Mit Chai in guten Tagen |
29. November 1997 Heute vor zwei Jahren organisierten wir für Chai ein
kleines Abschiedsessen. Wir waren zu zwölft. R. brachte selbst
zubereitete Sushi mit, F. kochte eine leichte Nudelsuppe, M.
meinte mit in Sesam gewendeten und gebratenen Randen Freude zu bereiten, H.-M.
stiftete den Wein und D. hatte eine Süssspeise vorbereitet. So sassen
wir am Tisch, während Chai im angrenzenden Raum gegen seine Schmerzen
ankämpfte. Meine Mutter sass bei ihm, hielt ihm die Hand und redete ihm gut zu,
wie man einem verletzten Tier oder einem weinenden Kind gut zuredet. Ich ertrug
es kaum. Später überliess sie M. den Platz am Bettrand. Diese steckte, wie
abgemacht, dem Schwerkranken noch etwas Reisegeld zu und verabschiedete sich
von ihm auf eine Weise, wie es unter Psychologen wohl üblich ist, wenn
endgültige Abschiede anstehen. Das Lehrbüchlein scheint in einem solchen Falle
zu empfehlen, mit dem Scheidenden zusammen gefasst der Endgültigkeit ins Auge
zu blicken und die Unausweichlichkeit des letzten Males mit einer kräftigen
Umarmung zu besiegeln.
Nach dieser Behandlung war dann F. an der Reihe
und später R. Sie gingen nachdenklich hinein und kamen kurze Zeit später
sichtlich erschüttert wieder heraus. Und plötzlich tauchte Chai unsicheren
Schrittes unter dem Türrahmen auf und gesellte sich an unseren Tisch, doch nur
kurz, denn von den Küchengerüchen wurde ihm übel und er liess sich wieder ins
Bett bringen, den Kotzkübel neben sich.
Chais Zustand hatte uns allen auf den Magen
geschlagen, und als sich die Freunde allmählich verabschiedeten, gab ich ihnen
von den vielen übrig gebliebenen Speisen noch etwas mit auf den Weg. Wie sehr
wünschte ich mir doch, er könnte sterben heute Nacht. Ich sagte es allen, die
sich unter der Tür von mir mit einer Umarmung verabschiedeten. Die
bevorstehende Reise machte mir Angst, doch sie entsprach seinem Wunsche. Er
wollte unbedingt mit seinen Eltern und seinen Geschwistern noch die letzten
Dinge besprechen, wollte sich für ein paar Wochen an einem Strand erholen und
dann fürs Sterben wieder zu uns nach Europa kommen. Deshalb das
Rückreise-Ticket. Er hielt von den dortigen Spitälern nicht viel, die hiesigen
hingegen waren ihm von seinen zahlreichen Chemotherapien und Bestrahlungen her
schon vertraut. Das war sein ganzer Plan. Er packte selbst seinen Koffer, aber
nur mit wenig, er sollte ja zurückkommen und dann froh sein um ein paar warme
Sachen hier.
Zu den Reisevorbereitungen gehörte auch ein
weiterer Spitalbesuch, wo er mit Blutkonserven, Medikamenten und Schmerzmitteln
vollgepumpt wurde. Der Arzt schrieb zu Handen der Fluggesellschaft ein Attest,
welches Chai für reisefähig erklärte. Das war kühn und ein Freundschaftsdienst,
ging aber von der Erfahrung aus, dass todkranke Patienten es im Allgemeinen
noch bis nach Hause schaffen, auch wenn sie, wie Chai auch, bis auf die Knochen
abgemagert waren. Seine Stimme versagte bereits. Was ihm blieb war ein Hauchen
und Piepsen. Unter seiner Haut hatten sich schon überall Knoten und Beulen
gebildet. Er konnte sich kaum auf den Beinen halten, und wenn er ging, nahm er
sich einen Stock zu Hilfe. Wenn ich ihm aber den Stock reichte, beklagte er sich
schon mal, ich würde ihn behandeln wie einen Schwerkranken. Anstelle von Tee
trank er nur noch heisses Wasser, und Suppen waren das Einzige an Nahrung, die
ihm verblieb. Er nahm sie schlückchenweise zu sich.
