Alles hatte mit Reinhard
Glättli angefangen, einem grossgewachsenen, neugierigen, schlaksigen
Schulabgänger, der noch nicht genau wusste, in welche Richtung sein Leben gehen
solle. Nach jedem Lacher – und er lachte viel – warf er den Kopf nach hinten
und strich sich dabei die langen Haare aus seinem Gesicht. Ich lernte ihn Ende
der 1970er-Jahre kennen, wahrscheinlich in der Fantasio Bar am Rüdenplatz. Das ist nicht mehr
genau auszumachen. Von da weg kreuzten sich unsere Wege zufällig, aber
regelmässig irgendwo im Niederdorf und endeten jeweils bei einem Glas Bier. Er
hatte eine Freundin, schwärmte aber unverhältnismässig oft von André Ratti, mit
dem er anscheinend befreundet war. Reinhard wollte uns beide bekannt machen und
konnte nicht verstehen, weshalb sich in mir alles gegen eine solche Begegnung
sträubte: Eifersucht, Vorbehalte einem lauten Schwulen gegenüber, prinzipielle
Abneigung gegen Fernsehgrössen, Aversion gegen füllige Bartträger – und so
fort. Ich kannte André Ratti von wissenschaftlichen Sendungen her. Ich hielt
ihn für oberflächlich und inkompetent, das genügte mir vollauf.
Eine Zeit lang hörte ich dann nichts
mehr von Reinhard. Er hatte vor, seine Krampfadern wegoperieren zu lassen. Doch
eines Morgens überraschte mich ein Anruf. Laut und deutlich sagte eine Stimme: Ratti.
Wieso der?, schoss es mir durch den Kopf. Hatte hier etwa Reinhard
die Hand im Spiel? – Ratti jedoch teilte mir sachlich, aber bestimmt mit,
Reinhard sei an den Folgen des chirurgischen Eingriffs verschieden: Herzversagen!
In Schockstarre fiel ich aufs Bett.
Ratti fuhr fort, er gehe nicht an die Beerdigung, er gehe nie an Beerdigungen,
und meinte: Ich weiss, dass Reinhard viel von dir gehalten hat. Deshalb rufe
ich dich an, damit du es nicht aus der Todesanzeige erfahren musst.
Die Nachricht brachte mich völlig
durcheinander. Wie kann so etwas nur möglich sein? So ein junger,
hoffnungsfroher Mensch! Und wieso muss ich diese schlimme Nachricht von einem
André Ratti erfahren, dem ich doch stets geflissentlich aus dem Weg gegangen
bin? Hatte er mit Reinhard womöglich noch ein intimes Verhältnis gehabt?
Ich war erschüttert und brachte
keinen richtigen Satz zustande. Zum Schluss seines Anrufes schlug Ratti vor,
wir könnten uns doch in Gedenken an Reinhard einmal zu einer Tasse Kaffee
treffen. In meinem Zustand vermochte ich mich seines Ansinnens nicht zu
erwehren. – Wir machten ab.
Daraus entstand, zum Erstaunen
beider, eine ritualisierte Freundschaft. Über Jahre hinweg. Bald war Reinhard
kein Thema mehr, es waren Musik, insbesondere Opern, viel Klatsch und Tratsch,
Reisen und Bücher. Ratti war früher schliesslich Verlagsbuchhändler beim Walter Verlag gewesen. Mindestens einmal
pro Woche quatschten wir ausführlich am Telefon, und an den Samstagen schwammen
wir jeweils im Hallenbad Uitikon-Waldegg einige Runden und besuchten dortselbst
die Sauna. Von da weg war ich auch Gast bei seinen legendären
Suppen-Einladungen. In der kleinen Zweizimmerwohnung beim Triemli kamen Krethi und Plethi
zusammen und schufen prekäre Platzverhältnisse. Als er im selben Haus in eine
Dreizimmerwohnung umziehen konnte, tat dies den beengten Platzverhältnissen
keinen Abbruch. Jetzt kamen einfach noch mehr Gäste vorbei, darunter allerlei
Fernsehgrössen aus jener Zeit. Sie sassen bei lauter Opernmusik am Boden, auf
dem Badewannenrand, versunken im Sofa oder aufgereiht entlang des
Balkongeländers und schlürften seine Suppe.
