Blick von der warmen Mauer des Hirschengrabens hinunter auf den Seilergraben |
So, wie Träume zuweilen rätselhaft und scheinbar
sinnlos die Nacht bestimmen, so beherrscht mich momentan am helllichten Tag
eine Erinnerung, deren Sinn sich mir bislang nicht erschliessen will. Sie
streift meine Gedanken seit Tagen und fängt damit an, dass ich mich immer darüber
wunderte, dass der Seilergraben
Seilergraben heisst und der Hirschengraben Hirschengraben. Beim Seilergraben kann ich mir den Graben noch
halbwegs vorstellen. Dort hört die Altstadt auf, dort könnte ein Graben den
allzu leichten Zugang zur Stadt verhindert haben. Doch dann gibt es diese Mauer
bergwärts und auf dieser Mauer eine Strasse, die Hirschengraben heisst. Dabei
ist dort weit und breit kein Graben erkennbar, sondern, wenn schon, eine Allee,
ein Höhenweg mit Blick in die Wohnungen der Häuser am Seilergraben unten.
Stadthistorikerinnen und -historiker
mögen diesen Umstand erklären können. Mir gefiel aber die Ungereimtheit der
Grabennamen und deren Lage im Stadtganzen zu gut, um auf meine Fragen einleuchtende
Antworten finden zu wollen.
Die Erinnerung, die mich jetzt
heimsucht, geht so: Dass diese Mauer, die den Hirschengraben trägt, damit
dieser nicht zum Seilergraben hinuntersackt, sich bei direkter
Sonneneinstrahlung recht ordentlich erwärmt, diese Hitze bis zum späteren Abend
speichert und wieder abstrahlt. Sitze ich auf dieser Mauer, wird es mir am
Hintern warm. Zur Verweillust gehört auch, die Beine ins Leere baumeln zu
lassen und nichts zu tun. Es ist später Nachmittag und die Sonne geht bald
unter. Im Seilergraben aber staut sich der Verkehr, Bus und Tram profitieren
wenigstens von ihrer Überholspur. – Ich weiss beim besten Willen nicht, wie es
kommt, dass mir diese Szene auf der Mauer so vertraut ist. Als ob es zu meinem
jugendlichen Alltag gehört hätte, dort zu sitzen und friedlich vor mich hin zu
sinnieren. Doch offenbar genügten die wenigen Male dortigen Verweilens, um eine
Erinnerung einzubrennen, die hier im kalten, regnerischen Bogotá plötzlich
wieder hochkommt, als ob sie hier zu ihrer besonderen Bedeutung gelangen würde.
Ist das eine verschrobene Art von Heimweh an alte Zeiten, die auch dann nicht
zurückkommen würden, könnte ich heute noch auf dieser Mauer sitzen?
© Nikolaus Wyss
Zumindest geografisch verwandt mit diesem Beitrag sind diese Einträge: - Winkelwiese 6 und - An der Winki
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