Freitag, 5. April 2019

Ein Osterbrief

Eine Art freudebringender Osterhase

Meine Lieben
Soll ich jetzt ins Lied meiner Grossmutter einstimmen, ins Lied auch meiner Onkeln und Tanten, meiner Mutter und meines Vaters, die dereinst sangen, wie schnell doch die Zeit vergeht? Es dünkte sie alle, sie rase schneller mit jedem Jahr.
Ich kann nicht abstreiten, dass auch ich dieses Phänomen Jahr für Jahr heftiger empfinde. Feierte ich doch im Februar bei Vollmondschein und Salsa-Rhythmen grad noch meinen 70. Geburtstag, und jetzt ist der März auch schon vorbei.. Wo soll das bloss enden? 
Eine andere Beobachtung hingegen wiegt die Ohnmacht gegenüber der Zeit fast auf: Mit Amama, meiner Grossmutter, pflegten wir jeweils ein Fahri zu machen durch die prachtvolle Frühlingsblust im Emmental. Wir kehrten zu einer schmackhaften Forelle blau in einem der vielen Bären auf der Strecke ein, wir betrachteten andächtig die geraniengeschmückten Bauernhäusern, und wir suchten auf einem abgelegenen Friedhof den Grabstein einer längst verstorbenen Verwandten - und alles, was uns auf diesen Ausflügen widerfuhr, kommentierte sie dankbar mit den Worten: Dass ich das noch erleben darf! 
Auch bei mir herrscht dieses Gefühl vor. Mit jedem Tag stärker. Dass ich bei vollem Bewusstsein und bei unbeeinträchtigter Wahrnehmung dieses Kolumbien noch erleben darf. Dieses Kolumbien, das ich vor bald 50 Jahren schon einmal betrat mit dem Gefühl, jetzt wirklich in der Fremde zu sein. Das weiche, gesüsste Brot war einfach nur schrecklich, der Kaffee ungeniessbar, die Post brauchte 14 Tage, und je länger ich dort verweilte, umso klarer wurde für mich, dass ich in diesem Land nichts verloren habe. Reichlich deprimiert kehrte ich zwei Jahre später ins Heimatland zurück und hatte doch das Gefühl, dort etwas unerledigt hinterlassen zu haben. Es war die Niederlage meines Lebens.
Und jetzt, wieder hier, lebe ich das, was ich vor 50 Jahren vergeblich angestrebt hatte.  Ich habe ein Haus, bin sorglos und gesund, bin umgeben von Freunden und Gästen. Schade nur, dass die Zeit so rast. Die aktuelle Übung besteht darin, den Augenblick zu geniessen, mir jeden Tag dankbar sagen zu dürfen, dass ich das noch erleben darf - in der vagen Hoffnung, damit dem Rasen der Zeit einen kleinen Dämpfer zu versetzen.
Frohe Ostern! 

© Nikolaus Wyss

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3 Kommentare:

Unknown hat gesagt…

Sehr berührend! Was für ein reiches Leben Du hast. Wünsche Dir unendlich viele Augenblicke...Dankbarkeit ist eine sehr gute Haltung. Reife ist eine wunderbare Zeit im Leben...Die beste Zeit finde ich....

Unknown hat gesagt…

Ja, das geht mir und vielen meiner freunden so. Und ich habe mir mit vierzig gesagt, wenn ich fünfzig werde, bin ich zufrieden. Alle zusätzlich jahre sind dann supplement. Das sieht jedoch wieder anders aus, wenn man in diesen jahren und darüber drinn steckt. Rein in einen bären, oder auch ein löwe ist gut, und zugreifen!

VAlentin Altorfer hat gesagt…

Ich freue mich, dass ich noch solche Beiträge erleben darf! Und hoffe auf weitere...