Freitag, 7. Dezember 2018

An der Winki

Dr. Wilhelm Wartmann, Gemälde von Edvard Munch, Kunsthaus Zürich
 
Die Winkelwiese liegt auf einer Anhöhe hinter dem Pfauen und oberhalb der Trittligasse. Von dort geht es nach allen Seiten bergab. Dieser topografische Umstand bot mir als Bub das Vergnügen, mit meinem Leiterwagen in halsbrecherischer Fahrt und mit lautem Getöse bis zum Rösslibrunnen hinunterzubrettern. Aber auch für leere Autobatterien war die Winkelwiese ein Segen. Man liess den Wagen einfach abwärtsrollen, legte den zweiten Gang ein und spielte so lange mit der Kupplung, bis der Motor ansprang. So liess Dr. Wilhelm Wartmann regelmässig seinen Mercedes mit Faltdach an. Er wohnte damals gegenüber unserem Haus an der Winkelwiese 5 und trug einen kunstvoll gezwirbelten Schnauz. Er war Direktor des Kunsthauses gewesen und machte es sich zur Aufgabe, mich als Bub in die Welt der Kunst einzuführen, indem er mir gegen Taschengeld anerbot, ihm in seinem Archiv zur Hand zu gehen. Während seine leicht mürrische, stets in Schwarz gekleidete Frau in der Küche mit dem Geschirr klapperte, schlug er in seinem stickigen, mit Zeitungen, Zeitschriften, Büchern, Postkartensammlungen und Bildern überhäuften Archiv, das sich über mehrere Räume erstreckte, ein Kunstbuch um das andere auf und fragte mich gestreng, von welchem Maler diese Schwarz-Weiss-Abbildung sein könnte und von wem jene Skulptur.
Ich hatte von nichts eine Ahnung und interessierte mich im Grunde auch nicht dafür, wer dieser oder jener Künstler gewesen sein mochte und welche Werke ihm zugeschrieben werden. Mit Blick auf das Taschengeld zeigte ich mich aber gleichwohl gelehrig und merkte mir so einige Namen, die Dr. Wartmann in seinem ungebrochenen Sankt-Galler-Dialekt immer mal wieder fallen liess. So blieben mir Edvard Munch, Aristide Maillol, Lovis Corinth, Ludwig Kirchner, Oskar Kokoschka und andere in meinem Gedächtnis haften, allerdings weniger in Verbindung zu einem ihrer Werke als vielmehr zur abgestandenen, cigarrillogeschwängerten Luft dieser unaufgeräumten, chaotischen Zimmer im zweiten Stock unseres Nachbarhauses. Der Höhepunkt von Dr. Wartmanns Bildungsoffensive bestand im Versuch, mir die Tapisserie von Bayeux näherzubringen. Ich konnte mir dieses kriegerische Textil-Epos aus dem 11. Jahrhundert nicht so recht vorstellen, worauf mein rühriger Mentor das Werk mit der Aneinanderreihung von etwa 30 Postkarten, die dieses Kunstwerk in detaillierter Abfolge zeigten, veranschaulichte und mir die einzelnen kunstvoll gestickten Schlacht- und Heiratsszenen erklärte und sie historisch einordnete. Damit nicht genug. Zu meinem Abschied, denn meine Schulleistungen wurden in der Zwischenzeit so prekär, dass ich diesen Nebenverdienst bald wieder aufgeben musste, stanzte er auf beiden Seiten der Postkarten Löcher, worauf seine Frau die einzelnen Karten mit einer Schnur zu einem Leporello verband. Bei einem Buchbinder schliesslich liess er eine Schachtel fertigen und übergab mir das rührende Werk mit den besten Wünschen für eine erfolgreiche Zukunft. – Die Schachtel begleitete mich ein halbes Leben lang, auch wenn ich sie nie mehr aufgemacht habe. Wo mag sie jetzt nur hingekommen sein?
An der Winkelwiese 5 wohnte im ersten Stock Herr Locher mit seiner Familie. Er war Inhaber des renommierten Leder Locher auf dem Münsterhof, mit ihm verband mich aber ausser höflichen Begrüssungen auf der Strasse und einem allfälligen Blick auf seine Schaufensterauslage nichts weiter. Anders stand es um von Orellis im Erdgeschoss. Da wohnte mein Busenfreund jener Tage, Andres. Er war zwar zwei Jahre älter als ich, wir verstanden uns aber ausgezeichnet und hielten mit unseren Streichen die Nachbarschaft auf Trab. Sein Vater pflegte ein gutturales, von etwas Speichel getränktes, rollendes R. Ich kannte damals sonst niemanden, der sein R so vorzutragen wusste. Dies verlieh ihm, zusammen mit seiner stattlichen Körpergrösse und seiner Gangart auf samtenen Pfoten eine gewisse Vornehmheit. Herr von Orelli fuhr einen Fiat 2100. Am Steuer trug er geschmeidige Lederhandschuhe, was seine aristokratische Gesinnung unterstrich, obwohl er nur ein angestellter Elektroingenieur war, wenn auch in leitender Stellung. An Sonntagen lud er zu Ausfahrten ein. Ich durfte jeweils zur Erleichterung meiner überlasteten Mutter auch daran teilnehmen und sass im Fond zusammen mit Andres und seinen Brüdern Gerold und Hannes. Ich genoss diese Ausflüge, die zum Beispiel zur Modelleisenbahnanlage beim Zoo oder hinaus aus der Stadt zur Anflugschneise des Flughafens führten. Sie begannen jeweils mit einem Spaziergang zur Garage des Kaufleuten am Talacker, wo Herr von Orelli gegenüber seines Arbeitsortes sein Auto zu parken pflegte.
