Donnerstag, 5. April 2018

Ein Tag in London

Blick in einen Saal des Victoria&Albert-Museums
Museen wie das British Museum oder das Victoria and Albert Museum, kurz V&A, sind zu grossen Teilen Schaulager. Sie zeigen, was sie haben. Das ist viel, sehr viel, zu viel. Es obliegt dann dem geneigten Besucher auszuwählen, was ihn davon wirklich interessiert. Was interessiert mich denn wirklich? Allein die Frage ermüdet mich ziellosen, ungeführten Touristen, der doch nur schon darauf stolz ist, überhaupt den Weg ins Museum gefunden zu haben. Nochmals eine römische Statue, hier noch eine etruskische Halskette, dort ein weiteres reich verziertes Ornament auf einem chinesischen Türsturz, hier drüben der hundertste mit arabischen Gravuren veredelte Säbel. Dann ein 500-jähriger Teppich aus dem Iran im Dunkel, der nur alle halbe Stunde für fünf Minuten dem Licht ausgesetzt werden darf, dann eine letzte Ausgrabung. Von wo war diese nur schon? Mesopotamien? Kurdistan? Südostanatolien? Mir versagt angesichts der Fülle das Urteilsvermögen. Ist dieser Gegenstand schön oder einfach nur interessant und deshalb bestaunenswert? Meine Neugierde erstarrt.

Gleichwohl: Solche Monstermuseen nach altem Schrot und Korn sind für interessierte, rüstige Einheimische und für Schulklassen attraktiv, da der Eintritt in die Sammlungen gratis ist. Man kann so oft vorbeischauen, wie es einem beliebt, und sich ohne Hetze mit dem einen oder anderen Ausstellungsgegenstand vertraut machen, bis man geneigt ist, ihn zum eigenen Sammelgut zu zählen. Ich beobachte zum Beispiel ein begeistertes Paar, das einem anderen Paar fein ziselierten Goldschmuck aus dem Jugendstil zeigt, als ob sich die beiden denselben täglich selbst um den Hals hängen oder über die Hand streifen würden.

Wer sich die Ausstellungsgegenstände emotional aneignet und für seine Lieblingsexponate eine virtuelle Vitrine anlegt, schafft die Übergänge von den Ägyptern zu den Kelten, von den Wikingern zu den Kopten spielend und wird eines Tages, beim 37. Besuch vielleicht, bei den Masken der Yoruba landen, bei einem goldenen Ohrringpaar der Mayas oder bei einem griechischen Tempelfries, und diese zu den anderen Sammelstücken seines persönlichen Schaukastens legen.

Erinnerung: Habe ich nicht als einsamer Jugendlicher beim 15. Zoobesuch und nach Liebäugeln mit den Affen, Elefanten und Seeottern gemeint festzustellen, dass mich das eine Zebra wiedererkannt hat? Ich erklärte es hierauf zu meinem Lieblingstier und Freund, bis ich es, beim 19. Zoobesuch vielleicht, aus der Herde heraus nicht mehr wiederzuerkennen vermochte. Mein neuer Freund kam nicht zum Zaun, um mich zu begrüssen. War ihm etwas zugestossen? Oder waren mein Auge und mein Herz doch nicht so untrügerisch?

Zu meinen Museumsbesuchen gehört auch, dass ich in der Regel den Ausgang nicht mehr finde und auf Hilfe des freundlichen Personals angewiesen bin. Dieses führt mich dann durchs museale Labyrinth zu einer Pforte, durch die ich zweieinhalb Stunden zuvor ganz bestimmt nicht hereingekommen bin. Also umkreise ich jetzt im Nieselregen von aussen den riesigen Komplex, bis ich dort anlange, wo ich das Gebäude auch betreten habe, um im Untergeschoss den Rucksack wieder in Empfang zu nehmen.

Nach dem Verlassen des V&A befinde ich mich an der Exhibition Road. Auf der anderen Strassenseite lädt das Natural History Museum zum Besuch ein. Dort geht es in einer Spezialausstellung um Vulkane und Erdbeben. Auf einer beweglichen Plattform und unter Sicherheitsvorkehrungen kann ich nachvollziehen, was Erdstösse mit einem zu machen imstande sind. Ich denke an mein neu erworbenes Haus in Bogotá und bete insgeheim, es möge vor solchen Erschütterungen verschont bleiben.

Der Geräuschpegel im Gebäude ist nicht nur wegen der simulierten Erdbeben und Vulkanausbrüche um ein Vielfaches höher als im gegenüberliegenden V&A. Ohrenbetäubend ist das Kreischen der Kinder, die sich um die unzähligen Knöpfe balgen, die zum Drücken einladen. Vorteilhaft fällt mir deshalb mitten in diesem Lärm eine wohlerzogene Kinderschar in blauen Schuluniformen auf, weil sie so ruhig und konzentriert den Ausführungen einer Museumspädagogin lauscht. Ich schiesse ein Foto, worauf gleich zwei Aufseherinnen auf mich zustürzen und die sofortige Vernichtung der Aufnahme fordern. Und schon bin ich in diesem Hallen als hinterhältiger Päderast identifiziert.