Ich erinnere mich noch, wie ich um diese Zeit herum
mit Weinen aufhörte. Den ganzen Sommer über hatte ich geweint. Ich verzog mich
jeweils unter die Dusche. Sie war Nährlösung für meine Tränen und gleichzeitig
dämpfende Geräuschkulisse. Noch nie hatte ich so anhaltend geduscht wie in
jenem Sommer. Es kam vor, dass ich nach dem Abtrocknen den Duschknopf nochmals
andrehte, weil mich neue Weinkrämpfe überkamen. – Hatte Chai damals meinen
Schmerz mitbekommen? Es war in jenen Tagen unheimlich still in unserem kleinen,
engen Haus. Chai wollte keine Musik mehr hören, sein körperlicher Aufruhr
liessen ihn die Harmonien als verlogen empfinden. Einzig das tiefe Röhren des
tibetischen Mönchgesangs dröhnte manchmal aus den Lautsprecherboxen durch die
Räume, doch auch das nur für kurze Zeit. Ja, er musste mich weinen gehört
haben. Eigentlich machte ich keinen Hehl aus meinen Gefühlen. Wie oft war es
vorgekommen, dass es mir auch in seiner Gegenwart die Stimme verschlug. Mit
zugeschnürter Kehle und wässrigen Augen sass ich dann da und liess mich von
seiner überlegenen Art trösten. Er hätte keine Angst vor dem Tod, behauptete er
immer wieder, aber ein bisschen leben würde er schon noch gerne wollen. Chai
fühlte sich mir gegenüber überlegen und genoss es, wie der verzweifelte Freund
immer wieder einmal die Fassung verlor. Er hielt mich in jenen Tagen für einen
armseligen Tropf, der für eine ordentliche Krankenpflege und eine richtige
Freundschaft nicht eben viel taugte. In meinem Zustand entging mir der leicht
verächtliche Unterton, der in seinen Äusserungen mitschwang. Erst viel später
nach Chais Tod trugen mir Freunde in einer Art von Bewunderung zu, wie viel ich
doch an abfälligen Bemerkungen aus dem Krankenlager hätte ertragen müssen. Ich
aber war mit meinen Sorgen viel zu beschäftigt, als dass ich wahrgenommen hätte,
wie Chai mich mehr als einmal zum Gespött aller hatte machen wollen.
Kurz vor der Abreise also hörte ich mit Weinen
auf. Ich geriet in den Zustand eines professionellen Pflegers, der für alles
umsichtig aufzukommen hatte. Da war kein Platz mehr für Sentiment. Mein
Mitgefühl zeigte sich jetzt ausschliesslich in den notwendigen und von Pflicht
und Verantwortung getragenen Verrichtungen. Je schwerwiegender der Verlauf
seiner Krankheit, umso mehr rückten meine Gefühle als naher Freund, mit dem ich
meine Hochs und Tiefs hätte teilen können, in den Hintergrund. Er tat mir
unsäglich leid, doch ich spürte deutlich, dass er sich bereits woanders befand,
wo ich keinen Zutritt mehr hatte. Seinen Zustand in jenen Tagen beschrieb er
mit dem Wort „numb“: duselig, erstarrt, gefühllos. Ich führte dies einerseits
auf die Wirkung der starken Schmerzmittel zurück, andrerseits aber schien mir
diese Situationsbeschreibung auch eine gute Methode, mich draussen zu halten,
mich nicht mehr teilhaben zu lassen an seiner Reise, die ihn schon bald ins
Jenseits führen würde. So prallten meine Worte „I love you“ an ihm ab und
erstarrten in ähnlicher Formelhaftigkeit wie seine Mantras, die er mit der
Mala-Kette in der Hand von morgens bis abends vor sich hinmurmelte und darob
regelmässig einschlief. Und gleichwohl sagte ich weiterhin und bei jeder
Gelegenheit „I love you“, obwohl mir klar war, dass ich es nur noch zu mir selbst
sagte.
