, mit irgendwelchen Aufträgen bedacht wird. Noch heute. Ohne Bewerbung. Ganz unter der Hand, mit viel Rücksicht und Mauschelei. Ich war wohl der erste und einzige gewesen, der auf Mauschelei verzichtet hatte und mich ganz offiziell und mit dem Risiko, die Stelle nicht zu bekommen, beworben hatte. So weit wollten es aber meine feinen Kolleginnen und Kollegen von damals gar nicht kommen lassen, es hätte ja sein können, dass mein Beispiel einer ordentlichen Jobbewerbung Schule machen könnte.
Da schwingt bei dir eine schöne Portion Zorn mit, nach Jahren noch.
Ja, das war ein unschönes Schlussbouquet nach elf Jahren nicht unerfolgreicher Amtszeit. Ich kam mir vor wie der letzte Trottel. Ich gewann den Eindruck, alle seien froh, dass ich gehe. Und selbst hatte ich das Gefühl, eine solche Behandlung nicht verdient zu haben.
Im Gegensatz zu Tante Trudi leben hier alle Beteiligten noch, einige von ihnen haben ihren Abgang, wir wissen es, nach bewährter Manier und etwas raffinierter eingefädelt als du, mit grossen Fallschirmen jedenfalls. Möchtest du sie nicht zur Rede stellen?
Um Gottes Willen.
Wieso nicht?
Habe ich eingangs nicht erklärt, dass Ungeklärtes und schuldhaftes Verhalten anderer viel Energie und viele Vorteile für einen selbst in sich bergen, solange man nicht bei den alten Geschichten kleben bleibt, sondern die Energie nutzt für das Öffnen neuer Türen? Wäre ich zum Schluss korrekt und in allen Ehren behandelt worden, müsste ich mich jetzt auf den Lorbeeren ausruhen und hätte nichts zu berichten. Ich müsste dankbar sein. Die masslose Geringschätzung meiner Person durch meine Kolleginnen und Kollegen hingegen, die peinliche, unkorrekte Handhabung eines an sich simplen Bewerbungsprozesses versetzt mich heute in die Lage, Luzern nicht nostalgisch nachzutrauern oder gar zu verklären. Es gibt nur einen Weg vorwärts. Nie mehr möchte ich den Verursachern meiner misslichen Situation von damals begegnen.
Das nennt man Verdrängen. Ist in der Psychologie eigentlich verpönt.
Ich verdränge doch gar nicht. Ich berichte davon. Ich will es einzig so belassen. Der Friede ist mir in diesem Fall nicht wichtig. Im Gegenteil. Die Tatsachen beleben mich. Hätte doch sonst nichts zu schreiben in diesem Blog.
Ein weiteres Müsterchen?
Nein. Ich müsste schon zu überlegen beginnen. Das ist doch ein gutes Zeichen, dass nichts Weiteres ansteht.
Und wie war das, als der Fachhochschulrat dir die Verleihung des Professorenstatus verweigern wollte?
Ach wo. Das spare ich mir für eine andere Geschichte auf.
Und wie war das mit der Geschichte in der Textilabteilung?
Das ist Kategorie Tante Trudi. Es dürfte klar sein, dass es von dieser Art einige Geschichten gäbe, wo ich Schuld auf mich geladen habe, genug, um den Beichtstuhl für Stunden besetzt zu halten. Gott stehe mir bei ...
Und gibt es nicht noch die schöne Geschichte, als du mit deiner damaligen Partnerin ein Kind zeugen wolltest?
Stopp! Das gehört nicht hierher!
Und war da nicht noch etwas beim Schweizer Fernsehen? Und deine Unterrichtstätigkeit in Beijing?
All diese Geschichten haben zwischenzeitlich ihren Sonderstatus in meinem Gefühlshaushalt eingebüsst. Deshalb sind sie hier nicht von Belang.
Fertig?
Fertig. Ja.

PS: Wer bekam schliesslich den Auftrag, das Crealab aufzubauen und zu leiten?
Die Perücken-Frau, mit welcher ich seinerzeit das Vorhaben entwickelt hatte. Sie konnte es damals nicht gut mit ihren Vorgesetzten an der Wirtschaftshochschule. So wurde ihr zynisch-elegant dieser Job zugeschanzt, sozusagen als ihr Gnadenbrot. Ein halbes Jahr später starb sie dann.

© Nikolaus Wyss

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2 Kommentare:

Unknown hat gesagt…

oh, ein Ende mit Überraschung, aber irgendwie kann ich dich verstehen, wenn ich auch ganz anders bin, aber doch nicht wirklich.
Verletzungen helfen doch eigentlich weiter zu kommen! Wut muss einem angeboren sein, ich hatte sie nie.

Anonym hat gesagt…

Kollegen, die keine echten Kollegen sind, wahrscheinlich neidisch auf den Kreativeren und wohl Erfolgreicheren - das ist bitter.

Und ich verstehe so gut, dass Nikolaus die nie mehr sehen will. Einer meiner ehemaligen Vorgesetzten, der in eine plötzliche Vakanz - an der er zielstrebig arbeitete - positioniert wurde, brauchte meine Führungsposition für seinen servilen Kofferträger in einer Zeit des Umbruchs, der Zerstörung #Bankgesellschaft Berlin-Skandal... Ich war ein loyaler Mitarbeiter der entmachteten Geschäftsführung, die unschuldig mit Prozessen überzogen wurden, machte einen guten Job ohne Mauschelei, hatte ihn nie angeschleimert, war unbequem, da meinen Prinzipien gefolgt und auch deshalb schlicht im Weg.

Ungehörig war zudem, dass eine Frau in einer Männerdomäne viel Geld verdiente (aber auch Einsatz zeigte). Letztlich ging ich nach hartem Kampf mit einer Abfindung mit 40. Wenn ich den Herrn sehe, kocht es in mir - eine fachliche Niete, ein Intrigant, wie eh und je arrogant - aber wohl bestallt, der Adelstitel und die Intrigen haben ihm sehr geholfen bei der Karriere. Das ist 17,18 Jahre her. Im Grunde muss man ihn bedauern. Das mit dem Verzeihen übe ich noch... Doch vergessen sollte man nie, sagte schon Kennedy.