Dr. Wilhelm Wartmann, Gemälde von Edvard Munch, Kunsthaus Zürich |
Die Winkelwiese
liegt auf einer Anhöhe hinter dem Pfauen und oberhalb der Trittligasse. Von dort
geht es nach allen Seiten bergab. Dieser topografische Umstand bot mir als Bub
das Vergnügen, mit meinem Leiterwagen in halsbrecherischer Fahrt und mit lautem
Getöse bis zum Rösslibrunnen
hinunterzubrettern. Aber auch für leere Autobatterien war die Winkelwiese ein
Segen. Man liess den Wagen einfach abwärtsrollen, legte den zweiten Gang ein
und spielte so lange mit der Kupplung, bis der Motor ansprang. So liess Dr. Wilhelm Wartmann regelmässig
seinen Mercedes mit Faltdach an. Er wohnte damals gegenüber unserem Haus an der
Winkelwiese 5 und trug einen kunstvoll gezwirbelten Schnauz. Er war Direktor
des Kunsthauses gewesen und machte es sich zur Aufgabe, mich als Bub in die
Welt der Kunst einzuführen, indem er mir gegen Taschengeld anerbot, ihm in
seinem Archiv zur Hand zu gehen. Während seine leicht mürrische, stets in
Schwarz gekleidete Frau in der Küche mit dem Geschirr klapperte, schlug er in
seinem stickigen, mit Zeitungen, Zeitschriften, Büchern, Postkartensammlungen
und Bildern überhäuften Archiv, das sich über mehrere Räume erstreckte, ein
Kunstbuch um das andere auf und fragte mich gestreng, von welchem Maler diese
Schwarz-Weiss-Abbildung sein könnte und von wem jene Skulptur.
Ich hatte von nichts eine Ahnung und
interessierte mich im Grunde auch nicht dafür, wer dieser oder jener Künstler
gewesen sein mochte und welche Werke ihm zugeschrieben werden. Mit Blick auf
das Taschengeld zeigte ich mich aber gleichwohl gelehrig und merkte mir so
einige Namen, die Dr. Wartmann in seinem ungebrochenen Sankt-Galler-Dialekt
immer mal wieder fallen liess. So blieben mir Edvard Munch, Aristide Maillol,
Lovis Corinth, Ludwig Kirchner, Oskar Kokoschka
und andere in meinem Gedächtnis haften, allerdings weniger in Verbindung zu
einem ihrer Werke als vielmehr zur abgestandenen, cigarrillogeschwängerten Luft
dieser unaufgeräumten, chaotischen Zimmer im zweiten Stock unseres
Nachbarhauses. Der Höhepunkt von Dr. Wartmanns Bildungsoffensive bestand im
Versuch, mir die Tapisserie von Bayeux näherzubringen. Ich konnte mir
dieses kriegerische Textil-Epos aus dem 11. Jahrhundert nicht so recht
vorstellen, worauf mein rühriger Mentor das Werk mit der Aneinanderreihung von
etwa 30 Postkarten, die dieses Kunstwerk in detaillierter Abfolge zeigten,
veranschaulichte und mir die einzelnen kunstvoll gestickten Schlacht- und
Heiratsszenen erklärte und sie historisch einordnete. Damit nicht genug. Zu
meinem Abschied, denn meine Schulleistungen wurden in der Zwischenzeit so
prekär, dass ich diesen Nebenverdienst bald wieder aufgeben musste, stanzte er
auf beiden Seiten der Postkarten Löcher, worauf seine Frau die einzelnen Karten
mit einer Schnur zu einem Leporello verband. Bei einem Buchbinder schliesslich
liess er eine Schachtel fertigen und übergab mir das rührende Werk mit den
besten Wünschen für eine erfolgreiche Zukunft. – Die Schachtel begleitete mich
ein halbes Leben lang, auch wenn ich sie nie mehr aufgemacht habe. Wo mag sie jetzt
nur hingekommen sein?
An der Winkelwiese 5 wohnte im
ersten Stock Herr Locher mit
seiner Familie. Er war Inhaber des renommierten Leder Locher auf dem Münsterhof, mit ihm verband mich aber ausser
höflichen Begrüssungen auf der Strasse und einem allfälligen Blick auf seine
Schaufensterauslage nichts weiter. Anders stand es um von Orellis im Erdgeschoss. Da wohnte mein Busenfreund jener
Tage, Andres. Er war zwar zwei
Jahre älter als ich, wir verstanden uns aber ausgezeichnet und hielten mit unseren
Streichen die Nachbarschaft auf Trab. Sein Vater pflegte ein gutturales, von etwas Speichel getränktes,
rollendes R. Ich kannte damals sonst niemanden, der sein R so vorzutragen
wusste. Dies verlieh ihm, zusammen mit seiner stattlichen Körpergrösse und
seiner Gangart auf samtenen Pfoten eine gewisse Vornehmheit. Herr von Orelli
fuhr einen Fiat 2100. Am Steuer
trug er geschmeidige Lederhandschuhe, was seine aristokratische Gesinnung
unterstrich, obwohl er nur ein angestellter Elektroingenieur war, wenn auch in
leitender Stellung. An Sonntagen lud er zu Ausfahrten ein. Ich durfte jeweils
zur Erleichterung meiner überlasteten Mutter auch daran teilnehmen und sass im
Fond zusammen mit Andres und seinen Brüdern Gerold und Hannes.
Ich genoss diese Ausflüge, die zum Beispiel zur Modelleisenbahnanlage beim Zoo
oder hinaus aus der Stadt zur Anflugschneise des Flughafens führten. Sie
begannen jeweils mit einem Spaziergang zur Garage des Kaufleuten am Talacker, wo Herr von Orelli
gegenüber seines Arbeitsortes sein Auto zu parken pflegte.