30. November 1997
Heute vor zwei Jahren fuhren wir zum Flughafen.
Chai thronte vorne neben dem Taxichauffeur, eingepackt in Wintermantel und Hut,
beide Hände auf seinen Stock gestützt. Im Fond eingezwängt sassen H.-M. und
ich. Wir schwiegen während der Fahrt. Die Strassen waren von den Niederschlägen
der vergangenen Nacht noch feucht, die Wolken am Horizont drohten mit
Schneefall. Der Wind blies und wirbelte die letzten Blätter durch die Luft. An
der Haltestelle Friedrichstrasse warteten die Leute auf den Bus, dann fuhren
wir am Haus von Maler Schweizer vorbei. Wir sahen dort drüben Frau Baumann
die Strasse überqueren, und wir beobachteten die Kinder von Barbara. Sie
hatten leuchtend rote Täschchen umgehängt und waren wohl auf dem Weg zum
Kindergarten. Der Rauch der Kehrichtverbrennungsanlage zeichnete eine bizarre
Linie. Das Warten vor dem Rotlicht erlaubte uns einen Blick auf die Schlagzeile
des Tages: „Traumpaar vor Scherbenhaufen: Lolita und Lothar Trennung!“
Alles betrachtete ich mit dem Gefühl des letzten
Males. H.-M. und ich sahen einander an, während Chai auf der ganzen Fahrt
regungslos auf die Strasse starrte. Die Stimmung war bedrückt und gerade
deshalb so wahrhaftig. Wir liessen irgendwelche Floskeln, die der Fahrt
vielleicht etwas von ihrer Schwere genommen hätten, bleiben. Wir begleiteten
Chai auf seiner letzten Reise. Im Gegensatz zum Vorabend war ich aber
überzeugt, dass wir die Reise schaffen würden. Ich war gerüstet. In meinem
Handgepäck befanden sich neben einem Thermoskrug mit heissem Wasser zehn
Morphium-Ampullen, deren Injektion ich mir vom Hausarzt noch hatte erklären
lassen. Ich führte eine Menge von Zäpfchen und teuren Tabletten mit mir. Meine
grösste Sorge waren die Sitzplätze im Flugzeug. Bereits beim Kauf der
Flugscheine wies ich auf den speziellen Zustand meiner Begleitung hin in der
Hoffnung, Chai in seiner ganzen Hinfälligkeit erhielte beim Einchecken eine
Vorzugsbehandlung. Doch auf dem Flughafen liess sich das Fräulein am Counter
nicht erweichen. Auch der Rollstuhl, auf den wir den Patienten gesetzt hatten,
förderte ihr Mitleid nicht, ebensowenig die Bestellung eines chinesischen Vegetarier-Menüs.
Das Flugzeug war in der Economy-Klasse proppenvoll.
Mir wurde übel. Ich musste an all die möglichen Zwischenfälle wie
Zusammenbruch, Schmerzkrämpfe und Tod denken. Wahrscheinlich wäre mir zum
damaligen Zeitpunkt ein Flugzeugabsturz lieber gewesen als diese
Unannehmlichkeiten. Zur Stabilisierung seines Kopfes hatte ich Chai eine
aufblasbare Halskrause umgelegt. Er sass stumm da und verlangte nur ab und zu
nach einem Schluck heissen Wassers. So flogen wir über Frankfurt nach Asien,
und es war das erste Mal, dass ich keinen Fensterplatz hatte und weder von den
Wolken, den Steppen, den Flusslandschaften, dem Meer, dem Mondschein, noch von
den funkelnden Lichtern der Städte im Tiefschlaf und den Sternen etwas
mitbekam. Ich hatte nur Chai neben mir, den ich um alles in der Welt
heimbringen musste nach Ipoh, Perak, Malaysia.