Ferienbegleitungen nach Comano im
Tessin, wo ihm das Haus der Familie des Filmemachers Tobias Wyss zur Verfügung
stand, oder oberhalb der Gestade des Lago Maggiore, wo seine Fernsehfreundin Ilse
Heim auf der italienischen Seite ein Haus besass, ergänzten unseren
freundschaftlichen Kontakt. Ich war kaum je allein mit ihm. Ich gehörte jetzt
vielmehr zu seinem Hofstaat. Er liess sich immer von vielen Freunden umgeben
und genoss die Bühne, die wir ihm damit gewährten.
Ich fragte mich oft, auf welchen
Pfeilern unsere Freundschaft ruhte. Reinhard kann es nicht gewesen sein, auch
wenn uns sein Tod zusammengeführt hatte. André Ratti repräsentierte etwas für
mich, das mir eigentlich fern lag. Er lebte stellvertretend für mich meinen
Schattenteil. Sein Anspruch auf Freiheiten und Übertretungen der herrschenden
Normen, seine schamlosen und oft abstrusen Behauptungen schienen vom Saft
seiner russischen und bündnerischen Wurzeln genährt zu werden und übten auf
mich eine Faszination aus. Er war der laute, aufbrausende, ungerecht
urteilende, leidenschaftliche Egomane, der sich regelmässig in Jungs verguckte,
die lieber sein Geld entgegennahmen, als seine Zuneigung spüren wollten. In
meiner Erinnerung geriet er des Öfteren in Liquiditätsengpässe.
Und dann überraschte er mich
plötzlich mit der Idee, an einer Gesprächsrunde des Schweizer Fernsehens über
die Nachfolgegeneration der 68er teilzunehmen. Als Stargast hatte er die
umstrittene Psychoanalytikerin Alice Miller geladen, die es mit ihrem Buch Das Drama des begabten Kindes auf die
Bestsellerliste gebracht hatte. Um sie herum gruppierte Ratti ein paar weitere
Teilnehmerinnen und Teilnehmer, an die ich mich nicht mehr erinnere. Mich
wollte er als Vertreter der jungen Generation dabeihaben.
Die Aufzeichnung ging vollständig in
die Hosen. Das Gespräch wurde einseitig von Alice Miller dominiert, die
allerdings auch unzufrieden war über dessen Verlauf, weil sie angeblich ihre
Thesen nicht genügend verbreiten konnte. Am darauffolgenden Tag herrschte
hektische Telefoniererei, die darin gipfelte, die Absetzung der verunglückten
Sendung zu verlangen. Dass ich auch zu denen zählte, welche die Absetzung
einforderten, verletzte André zutiefst. Er hielt mich für einen Verräter und
Schisshasen.
Abends darauf wurde die Aufzeichnung
trotzdem gesendet und kassierte unbarmherzige Kritik. Ratti aber blieb böse auf
mich. Die regelmässigen Anrufe und die Ausflüge in die Sauna blieben von da an
aus. Irgendwann hörte ich, dass er sich vom Schweizer Fernsehen verabschiedet
und ins Tessin abgesetzt habe. Und dann vernahm ich plötzlich, dass er jetzt in
Basel lebe.
Anlässlich der nächsten Kunstmesse,
die mich, wie jedes Jahr, ans Rheinknie fahren liess, hielt ich es für angebracht,
ihn wieder einmal anzurufen. Nach so langer Zeit. Ich beschaffte mir seine
Nummer und rief ihn aus einer Telefonkabine am Barfüsserplatz an. Er war
überrascht. Nach einer längeren Pause teilte er mir in seiner direkten Art mit:
Nikolaus, ich sage es dir grad klipp und klar: Ich habe Aids.
Ich weiss noch, wie ich entlang der
Kabinenscheibe nach unten glitt und mit weichen Knien auf dem uringetränkten
Boden landete. Und wie seinerzeit bei Reinhard blieben mir wieder die Worte im
Halse stecken. Ratti jedoch fuhr weiter und beantwortete vorweg, was wohl als
nächste Frage von mir gekommen wäre. Er wünsche momentan keine Besuche, er
werde von seiner betagten Mutter gut umsorgt. Seine Sorge sei einzig, dass sie
vor ihm ableben könnte. Punkt.
