Montag, 7. Mai 2018

Im Wolfbächli

V.l.n.r. Wolfbachstrasse 9, 11, 15, 19

Dies ist keine Geschichte. Hier folgen bloss ein paar persönliche Notizen entlang einer Zürcher Quartierstrasse. Die Wolfbachstrasse ist eine Art Blinddarm, Nebenarm der verkehrsreichen Hottingerstrasse: Langweilig, dafür ruhig, vernachlässigbar, wenn man dort im Leben nicht einmal etwas Einprägendes erlebt hat. Trifft aber auf mich nicht zu. Die Wolfbachstrasse wäre mir deshalb spontan nie ins Bewusstsein gerückt, hätte mich ein potenzieller Verleger meiner Blogs bei meinem letzten Besuch in Zürich nicht sprechen wollen und vorgeschlagen, sich zum Lunch im Wolfbächli am Steinwiesplatz zu treffen. Als er zur Erklärung ansetzte, wie ich dorthin gelange, konnte ich kennerhaft abwinken und frischte vor unserem Treffen mit einem kleinen Spaziergang alte Erinnerungen auf.

Erste Station: Stepptanz bei Nina Macciacchini. Diese Koryphäe des künstlerischen Tanzes betrieb in den 1960er-Jahren im weissen Häuschen an der Wolfbachstrasse 11 eines ihrer Tanzstudios. Sie war eine vornehme und zu jener Zeit wohl auch hochangesehene Künstlerin mit gnädigem Lächeln. Meine Mutter, darauf bedacht, mir die beste aller Ausbildungen angedeihen zu lassen, gelangte meiner langen Beine wegen zur Überzeugung, ich sei zum Tänzer bestimmt. Also schleppte sie mich eines Tages ins Studio Macciacchini und schlug mir zum Schluss der Akquisitionspräsentation vor, es doch einmal mit Stepptanz zu versuchen. Da ich nicht grad spontan ablehnte – Zweifel galten als Zustimmung –, bekam ich Klapperschuhe und Strumpfhosen ausgeliehen und wurde schon in der nächstfolgenden Woche unter Anleitung von Madame de Vigier, einer von Nina Macciacchini angestellten Hilfskraft, in Fred Astaire unterrichtet, zusammen mit zehn anderen Halbwüchsigen.
Nach einem Jahr galt es, das Eingeübte einem grösseren Publikum zu präsentieren. Die Aufführung fand in einem der Nebensäle des Kongresshauses Zürich statt. Das Publikum bestand, wie meistens in solchen Fällen, aus erwartungsfrohen und stolzen Müttern. Ich liess das Geschehen mit einigen Stolperschritten über mich ergehen, im Bewusstsein, dass es sich damit ausgesteppt hatte. Dieses lärmende Geklapper auf hartem Untergrund war nichts für mich. Ich beschied meiner Mutter, damit aufhören zu wollen. Darauf folgten die kurzen Perioden der Orientierungsläufe im Wald und des Muskeltrainings beim früheren Wrestler Gottfried Grüneisen im Seefeld, der dort zusammen mit seiner rührigen Frau ein Hantelzentrum für schwache Jungs wie mich betrieb, bis meine erschlaffenden Schulleistungen mich dazu zwangen, einen Unterbruch derartiger Freizeitbetätigungen einzulegen. Doch in den Erzählungen meiner Mutter blieb mein Ausflug in die Welt des Showtanzes ein fester Bestandteil, den sie stolz mit dem Satz abzuschliessen pflegte, dass ich sogar im Kongresshaus aufgetreten sei!

Ein Haus weiter ostwärts befindet sich das Gesellenhaus Wolfbach, während 100 Jahren Herberge mit Festsaal des katholischen Gesellenvereins. Ich kenne seine Innenräume allerdings aus anderem Grund. Dort nistete sich nämlich zu jener Zeit das Schweizer Schwarz-Weiss-Fernsehen mit einem zweiten provisorischen TV-Studio ein, aus welchem auch meine Mutter ein paar ihrer Sendungen moderierte. Ich durfte dabei auf leisen Sohlen diesen Produktionen hinter der Kamera beiwohnen Was meinen neidischen Schulkameraden als Privileg vorkam, war aus der Sicht einer besorgten Mutter als Vorkehrung zu verstehen, mich nicht alleine zu Hause oder auf der Strasse herumlungern zu lassen. Ich fühlte mich allerdings in diesem backsteinernen Gesellenhaus nie besonders heimisch und meinte aus dessen Ritzen noch abgestandenen Biergeruch, vermischt mit heiligem Weihrauch, herauszuriechen. Damals war es eben noch von Bedeutung, ob etwas katholischen Ursprungs war oder nicht ...