1. Dezember 1997
Heute vor zwei Jahren landeten wir in Kuala
Lumpur. Zuvor gab es im Flugzeug Morgenturnen. Die ganze Kabine streckte
nach Anweisung einer Gymnastiklehrerin, die über die Monitore des Flugzeugs
flimmerte, Arme und Beine, drehte sich im engen Sitz auf die eine und auf die
andere Seite, rollte mit den Augen, massierte die Schläfen und winkte mit den
Zehen. Tatsächlich war ich nachher leidlich munter, während Chai regungslos und
numb blieb, noch immer erschöpft von seinem nächtlichen Gang zur Toilette der
Business Class, wo er gut und gerne zwanzig Minuten verweilte. Er spürte seit
Wochen einen ständigen Drang, aber es war nicht nur seine Scheisse, die drückte
und doch nicht kommen wollte, das Völlegefühl stammte vor allem vom
metastasierenden Krebs. Doch diesmal verliess er nach Tagen das erste Mal
wieder erleichtert das Klo und vermeldete seinen Erfolg. Ich war glücklich.
Doch bald darauf setzte ein Schub schwerster Schmerzen ein, und er musste sich
mit meiner Hilfe ein hochdosiertes Morphiumzäpfchen einführen lassen. Dies
geschah auch noch in der Business Class. An einem leeren Fensterplatz griff er
mit seinen ausgemergelten Armen in die Schlotterhose, und ein besorgter Flight
Attendant fragte mich, an welcher Krankheit der Fluggast denn leide. Als ich
ihm „Lung Cancer“ zur Antwort gab, sagte er „I am very sorry“ und bedeutete
uns, die Business Class sofort zu verlassen.
Am Gate von Kuala Lumpur wartete dann eine Flugangestellte
mit einem Rollstuhl auf uns. Wie würde Chais Familie auf seinen Anblick
reagieren? Hatte der Patient sie auf seinen erbärmlichen Zustand genügend
vorbereitet? Ich hegte meine Zweifel, und tatsächlich: so problemlos angesichts
seiner Hinfälligkeit die Pass-und Zollkontrollen verliefen, so schockierend
gestaltete sich das darauffolgende Wiedersehen mit seiner Schwester L.
und seinem Schwager O.: L. fing gleich an zu weinen und drückte verlegen
an ihrem Bruder herum, während O. mich nach einer Pause des Erstarrens zur
Seite nahm und wissen wollte, wie lange es denn Chai noch mache. Einen Tag?
Eine Woche? – Was weiss ich…
Wir fuhren ins Haus von Verwandten in Kuala
Lumpurs Agglomeration. Dort sollten wir erst einmal ausruhen, bevor wir die dreistündige
Autofahrt nach Ipoh unter die Räder nehmen würden. Chai suchte abermals das Klo
auf, verriegelte die Türe hinter sich und blieb darin mindestens eine Stunde
hocken. Wir versammelten uns beunruhigt vor der Toilette, und alle sprachen
aufmunternde Worte durch die verschlossene Tür: auf Chinesisch, auf Malaiisch,
auf Englisch und auf Deutsch. Nichts regte sich dahinter. Jeder hegte für sich
wohl bereits den Verdacht, Chai hätte in diesem WC das Zeitliche gesegnet. Dann
aber, nach bangem Warten, öffnete sich die Türe einen Spalt breit und Chai
verlangte nach einer Zigarette. Wir stoben sofort nach allen Richtungen
auseinander und durchsuchten das ganze Haus nach einem Glimmstängel. Als wir
zurückkamen, wankte er den Wänden entlang ins nächstgelegene Zimmer, wo er sich
erschöpft zum Schlafen niederlegte. Hätten wir ihn von der Bettstatt nach einer
mehrstündigen Verschnaufpause unter Aufwendung all unserer Kräfte nicht
losgerissen und ins Auto verfrachtet, er würde wohl heute noch dort liegen,
gemütlich eingerichtet mit ein paar Büchern, Television und einer Schar von
Helfern um sich herum, die ihm ab und zu ein Süppchen oder heisses Wasser
gereicht hätten. So aber zwangen wir ihn zu seiner letzten Fahrt nach Hause
durch ein mit Gerüchen, Sonne und Monsun aufgeladenes Malaysien, vorbei an
sattgrünem Urwald und an ausgewaschenen, rotgelb leuchtenden Zinnminen.
