Samstag, 19. Mai 2018

Wer kennt noch André Ratti?


Alles hatte mit Reinhard Glättli angefangen, einem grossgewachsenen, neugierigen, schlaksigen Schulabgänger, der noch nicht genau wusste, in welche Richtung sein Leben gehen solle. Nach jedem Lacher – und er lachte viel – warf er den Kopf nach hinten und strich sich dabei die langen Haare aus seinem Gesicht. Ich lernte ihn Ende der 1970er-Jahre kennen, wahrscheinlich in der Fantasio Bar am Rüdenplatz. Das ist nicht mehr genau auszumachen. Von da weg kreuzten sich unsere Wege zufällig, aber regelmässig irgendwo im Niederdorf und endeten jeweils bei einem Glas Bier. Er hatte eine Freundin, schwärmte aber unverhältnismässig oft von André Ratti, mit dem er anscheinend befreundet war. Reinhard wollte uns beide bekannt machen und konnte nicht verstehen, weshalb sich in mir alles gegen eine solche Begegnung sträubte: Eifersucht, Vorbehalte einem lauten Schwulen gegenüber, prinzipielle Abneigung gegen Fernsehgrössen, Aversion gegen füllige Bartträger – und so fort. Ich kannte André Ratti von wissenschaftlichen Sendungen her. Ich hielt ihn für oberflächlich und inkompetent, das genügte mir vollauf.
Eine Zeit lang hörte ich dann nichts mehr von Reinhard. Er hatte vor, seine Krampfadern wegoperieren zu lassen. Doch eines Morgens überraschte mich ein Anruf. Laut und deutlich sagte eine Stimme: Ratti.
Wieso der?, schoss es mir durch den Kopf. Hatte hier etwa Reinhard die Hand im Spiel? – Ratti jedoch teilte mir sachlich, aber bestimmt mit, Reinhard sei an den Folgen des chirurgischen Eingriffs verschieden: Herzversagen!
In Schockstarre fiel ich aufs Bett. Ratti fuhr fort, er gehe nicht an die Beerdigung, er gehe nie an Beerdigungen, und meinte: Ich weiss, dass Reinhard viel von dir gehalten hat. Deshalb rufe ich dich an, damit du es nicht aus der Todesanzeige erfahren musst.
Die Nachricht brachte mich völlig durcheinander. Wie kann so etwas nur möglich sein? So ein junger, hoffnungsfroher Mensch! Und wieso muss ich diese schlimme Nachricht von einem André Ratti erfahren, dem ich doch stets geflissentlich aus dem Weg gegangen bin? Hatte er mit Reinhard womöglich noch ein intimes Verhältnis gehabt?
Ich war erschüttert und brachte keinen richtigen Satz zustande. Zum Schluss seines Anrufes schlug Ratti vor, wir könnten uns doch in Gedenken an Reinhard einmal zu einer Tasse Kaffee treffen. In meinem Zustand vermochte ich mich seines Ansinnens nicht zu erwehren. – Wir machten ab.
Daraus entstand, zum Erstaunen beider, eine ritualisierte Freundschaft. Über Jahre hinweg. Bald war Reinhard kein Thema mehr, es waren Musik, insbesondere Opern, viel Klatsch und Tratsch, Reisen und Bücher. Ratti war früher schliesslich Verlagsbuchhändler beim Walter Verlag gewesen. Mindestens einmal pro Woche quatschten wir ausführlich am Telefon, und an den Samstagen schwammen wir jeweils im Hallenbad Uitikon-Waldegg einige Runden und besuchten dortselbst die Sauna. Von da weg war ich auch Gast bei seinen legendären Suppen-Einladungen. In der kleinen Zweizimmerwohnung beim Triemli kamen Krethi und Plethi zusammen und schufen prekäre Platzverhältnisse. Als er im selben Haus in eine Dreizimmerwohnung umziehen konnte, tat dies den beengten Platzverhältnissen keinen Abbruch. Jetzt kamen einfach noch mehr Gäste vorbei, darunter allerlei Fernsehgrössen aus jener Zeit. Sie sassen bei lauter Opernmusik am Boden, auf dem Badewannenrand, versunken im Sofa oder aufgereiht entlang des Balkongeländers und schlürften seine Suppe.
Ferienbegleitungen nach Comano im Tessin, wo ihm das Haus der Familie des Filmemachers Tobias Wyss zur Verfügung stand, oder oberhalb der Gestade des Lago Maggiore, wo seine Fernsehfreundin Ilse Heim auf der italienischen Seite ein Haus besass, ergänzten unseren freundschaftlichen Kontakt. Ich war kaum je allein mit ihm. Ich gehörte jetzt vielmehr zu seinem Hofstaat. Er liess sich immer von vielen Freunden umgeben und genoss die Bühne, die wir ihm damit gewährten.
Ich fragte mich oft, auf welchen Pfeilern unsere Freundschaft ruhte. Reinhard kann es nicht gewesen sein, auch wenn uns sein Tod zusammengeführt hatte. André Ratti repräsentierte etwas für mich, das mir eigentlich fern lag. Er lebte stellvertretend für mich meinen Schattenteil. Sein Anspruch auf Freiheiten und Übertretungen der herrschenden Normen, seine schamlosen und oft abstrusen Behauptungen schienen vom Saft seiner russischen und bündnerischen Wurzeln genährt zu werden und übten auf mich eine Faszination aus. Er war der laute, aufbrausende, ungerecht urteilende, leidenschaftliche Egomane, der sich regelmässig in Jungs verguckte, die lieber sein Geld entgegennahmen, als seine Zuneigung spüren wollten. In meiner Erinnerung geriet er des Öfteren in Liquiditätsengpässe.