Für mich ist klar: Hier kann ich nicht älter werden und muss den Tatort sofort verlassen. Ich wechsle zum Science Museum hinüber, stelle dort allerdings fest, dass ich für die vielen Dampfloks und Flugzeuge zu müde bin. Einzig der Geschichte der deutschen V2-Rakete vermag ich noch etwas Aufmerksamkeit zu schenken. Ich erfahre, dass im Zweiten Weltkrieg die englische Presse die zerstörerischen Einschläge der Raketen im Norden Londons konsequent totschwieg. Die Briten wollten damit die Deutschen im Ungewissen lassen, ob deren Raketen überhaupt die erhoffte Wirkung gezeitigt haben. War dies nun obrigkeitlich verordnete Zensur oder schlicht eine nationale Pressesolidarität als Beitrag zur Verteidigung des Vaterlandes?

Dann Spaziergang durch die Kensington Gardens in Richtung Hotel. Welch königlich-städtebauliche Leistung, solche Grünräume mitten in dieser Millionenstadt ins 21. Jahrhundert herübergerettet zu haben. Ich erweise der in marmorweiss gehaltenen Statue Königin Victorias meine Referenz und verspreche ihr, noch gleichentags ihrem allzu früh verstorbenen Gatten Albert auf meinem Weg zum Konzert einen Besuch abzustatten.

Der späte Lunch beim Chinesen am Queensway verläuft zwar unter extrem unhöflicher Bedienung – eigentlich möchte ich aufstehen und unverrichteter Dinge das Lokal wieder verlassen –, doch die knusprige Ente ist dafür zu lecker. Anschliessend Mittags- und Verdauungsschlaf im Hotel.

Good evening, sage ich dann später beim Einnachten zu König Albert, dessen Memorial ich vor dem Betreten der Royal Albert Hall passiere, ich soll dir von deiner Gattin Victoria Grüsse ausrichten. Dein früher Tod schmerzt sie noch heute. Ich sagte zu ihr, ich würde heute Abend in ein Konzert gehen, das in deiner Halle stattfinde, deren Einweihung du aber wegen deines allzu frühen Todes nicht mehr erleben durftest. Der König bleibt stumm. Nun gut. Mein Englisch ist auch nicht das Beste.

Die Briten bespielen ihr Konzerthaus noch heute regelmässig in einer Weise, als ob es sich um die feierliche Einweihung von 1871 handeln würde. Mit Pomp und Trara, Kanonendonner, Verstärkeranlagen, 150-köpfigem Chor, mit dem Royal Philharmonic Orchestra, mit Balletteinlagen, Laserlichtshow und Theaternebel finden sommers die Proms statt, und jetzt im Winter die nicht weniger spektakulären Classical Spectaculars. Da werden bekannte Stücke von Tschaikowski bis Verdi, von Rossini über Orff bis Puccini in bombastischer Weise zurechtgebogen, dass einem Hören und Sehen vergehen. Und als Krönung kommt zum Schluss noch die inoffizielle Nationalhymne der Briten, der erste Marsch aus Edward Elgars Pomp and Circumstance, und alle stehen dazu auf, schwingen die Fähnchen Grossbritanniens und singen den Refrain: Land of Hope and Glory, Mother of the Free, / How shall we extol thee, who are born of thee? / Wider still and wider shall thy bounds be set; / God, who made thee mighty, make thee mightier yet ... Ausgerechnet jetzt, auf dem Kulminationspunkt des Schrumpfungsprozesses des Vereinigten Königreiches, jetzt, wo sich Grossbritannien auch noch von Europa abkoppelt. Ich komme mir schon als Verräter vor, dass ich hier nicht mitmache. Nicht einmal Ergriffenheit packt mich, keine Tränen der Rührung kullern. Am ehesten ist ein mitleidiges Schmunzeln zu erkennen, das mein Gesicht durchzieht. So hoch wie jetzt scheint mir die Fallhöhe zwischen britisch-romantischem Grossmachtstreben und Realität noch nie gewesen zu sein.
Heimfahrt im Taxi: Beim Bezahlen kommt mir der Spruch wieder in die Hände, der im fortune cookie des unfreundlichen Chinesen gesteckt hatte: You will be called in to fulfill a position of high honor and responsibility. Ausgerechnet ich, der noch kaum je so glücklich bin wie jetzt in Pension, without any high honor and responsibility.

1 Kommentar:

Dominique hat gesagt…

ja, der Museumsoverkill... Man startet frisch und voll motiviert...
es ist immer eine spannende Reise ins Ungewisse. Ich selber liebe die Schaudepots, es können mitten im Sammelsurium eigene
Geschichten gesponnen werden. Aber handkehrum fühlt man sich wie in einer Sammelstelle abgestellt.
Lieber nicht zu viel aufs mal, also tröpfchenweise.... Aber ein Erlebnis auf irgend eine Art und Weise sind die Besuche immer.