Trotz aufgedrehter Klimaanlage und Schatten kam
Chai in diesem Auto arg ins Schwitzen, während sich meine Unterhaltung mit der
Verwandtschaft ums Geld drehte: wer übernimmt welche Kosten? Wo soll Chai in
Ipoh überhaupt einquartiert werden? Würde er eine Privatunterkunft ertragen,
oder sollte er nicht lieber direkt ins Krankenhaus gebracht werden?
Bei unserer Ankunft in Ipoh war dann klar, dass
wir in ein gutes Hotel gehen würden, so lange nicht medizinische Komplikationen
einen Spitalaufenthalt erforderlich machten, und dass ich, beziehungsweise der
Schweizer Freundeskreis von Chai, der sich unter dem Eindruck seiner schweren
Krankheit im Sommer zuvor gebildet hatte und die medizinischen und
pflegerischen Auslagen des Patienten mittrug, die Kosten des Hotels übernehmen
würde. Diese Abmachung trug zur Entspannung der Lage bei.
2. Dezember 1997
Tags darauf setzte ein unablässiger Strom von
Besuchern ein. Es reichte kaum, mir am Morgen die Unterhosen überzustreifen und
die Zähne zu putzen. Schon am Abend zuvor, gleich nach unserer Ankunft, machten
Chais Eltern und die weiteren Geschwister ihre Aufwartung und erschauerten beim
Anblick des todgeweihten Stammhalters. Und nun, am nächsten Tag, waren also die
nahen Verwandten und Freunde des Hauses dran. Sie gaben einander die Klinke der
Hotelzimmertür in die Hand. Das Telefon klingelte ununterbrochen, und allen
musste die traurige Geschichte erzählt werden. Chais Mutter thronte dabei mit
zunehmender Sicherheit auf meinem Bett und gab Audienzen. Doch als auch Chais
Vater hereinschauen wollte, schickte sie ihn wieder hinaus. Da erinnerte ich
mich, dass dieser als Nichtsnutz galt, der das ganze Geld beim Spielen verloren
und so die ganze Familie in bittere Armut gestürzt hatte. Chai hatte oft von
seinem speziellen Vater gesprochen, mit dem niemand weder etwas anzufangen
wusste noch wollte. Jetzt erlebte ich hautnah, wie Mama das Szepter führte und
Vater auf seinen Platz vor der Tür verwies. Widerspruchslos verliess er auf
ihre Aufforderung hin wieder den Raum, während die Mutter ihrem vor sich
hindämmernden Sohn vor den Augen der ganzen Verwandtschaft ein Süppchen aus
Schwalbennestern einzuflössen versuchte, die sie in Thermoskrügen von zuhause
mitgebracht hatte. Dazu liefen im Fernsehen Soap Operas aus Hongkong.
Ich verliess das Hotelzimmer und begab mich erst
einmal auf die Strasse, übermüdet von einer schlaflosen Nacht, die Chai einmal
mehr zu einem guten Teil auf dem Klo zugebracht hatte. Er rauchte dabei
Zigaretten, die ihm aber im Halbschlaf immer wieder aus den Händen fielen. Aus
Angst, die Kippen würden ihm in einem unbedachten Moment Knie und Füsse
versengen, versuchte ich mich auf dem Badewannenrand zu halten, immer in
Gefahr, beim Einnicken nach hinten abzurutschen und mich am Hinterkopf zu
verletzen. Auch Chai selbst hätte vom Rand der Toilette fallen und sich an
einer Kante aufschlagen können.
Am Morgen war ich gerädert. Kurz nach Ankunft
des Familienpulks verliess ich also das Hotelzimmer und lungerte ziellos in
Shopping-Center und Coffeeshops herum, wo überall und in allen möglichen elektronischen
und instrumentalen Versionen „Jingle Bells“ und „Oh du fröhliche…“ erklangen.