Wohl hingegen fühlte ich mich in der Schallplattenabteilung des Musikhauses Jecklin, dessen Eingang sich auf der Höhe der Rämistrasse 42 befand. Im Erdgeschoss gab es U-Musik, einen Stock tiefer Klassik. Die Theken, wo ich mir die Vinylplatten anhören konnte, befanden sich auf der rückwärtigen Seite mit Blick auf einen Hof, der von der Wolfbachstrasse her erschlossen wurde. Dort herrschte immer Betrieb mit Ab- und Aufladen von Sperrgut. Oft dachte ich, wenn diese Arbeiter hörten, was ich jetzt höre, sie würden mit Arbeiten sofort aufhören. Die Musik tröstete mich in meiner pubertären Einsamkeit und in meinem Kummer über die vielen abverreckten Latein- und Mathematikprüfungen am Gymnasium, das weiter oben am Hügel lag. Johann Sebastian Bach und Miles Davis waren meine Favoriten, schnell gefolgt von Schuberts, Schumanns und Brahms’ Kammermusik, gleichzeitig aber auch von den Rolling Stones und Lou Reed mit seinen Velvet Underground.
Dass ich meinte, einiges von Musik zu verstehen, und durchaus zu unterscheiden wusste zwischen Beethoven und Mozart, verdanke ich dem Komponisten Armin Schibler, der uns am Gymnasium unterrichtete. Mich störten zwar seine spindeldürren Beine, die jeweils von eng anliegenden Hosen noch betont wurden, und ich konnte mit seinen Kompositionen herzlich wenig anfangen, aber seine Musikstunden bleiben mir in guter Erinnerung.
Er wohnte – und deshalb erwähne ich Schibler hier – mit seiner Familie am anderen Ende der Wolfbachstrasse, beim Steinwiesplatz. Seine Frau Tatjana spielte im Tonhalle-Orchester die Bratsche, und mit Sohn Thomas drückte ich eine Zeit lang die Schulbank. Nicht nur das. Thomas spielte im Schülerorchester das Fagott, und ich hatte damals die fatale Eingebung, dort auch dieses Instrument zu blasen. Was für mich aber eher ein soziales Engagement war, nämlich mit Gleichgesinnten in der Freizeit etwas Sinnvolles anzufangen, entpuppte sich bei Thomas als Berufung. Noch heute, so entnehme ich dem Internet, ist er dem Fagott treu geblieben und lehrt in der Nähe von München. Im Schülerorchester hängte er mich, wen wunderts, in kürzester Zeit ab, und ich war froh, mich, so gut es ging, hinter seinen virtuosen Tönen zu verstecken.

Mit dem Steinwiesplatz verbindet mich auch eine der ersten Ausstellungen des neugegründeten Vereins Kunsthalle Zürich. Wir waren damals, anfangs der 1990er-Jahre, noch ein ambulantes Unternehmen und schlugen an unterschiedlichsten Schauplätzen unsere Zelte auf, unter anderem eben in einem Neubau am Steinwiesplatz, wo später Kieser Training einzog. Ich glaube, es handelte sich um eine Einzelausstellung von Adrian Schiess. Wir Vorstandsmitglieder des Vereins, dem damals noch kaum flüssige Mittel zur Verfügung standen, kommandierten uns selbst zum Hütedienst ab, und ich erinnere mich gut an nicht enden wollende Sonntage in den frisch gemalten Räumen, während denen kein einziger Kunstfreund auftauchte. Da sass ich dann in meditativer Position gegenüber diesen unsäglich genauen, ebenförmigen und sorgfältig platzierten Farbquadern des Künstlers und wusste sie mir eigentlich nicht so recht zu erklären. Kurz, ich langweilte mich. Um meine Präsenz dann doch noch etwas produktiv erscheinen zu lassen, markierte ich für die Statistik mit drei Strichen fiktive Besuche. Das entsprechende Eintrittsgeld legte ich aus eigener Tasche abends in die Kasse.

So weit mein Wiederauffrisch-Spaziergang. Im Restaurant Wolfbach gab es bei erlesenem Wein leckere Kalbsleberli mit Risotto und eine herrliche Crema Catalana. Das Gespräch mit dem Verleger war von Wohlwollen geprägt, Entscheide wurden keine getroffen. So schreibe ich weiterhin meine Blogs und freue mich auf die stets wachsende Leserschaft. Am Anfang waren es im Schnitt 200 pro Beitrag, jetzt stosse ich damit schon bald an die Tausendergrenze. Vielleicht interessieren diese ermutigenden Zahlen den Verleger. Klar, eine Null mehr hintendran wäre schon noch erfreulicher, aber eine Wolfbachstrasse bringt das einfach nicht hin. Doch deswegen zum Broadway wechseln, zu Fred Astaire? – Nein, da mache ich nicht mit!

Links Kieser-Training, hinter dem Baum Schiblers Haus, rechts Rest. Wolfbach


 

© Nikolaus Wyss

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