Und dann überraschte er mich plötzlich mit der Idee, an einer Gesprächsrunde des Schweizer Fernsehens über die Nachfolgegeneration der 68er teilzunehmen. Als Stargast hatte er die umstrittene Psychoanalytikerin Alice Miller geladen, die es mit ihrem Buch Das Drama des begabten Kindes auf die Bestsellerliste gebracht hatte. Um sie herum gruppierte Ratti ein paar weitere Teilnehmerinnen und Teilnehmer, an die ich mich nicht mehr erinnere. Mich wollte er als Vertreter der jungen Generation dabeihaben.
Die Aufzeichnung ging vollständig in die Hosen. Das Gespräch wurde einseitig von Alice Miller dominiert, die allerdings auch unzufrieden war über dessen Verlauf, weil sie angeblich ihre Thesen nicht genügend verbreiten konnte. Am darauffolgenden Tag herrschte hektische Telefoniererei, die darin gipfelte, die Absetzung der verunglückten Sendung zu verlangen. Dass ich auch zu denen zählte, welche die Absetzung einforderten, verletzte André zutiefst. Er hielt mich für einen Verräter und Schisshasen.
Abends darauf wurde die Aufzeichnung trotzdem gesendet und kassierte unbarmherzige Kritik. Ratti aber blieb böse auf mich. Die regelmässigen Anrufe und die Ausflüge in die Sauna blieben von da an aus. Irgendwann hörte ich, dass er sich vom Schweizer Fernsehen verabschiedet und ins Tessin abgesetzt habe. Und dann vernahm ich plötzlich, dass er jetzt in Basel lebe.
Anlässlich der nächsten Kunstmesse, die mich, wie jedes Jahr, ans Rheinknie fahren liess, hielt ich es für angebracht, ihn wieder einmal anzurufen. Nach so langer Zeit. Ich beschaffte mir seine Nummer und rief ihn aus einer Telefonkabine am Barfüsserplatz an. Er war überrascht. Nach einer längeren Pause teilte er mir in seiner direkten Art mit: Nikolaus, ich sage es dir grad klipp und klar: Ich habe Aids.
Ich weiss noch, wie ich entlang der Kabinenscheibe nach unten glitt und mit weichen Knien auf dem uringetränkten Boden landete. Und wie seinerzeit bei Reinhard blieben mir wieder die Worte im Halse stecken. Ratti jedoch fuhr weiter und beantwortete vorweg, was wohl als nächste Frage von mir gekommen wäre. Er wünsche momentan keine Besuche, er werde von seiner betagten Mutter gut umsorgt. Seine Sorge sei einzig, dass sie vor ihm ableben könnte. Punkt.
Ein paar Monate später traf ich ihn zufällig am Hauptbahnhof Zürich. Es war kurz nach seinem Einstand als erster Präsident der Aidshilfe Schweiz. Wir begrüssten uns verhalten herzlich. Er hatte Gewicht verloren und meinte dazu sarkastisch, endlich habe er seine Idealfigur erreicht. Ich hielt es bei dieser Gelegenheit für angebracht, ihn zu motivieren, ein paar Erinnerungen aus seinem Leben zusammenzutragen. Ich würde ihn dabei gerne unterstützen. Er habe doch so viel erlebt und sei mit so vielen spannenden Menschen zusammengekommen, dass eine Verschriftlichung seiner Erlebnisse angemessen und interessant wäre. Er stimmte dem Vorhaben zu, und schon ein paar Tage später fuhr ich mit einem Kassettenrekorder und vielen leeren Magnetbändern nach Basel, um ihn aus seinem Leben erzählen zu lassen.
Meine Aktion war ein Debakel. Statt Begegnungen zu schildern oder Geschichten von Freund- und Feindschaften zu erzählen, vermochte er nur zu sagen, dass diese Person besonders interessant und jene Operninszenierung besonders eindrücklich gewesen sei. Seine Beiträge bestanden eigentlich nur aus Bewertungen von Tatbeständen oder Personen. Alles oder jeder war entweder grossartig, fantastisch, herrlich, unglaublich und spannend, oder dann deprimierend, dumm, schlimm. Doch was dies oder jenes zu dem gemacht hatte, das ihn zu diesem Urteil bewog, vermochte er nicht zu sagen. Er entsagte sich jeder Begründung seiner Einschätzungen. Kein Nachhaken fruchtete, und nach drei Besuchen dieser Art gab ich das Vorhaben auf. Statt Geschichten zu verfassen hätte ich eine Ratingliste zusammenstellen können. Glücklicherweise – das Wort ist hier völlig fehl am Platz, ich weiss, aber in Bezug auf unser gemeinsames Vorhaben gleichwohl angebracht – verschlechterte sich sein Gesundheitszustand rapide. Meine gescheiterte Initiative musste nicht mehr thematisiert werden.
Von Weitem konnte ich beobachten, dass sich jetzt ein eingeschworener Kreis von Freunden um ihn bildete, die fest entschlossen waren, ihn bis zu seinem Ableben zu begleiten. Ich gehörte nicht dazu. Später liess ich mir sagen, bei seinem friedlichen Einschlafen hätten die Anwesenden russische Volksweisen intoniert.