Es war schliesslich Weihnachtszeit, und die Schaufensterauslagen und
Ladeneingänge zeigten den bärtigen und rotberockten Santa Claus, der auf seinem
Schlitten sitzend und von fliegenden Rentieren gezogen tausend glitzernde
Geschenke auslieferte. Die Kulisse wurde ergänzt mit aus Kunststoff beschneiten
Tannenbäumchen. Nur im Stadtpark war dem Weihnachtsrummel zu entkommen. Dort
nahm ich auf einer schattigen Bank Platz und liess die Zeit verstreichen. Jetzt
war ich selbst numb, und gleichzeitig beschlich mich das schlechte Gewissen,
nicht bei Chai zu sein. So kehrte ich schon bald wieder ins Hotel zurück,
obwohl ich dort unter so viel chinesischer Verwandtschaft völlig überflüssig
war. Erschöpft
vom turbulenten Tag hauchte mir abends Chai zu: „You know I love my family, but
they don’t have any mercy. “
3. Dezember 1997
Heute vor zwei Jahren fand das von Chai seit
langem gewünschte Familientreffen statt. Alle Geschwister mit ihren Familien,
aber auch die nahen Tanten und Onkel, Nichten und Neffen, Cousins und Cousinen
und natürlich Vater und Mutter sollten sich zusammenfinden, damit ihnen Chai
erklären konnte, was mit ihm los sei. Ursprünglich hätte das Treffen mit einem
Essen verbunden werden sollen, doch die separaten Räume aller Restaurants waren
schon ausgebucht, und im offenen Speisesaal wäre das Hauchen Chais gegen das
Geschirrgeklapper, den Küchenlärm und die üblicherweise ziemlich laute
Konversation chinesischer Gäste nicht aufgekommen. Also hatte man sich auf eine
Familienzusammenkunft nach dem Essen geeinigt. Sie fand im Wohnzimmer der
Nachbarn statt. Dieses war gross genug, um alle Gäste aufzunehmen. Und die
Kinder konnten so während der Ansprache draussen im Garten spielen.
Chai hatte sich für diesen Auftritt unter
grösster Anstrengung noch einmal mit feingewobenen blauen Pluderhosen und einem
rotgelb gemusterten indischen Seidenhemd schön angezogen und über seine dürren
Finger ein paar Ringe gestreift, drei schmucke Kettchen um den Hals gelegt und
auf sein kahles Haupt ein afrikanisches Käppi gesetzt. Zwei seiner Schwestern
führten ihn in den Raum. Er nahm auf einem Sofa Platz und versank in den
Kissen. Die Sippschaft versammelte sich im Kreis um ihn herum. Viele hockten
auf dem Boden. Alle hatten der Sitte gemäss ihre Schuhe ausgezogen. Es war
mucksmäuschenstill.
Dann begann Chai seine Worte in den Raum zu
hauchen. Statt Chinesisch hätte er auch Spanisch, Kisuaheli oder Urdu sprechen
können. Keiner verstand auch nur ein Wort. Er war ziemlich ausführlich und
verlangte zwischendurch einen Schluck heissen Wassers. Bei diesen Pausen
rückten die Verwandten noch näher an ihn heran. Doch auch so hingen sie ratlos
an seinen Lippen. Einzig die Wichtigkeit der Zusammenkunft schien allen klar zu
sein, und so zollten sie dem Vorgang als Ganzem ihren Respekt.
In einer weiteren Pause, in welcher Chai Tee
gereicht wurde, richteten sich plötzlich alle Blicke auf mich. Was wollte er
bloss sagen? – Da wechselte ich auf Chais Seite, legte meine Hand auf seine
Knie und fing an, aus seinem Flüsterchinesisch ins Englische zu übersetzen, als
ob ich verstanden hätte, was Chai eigentlich sagen wollte. Ich beschrieb den
Krankheitsverlauf, schilderte die Wechselbäder von Hoffnungen und
Enttäuschungen, betonte auch, dass es sich bei Chais Erkrankung nicht etwa um
Aids handle, sondern um Lungenkrebs. Ich wusste, dass ihm diese Unterscheidung
wichtig war, und er hatte sie mir seit der schlimmen Diagnose im
vorangegangenen Sommer immer wieder eingebläut. Diese Differenzierung war
eigentlich angesichts des nahen Todes absurd, hatte aber ihre Bedeutung wegen
seiner von der Familie nie ganz verstandenen Homosexualität. So aber war er als
ehrenwerter, anständiger Sohn zurückgekehrt, der einfach das Pech hatte, an
Krebs zu erkranken – was schliesslich allen passieren kann.