Im Vorfeld des Zürcher
Frühjahrfestes, dem Sechseläuten, veränderte sich jeweils der Hormonhaushalt
der Familie von Orelli dramatisch. Das ganze Erdgeschoss an der Winkelwiese 5
wurde brünstig, bereit, sich mittels des Gleitmittels ihrer Zunft – war es die Saffran? –
mit den vornehmsten Schichten der Stadt zu paaren. Nicht nur das. Herr von
Orelli setzte mit seinen Pflichten als Präsident der Zürcher Zünfte noch das
Tüpfelchen aufs i. Da hatte ich nichts mehr zu berichten. An diesen fraglichen
Tagen sah man ihn schon frühmorgens schwarz gekleidet und mit einer Blume im
Knopfloch die Winkelwiese hinunterschreiten, um seinen zünftigen Pflichten
nachzukommen. Stunden später machten sich dann seine drei Söhne in Pluderhosen,
Hängelocken und Dreispitz auf den Weg, und nochmals einige Zeit später verliess
Frau von Orelli das Haus. Sie hielt viele bunte Sträusse im Arm, die sie
entlang der Umzugsroute denjenigen Männern zuzuwerfen beabsichtigte, die es
ihrer Meinung nach verdienten, mit Blumen beworfen zu werden.
An der Winkelwiese 10 schliesslich
wohnte das äusserst zurückhaltende Fräulein Dr. Gross. Ihr ging der Ruf voraus, reich zu sein, war sie doch
die Besitzerin dieser Villa. Wenn sie vorbeischritt, wackelte ihr Kopf ein
bisschen. Bedeutsamer war jedoch, dass dort zur Miete auch der damalige Stadtpräsident von Zürich wohnte, Emil Landolt mit Familie. Ich
begegnete ihm oft auf der Strasse, abends nicht mehr ganz nüchtern, aber er
liess es sich nie nehmen, sich jedes Mal nach dem Befinden meiner Mutter zu
erkundigen und mir die Hand zu schütteln. Er schüttelte sie aus dem Handgelenk
heraus, horizontal, sein Arm bewegte sich dabei nicht. Niemand sonst schüttelte
mir die Hand auf diese Weise.
Was der Stapi an unbekümmerter Geselligkeit ausstrahlte, ging allerdings
den übrigen Familienmitgliedern ab. Seine Frau zum Beispiel brauchte schon eine
direkte Ansprache, um überhaupt zurückzugrüssen. Dann waren da Töchter, die mit
langen Schritten und wadenlangen, baumwollenden Jupes und dicken Strümpfen daherkamen,
und da war der verträumte Elias,
von dem es hiess, er sei an der ETH ein grosses Tier. Ich glaube, sie alle
genierten sich ein bisschen für den Papa und verhielten sich vielleicht
deswegen besonders zurückhaltend und scheu.
Zur Winkelwiese gehörte auch noch
die Schauspielschule in der Nummer 4, der Villa Tobler. Bei schönem Wetter übten die Studierenden im Garten
Fechten und Vokale. Montags war das A dran, dienstags das O, mittwochs das E,
donnerstags das U und am Freitag das I. Ich fragte mich immer, was sie denn mit
dem Ä, dem Ö und dem Ü anstellten. Samstags zu Hause? Oder sonntags, wenn ich
in von Orellis elegantem und stets blitzblank lackiertem Fiat unterwegs war?
Es gibt an dieser Winkelwiese nicht
mehr als diese vier Häuser, auch wenn das letzte die Nummer 10 trägt. Ich
fragte mich als Junge oft, wo denn die anderen sechs Häuser hingekommen sein
könnten, und konnte mir irgendwie nicht vorstellen, wie früher einmal am
steilen Abhang gegen den Hirschengraben hinunter weitere Häuser gestanden
hatten. Aber die Frage regte meine Fantasie an. Ich besiedelte diese
Quartierstrasse nach eigenen Vorstellungen mit weiteren Häusern auf Stelzen und
war überzeugt, dass sie vor langer Zeit anlässlich eines gewaltigen Erdbebens
den Hang runtergestürzt sein mussten. Diese Vorstellung liess mich regelmässig
erschauern und wurde bei jedem Bericht über ein Erdbeben irgendwo auf dieser
Welt reaktiviert. Einzig die Grotte überlebte offenbar das schreckliche
Ereignis. Dort, ausser Sichtweise vom Elternhaus, rauchte ich mit Andres
jeweils Nielen und spielte Indianerlis, bis wir eines Tages gewahr wurden, dass
dieser Abhang mit doch sehr viel Hundescheisse eingedeckt war.
Zu von Orellis noch dies: Nach
seiner Lehre als Kaufmann zog es Andres in die weite Welt. Er trat eine Stelle
auf den Philippinen an. Von dort ereilte mich Monate später, ich befand mich
damals in Lateinamerika, die Nachricht, er sei bei einem Verkehrsunfall ums
Leben gekommen.
Der alte von Orelli hingegen, das
hat mir meine Mutter erst viel später einmal berichtet, soll mit der Zeit
altersstarrsinnig geworden sein und meine Mutter jeweils aufs Übelste als Linke
beschimpft haben, wenn sich die beiden auf dem Vorplatz begegnet sind. Sie sei
schuld an der Bewegung der Zürcher
Jugend und am Niedergang der bürgerlichen Kultur. Besorgt soll seine
Frau vom Fenster aus diese verbalen Attacken jeweils beobachtet haben. Im Nachhinein
kam sie dann mit einem Blumenstrauss unter dem Arm bei meiner Mutter vorbei, um
sich für das unangemessene Betragen ihres Gatten zu entschuldigen.
© Nikolaus Wyss
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