Doch die Stadtbenützer färben aufgrund persönlicher Erlebnisse und Neigungen ihre Stadt auf oft eigensinnige Art und Weise ein.
Als Beispiel ist mir ein irritierender Streit in Erinnerung, bei dem es um die Behauptung ging, dass sich in einem bestimmten Haus ein Brillengeschäft befinde. Wie sich bei meinem nächsten Gang durch diese Strasse herausstellte, gab es dort tatsächlich einen Optiker. Mir war dies aber als Nicht-Brillenträger all die Jahre entgangen, während der andere, ein passionierter Brillenträger, die Stadtlandschaft besonders stark auf Optikerläden hin ausleuchtete.
Die Bedeutung der Strassenecke oder Hecke, an der der erste Kuss ausgetauscht wurde oder wo man etwas liegenliess oder wo, weit schlimmer, eine unangenehme Auseinandersetzung stattgefunden hat, ist nicht klein. Alle Erlebnisse tragen zu einem individuellen, emotionalen Stadtplan bei, der in seiner Konsequenz das Verhalten der Leute durchaus beeinflusst, indem gewisse Plätze besonders bevorzugt und andere besonders gemieden oder gar, wie beim Brillengeschäft, ganz aus dem Gedächtnis gestrichen werden.
Für eine Handvoll Leute stehen nun seit genau 48 Jahren auf der Grossen Schanze zu Bern und auf dem Zürcher Sechseläutenplatz beim Bellevue Würfel beachtlichen Ausmasses. Sie haben eine Kantenlänge von 25 Metern und wurden vom damals 23jährigen Berner Künstler Carlo Lischetti auf geheimnisvoll rituelle Art mit dem Phantasiestoff Teleplasma errichtet. In Zürich brauchte er dafür nicht einmal eine Baubewilligung, denn die Errichtung fand gleich nach dem Abzug des Circus Knie statt, und der Boden war noch ein Schlachtfeld aus Sägemehl und Pferdeäpfeln. Lischetti blies gedanklich ein kleines Modell (Massstab 1:100) auf. Damit er beim Vergrössern nicht ausser Atem kam, hatte er sein Modell fünfschichtig angelegt. Dies erlaubte ihm, «nach jeder Schicht einen Moment Ruhe und erneute Konzentration zu finden», wie der Künstler in einem für diese Aktion herausgebrachten Bauprospekt mitteilte.
Nach vollbrachter Tat wurden den Schaulustigen Crèmeschnitten in Kubenform und Bier aufgetischt. Lischetti: «Ich hätte natürlich gern das Fernsehen dabei gehabt, aber Werner Vetterli hat mir damals gesagt, man sehe ja sowieso nichts...»
Der Berner und der Zürcher Würfel, einem natürlichen und durch Umweltverschmutzung etwas beschleunigtem Zersetzungs- und Alterungsprozess ausgesetzt, sollen mit diesen Zeilen einen neuen, witterungsbeständigeren Anstrich erhalten und so mit frischem Glanz das Stadtbild prägen. Beide sind schliesslich witzige Denkmäler für eine Kunstrichtung, die ihre Skulpturen mehr in Gedanken haut als in Stein. Ihre Qualitäten überdauern, wann immer sich jemand daran erinnert, Jahrzehnte und sind weder von einem raffgierigen Museumsbetrieb noch vom schnellen Kunstmarkt vereinnehmbar.
Das einzige Problem besteht darin, dass auf solchen Gebilden zuweilen achtlos herumgetrampelt wird: Welcher zünftige Reiter auf der Sechseläutenplatz beispielsweise schert sich bei seinem Umritt um den Böögg schon darum? - Lischetti und seine Beobachter, die damals dem Aufbau beiwohnten, mögen diese Missachtung mit einem Lächeln wegstecken, einem Schmunzeln auch, denn wie anstrengend muss es doch für diese buntgeschmückten Akteure sein, sich durch diese Masse von Würfelmaterial zu zwängen und erst noch so locker auszusehen, als ob dort gar nichts zu durchdringen wäre!
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Dieser Text erschien das erste Mal in der Rubrik "Affiche" vom 25./26. Mai 1990 im Magazin des Tages-Anzeigers und wurde, was die Jahreszahlen und Goggle-Maps anbetrifft, auf die heutige Zeit angepasst. Lischetti übrigens starb 2005. Der Würfel aber überstand auch den Wandel der Sechseläutenwiese in den Sechseläutenplatz. Erstaunlich.
© Nikolaus Wyss
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