Einmal in Fahrt, schilderte ich Chais Leben in
gesunden Tagen, soweit es sich mir selbst erschlossen hatte. Ich erzählte von
seinen letzten vier Jahren bei mir in Zürich-Schwamendingen, wo er sein
Geld mit Kochen und Kunst verdiente. Ich führte aus, dass er für verschiedene
Festivitäten wie Geburtstage, Trauungen und Taufen Störkoch gewesen war und mit
seinen scharfen Curry-Spezialitäten als charmanter und pikanter Botschafter
seines Heimatlandes galt. Als Folge davon interessierten sich die Leute für
seine Kochkunst und besuchen seine Kochkurse.
Er sei aber auch Künstler gewesen. Im letzten
Jahr habe er in Hamburg und in Zürich drei Einzelausstellungen bestritten und
zudem noch an einer Gruppenausstellung teilgenommen. Er habe viele Bilder
verkauft. Aber der Lebensunterhalt in Europa sei eben auch teuer, und ich untermauerte
meine Aussage durch die Preisangabe für eine mittlere Mahlzeit in einem
Schweizer Restaurant. Das löste grosses Erstaunen und ungläubiges Kopfschütteln
aus. Ich sprach ganz bewusst vom Geld, denn die Familie hatte von Chai immer
Geld erwartet und konnte seinen Weggang nach Europa nur unter dem Vorzeichen,
dafür Geld zugeschickt zu bekommen, akzeptieren. – Auch klar, dass Chai die
Sache etwas anders sehen wollte. Sein Leben in Europa war nicht darauf
ausgerichtet, seine Familie aus dem Elend zu ziehen. Er schickte zwar aus jeder
Hauptstadt Postkarten nach Hause, die natürlich den Eindruck verstärkten, dass
er im Geld schwamm. In Wahrheit aber lebte er als armer Teufel ohne Talent zur
Geldvermehrung. Er war stets abhängig von Freunden und sparte sich seine
Fahrkarten vom Munde ab oder liess sich einladen. Erst gegen Ende seines Lebens
begann es ihn zu wurmen, sich so wenig um die Familienbedürfnisse gekümmert zu
haben, und es kam ihm sehr zupass, vor seiner endgültigen Heimreise noch ein
paar Bilder an Kunstsammler und Freunde verkauft zu haben, was ihm erlaubte,
nicht ganz mit leeren Händen zurückzukehren.