Im Vorfeld des Zürcher Frühjahrfestes, dem Sechseläuten, veränderte sich jeweils der Hormonhaushalt der Familie von Orelli dramatisch. Das ganze Erdgeschoss an der Winkelwiese 5 wurde brünstig, bereit, sich mittels des Gleitmittels ihrer Zunft – war es die Saffran? – mit den vornehmsten Schichten der Stadt zu paaren. Nicht nur das. Herr von Orelli setzte mit seinen Pflichten als Präsident der Zürcher Zünfte noch das Tüpfelchen aufs i. Da hatte ich nichts mehr zu berichten. An diesen fraglichen Tagen sah man ihn schon frühmorgens schwarz gekleidet und mit einer Blume im Knopfloch die Winkelwiese hinunterschreiten, um seinen zünftigen Pflichten nachzukommen. Stunden später machten sich dann seine drei Söhne in Pluderhosen, Hängelocken und Dreispitz auf den Weg, und nochmals einige Zeit später verliess Frau von Orelli das Haus. Sie hielt viele bunte Sträusse im Arm, die sie entlang der Umzugsroute denjenigen Männern zuzuwerfen beabsichtigte, die es ihrer Meinung nach verdienten, mit Blumen beworfen zu werden.
An der Winkelwiese 10 schliesslich wohnte das äusserst zurückhaltende Fräulein Dr. Gross. Ihr ging der Ruf voraus, reich zu sein, war sie doch die Besitzerin dieser Villa. Wenn sie vorbeischritt, wackelte ihr Kopf ein bisschen. Bedeutsamer war jedoch, dass dort zur Miete auch der damalige Stadtpräsident von Zürich wohnte, Emil Landolt mit Familie. Ich begegnete ihm oft auf der Strasse, abends nicht mehr ganz nüchtern, aber er liess es sich nie nehmen, sich jedes Mal nach dem Befinden meiner Mutter zu erkundigen und mir die Hand zu schütteln. Er schüttelte sie aus dem Handgelenk heraus, horizontal, sein Arm bewegte sich dabei nicht. Niemand sonst schüttelte mir die Hand auf diese Weise.
Was der Stapi an unbekümmerter Geselligkeit ausstrahlte, ging allerdings den übrigen Familienmitgliedern ab. Seine Frau zum Beispiel brauchte schon eine direkte Ansprache, um überhaupt zurückzugrüssen. Dann waren da Töchter, die mit langen Schritten und wadenlangen, baumwollenden Jupes und dicken Strümpfen daherkamen, und da war der verträumte Elias, von dem es hiess, er sei an der ETH ein grosses Tier. Ich glaube, sie alle genierten sich ein bisschen für den Papa und verhielten sich vielleicht deswegen besonders zurückhaltend und scheu.
Zur Winkelwiese gehörte auch noch die Schauspielschule in der Nummer 4, der Villa Tobler. Bei schönem Wetter übten die Studierenden im Garten Fechten und Vokale. Montags war das A dran, dienstags das O, mittwochs das E, donnerstags das U und am Freitag das I. Ich fragte mich immer, was sie denn mit dem Ä, dem Ö und dem Ü anstellten. Samstags zu Hause? Oder sonntags, wenn ich in von Orellis elegantem und stets blitzblank lackiertem Fiat unterwegs war?
Es gibt an dieser Winkelwiese nicht mehr als diese vier Häuser, auch wenn das letzte die Nummer 10 trägt. Ich fragte mich als Junge oft, wo denn die anderen sechs Häuser hingekommen sein könnten, und konnte mir irgendwie nicht vorstellen, wie früher einmal am steilen Abhang gegen den Hirschengraben hinunter weitere Häuser gestanden hatten. Aber die Frage regte meine Fantasie an. Ich besiedelte diese Quartierstrasse nach eigenen Vorstellungen mit weiteren Häusern auf Stelzen und war überzeugt, dass sie vor langer Zeit anlässlich eines gewaltigen Erdbebens den Hang runtergestürzt sein mussten. Diese Vorstellung liess mich regelmässig erschauern und wurde bei jedem Bericht über ein Erdbeben irgendwo auf dieser Welt reaktiviert. Einzig die Grotte überlebte offenbar das schreckliche Ereignis. Dort, ausser Sichtweise vom Elternhaus, rauchte ich mit Andres jeweils Nielen und spielte Indianerlis, bis wir eines Tages gewahr wurden, dass dieser Abhang mit doch sehr viel Hundescheisse eingedeckt war.
Zu von Orellis noch dies: Nach seiner Lehre als Kaufmann zog es Andres in die weite Welt. Er trat eine Stelle auf den Philippinen an. Von dort ereilte mich Monate später, ich befand mich damals in Lateinamerika, die Nachricht, er sei bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen.
Der alte von Orelli hingegen, das hat mir meine Mutter erst viel später einmal berichtet, soll mit der Zeit altersstarrsinnig geworden sein und meine Mutter jeweils aufs Übelste als Linke beschimpft haben, wenn sich die beiden auf dem Vorplatz begegnet sind. Sie sei schuld an der Bewegung der Zürcher Jugend und am Niedergang der bürgerlichen Kultur. Besorgt soll seine Frau vom Fenster aus diese verbalen Attacken jeweils beobachtet haben. Im Nachhinein kam sie dann mit einem Blumenstrauss unter dem Arm bei meiner Mutter vorbei, um sich für das unangemessene Betragen ihres Gatten zu entschuldigen.

© Nikolaus Wyss

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