Ein paar Monate später traf ich ihn
zufällig am Hauptbahnhof Zürich. Es war kurz nach seinem Einstand als erster
Präsident der Aidshilfe Schweiz. Wir
begrüssten uns verhalten herzlich. Er hatte Gewicht verloren und meinte dazu
sarkastisch, endlich habe er seine Idealfigur erreicht. Ich hielt es bei dieser
Gelegenheit für angebracht, ihn zu motivieren, ein paar Erinnerungen aus seinem
Leben zusammenzutragen. Ich würde ihn dabei gerne unterstützen. Er habe doch so
viel erlebt und sei mit so vielen spannenden Menschen zusammengekommen, dass
eine Verschriftlichung seiner Erlebnisse angemessen und interessant wäre. Er
stimmte dem Vorhaben zu, und schon ein paar Tage später fuhr ich mit einem
Kassettenrekorder und vielen leeren Magnetbändern nach Basel, um ihn aus seinem
Leben erzählen zu lassen.
Meine Aktion war ein Debakel. Statt
Begegnungen zu schildern oder Geschichten von Freund- und Feindschaften zu
erzählen, vermochte er nur zu sagen, dass diese Person besonders interessant
und jene Operninszenierung besonders eindrücklich gewesen sei. Seine Beiträge
bestanden eigentlich nur aus Bewertungen von Tatbeständen oder Personen. Alles
oder jeder war entweder grossartig, fantastisch, herrlich, unglaublich und spannend, oder dann deprimierend,
dumm, schlimm. Doch was
dies oder jenes zu dem gemacht hatte, das ihn zu diesem Urteil bewog, vermochte
er nicht zu sagen. Er entsagte sich jeder Begründung seiner Einschätzungen.
Kein Nachhaken fruchtete, und nach drei Besuchen dieser Art gab ich das
Vorhaben auf. Statt Geschichten zu verfassen hätte ich eine Ratingliste
zusammenstellen können. Glücklicherweise – das Wort ist hier völlig fehl
am Platz, ich weiss, aber in Bezug auf unser gemeinsames Vorhaben gleichwohl
angebracht – verschlechterte sich sein Gesundheitszustand rapide. Meine
gescheiterte Initiative musste nicht mehr thematisiert werden.
Von Weitem konnte ich beobachten,
dass sich jetzt ein eingeschworener Kreis von Freunden um ihn bildete, die fest
entschlossen waren, ihn bis zu seinem Ableben zu begleiten. Ich gehörte nicht
dazu. Später liess ich mir sagen, bei seinem friedlichen Einschlafen hätten die
Anwesenden russische Volksweisen intoniert.
André Ratti und ich auf dem Balkon des Hauses in Comano |
© Nikolaus Wyss
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3 Kommentare:
Danke für diese Bilder. Sie wecken in mir Erinnerungen.
Eine Frage trage ich jetzt neu mit mir rum. In welcher Wohnung im Triemli war ich jeweils, 2 oder 3 Zimmer? Black Out.
Tja. Ich war noch sehr jung, aber ich kein Junge im angesprochenen Sinn. Er hat sich mir auch nie angenähert. Komisch. Für mich war er einfach ein Gesprächspartner.
Kennen gelernt habe ich ihn durch einen DiskJockey während meiner Mascotte-Zeit in Zürich. Da war ich oft der einzige Hetro. Das war es wohl, warum ich diese “anderen“ Menschen gerne mochte.
Ich bin nicht schwul. Ich lernte Andre Ratti in Zürich kennen, an einer Vernissage. Nie werde ich meine Begegningen mit ihm vergessen. Wiir trafen uns oft auch in Basel. Ich war da,als einer der Manager der Rheinbrücke AG (heute MANOR). Als ich als "Aussteiger" das Unternehmen verliess, drängte er mich, in die Aidshilfe einzusteigen, doch fehlte mir damals der Mut.
Ich denke oft an André, an das historische Nachtessen mit seinen Freunden in eine, berühmten Basler Restaurant, das kurz vor seinem Tod stattfand. Immer, wenn ich an André denke, muss ich meine Tränen unterdrücken, was mir aber selten gelingt. Sein Büchlein "Bevor wir aussterben" hüte ich als "Reliquie", war er doch - weit entfernt - mit einem der grossen Päpste verwandt. Manfred Ferrari, Ron/Chiang Mai, www.cipress.net
André war mein erster Freier. Er hat mich am HB Zürich quasi überrumpelt, mit ihm mitzukommen, für 100 Stutz. Das war 1984. Es war sehr nett mit ihm, wir gingen in eine nahegelegene Wohung eines seiner Freunde, gleich beim Kunstgewerbe Museum. Wir haben die berühmte Sarabande von Händel gehört. Seine direkte Art hat mich beeindruckt.
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