André Ratti und ich auf dem Balkon des Hauses in Comano

© Nikolaus Wyss

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3 Kommentare:

Roger Levy, Luzern hat gesagt…

Danke für diese Bilder. Sie wecken in mir Erinnerungen.
Eine Frage trage ich jetzt neu mit mir rum. In welcher Wohnung im Triemli war ich jeweils, 2 oder 3 Zimmer? Black Out.
Tja. Ich war noch sehr jung, aber ich kein Junge im angesprochenen Sinn. Er hat sich mir auch nie angenähert. Komisch. Für mich war er einfach ein Gesprächspartner.
Kennen gelernt habe ich ihn durch einen DiskJockey während meiner Mascotte-Zeit in Zürich. Da war ich oft der einzige Hetro. Das war es wohl, warum ich diese “anderen“ Menschen gerne mochte.

Manfred Ferrari hat gesagt…

Ich bin nicht schwul. Ich lernte Andre Ratti in Zürich kennen, an einer Vernissage. Nie werde ich meine Begegningen mit ihm vergessen. Wiir trafen uns oft auch in Basel. Ich war da,als einer der Manager der Rheinbrücke AG (heute MANOR). Als ich als "Aussteiger" das Unternehmen verliess, drängte er mich, in die Aidshilfe einzusteigen, doch fehlte mir damals der Mut.

Ich denke oft an André, an das historische Nachtessen mit seinen Freunden in eine, berühmten Basler Restaurant, das kurz vor seinem Tod stattfand. Immer, wenn ich an André denke, muss ich meine Tränen unterdrücken, was mir aber selten gelingt. Sein Büchlein "Bevor wir aussterben" hüte ich als "Reliquie", war er doch - weit entfernt - mit einem der grossen Päpste verwandt. Manfred Ferrari, Ron/Chiang Mai, www.cipress.net

Anonym hat gesagt…

André war mein erster Freier. Er hat mich am HB Zürich quasi überrumpelt, mit ihm mitzukommen, für 100 Stutz. Das war 1984. Es war sehr nett mit ihm, wir gingen in eine nahegelegene Wohung eines seiner Freunde, gleich beim Kunstgewerbe Museum. Wir haben die berühmte Sarabande von Händel gehört. Seine direkte Art hat mich beeindruckt.