Was ich in meiner „Übersetzung“ nicht sagte, was
aber der Wahrheit wohl am nächsten kam, war, dass Europa für Chai Flucht vor
der familiären Armut bedeutete. Er sah doch als Bub, dass seine Eltern es zu
nichts gebracht hatten. Er half doch mit in dieser Reifenfabrik, wo seine
Mutter arbeiten musste, weil der Vater das wenige Geld verspielt hatte. Chai
war sich doch der Ausweglosigkeit, in der sie sich befanden, bewusst, und da
kamen ihm seine Gefühle für reifere Männer gerade gelegen, um so ins Ausland zu
gelangen. Ich denke, irgendwann in seiner Adoleszenz hatte er den Entschluss
gefasst, jedem Ausländer, dem er auf der Strasse begegnete, schöne Augen zu
machen. Nur weg von hier, nur weg von hier. In den Schulferien ging er in ein
Feriendorf als Hilfskellner, um die Chancen eines erfolgreichen Kontakts mit
einem wohlhabenden Europäer zu erhöhen, und er suchte, wie er mir selbst einmal
erzählte, mit Freunden immer wieder Clubs und internationale Hotels auf, wo
Ausländer verkehrten. Nach einigen vergeblichen Versuchen und unerfreulichen
Erfahrungen schien es dann zu klappen: zu fünft seien sie in einer Bar
herumgelungert, als dieser vornehme Herr aufgetaucht sei, dem man den Spanier
schon von weit her angesehen habe. Jeder der Buben drängte sich vor, um dessen
Aufmerksamkeit zu wecken. Sie fragten ihn auch, wen er denn für den
Attraktivsten von ihnen halten würde. Der Spanier soll darauf geantwortet haben,
gewiss hätte jeder seinen Charme, aber eigentlich passe ihm diese Anbiederei
nicht, er ziehe Diskretion und Distanz vor. Dies bezog Chai, der Schweigsamste
und Schüchternste der Gruppe, durchaus auf sich, und es war irgendwann am
nächsten Morgen, als er sich ein Herz fasste, den Spanier im Hotel anzurufen
und diesen mit einem „Buenos dias señor“ zu überraschen. Damit schien er einen
unauslöschlichen, einzigartigen Eindruck zu hinterlassen. Der spanische
Schlagersänger Julio Iglesias musste damals in Malaysia der grosse
Renner gewesen sein, und Chai konnte dessen Lieder allesamt auswendig. Der
spanische Gast jedenfalls war gerührt und nahm den Jungen mit zu einem Ausflug
an einen Strand von Penang. So begann für Chai Europa.
Mit J.-C. war er an einen äusserst
kultivierten Katalanen aus Barcelona geraten, der ihn auf der Stelle
nach Spanien einlud und ihn, kaum dort angekommen, in Modedesign und Malerei
ausbilden liess. Chai erwies sich dabei als gelehriger Schüler und als äusserst
talentiert, auch sprachlich: sein Spanisch war bald schon ohne Fehl und Tadel,
was auch nötig war in jenen Kreisen, in denen er sich von nun an bewegen
sollte. Er tauchte mit seinem väterlichen Freund in den besten Restaurants der
Stadt und an den angesagtesten Vernissagen von renommierten Künstlern auf, wo
auf feine Manieren trotz lässigem Gebaren einigen Wert gelegt wurde. Chai
begriff schnell und behauptete sich gut als J.-C.s Augenstern und Juwel.
Gleichzeitig musste er sich aber mit seinen 21 Jahren wie in einem Käfig
vorgekommen sein, beschützt von einer argwöhnischen Gesellschaft, die seiner
Neugier und unbekümmerten Frische Grenzen setzen wollte. Das störte ihn
zunehmend in seinem Welteroberungsdrang. Das war nicht das Europa, das er sich
vorstellte, und er begab sich unter nicht ganz geklärten Umständen und unter
Hinterlassung seines ziemlich enttäuschten, ja gekränkten Förderers auf
Wanderschaft, liess sich herumtreiben und stellte sich so sein Europa selber
zusammen, bis er Jahre später eines Tages bei mir auftauchte und hier die
letzten vier Jahre seines Lebens verbringen sollte.
Von Chais Lebensführung in Europa liess ich
gegenüber der Verwandtschaft nichts verlauten, das gehörte nicht in diese
Runde, ich erwähnte nur, wie wichtig ihm die Familie war und dass er mir oft
von ihr erzählte. – Das war ein gutes Ende meiner Ausführungen, löste manche
Tränen aus und konnte sauber zum Fototermin vor dem Haus hinüberführen. Chai
sass als lebende Leiche inmitten einer saftigen Kinderschar. Flash. Mutter und
Vater und Sohn, der aussah wie sein eigener Urgrossvater. Flash. Auch ich
musste noch aufs Bild. Flash. Und jetzt die Geschwister mit Chai in der Mitte.
Flash.
Dieser Vorgang des Ablichtens hatte für mich
etwas Obszönes, und ich war froh, als Chai endlich den Wunsch äusserte, wieder
ins Hotel zurückzukehren. Noch heute schaue ich mir diese Fotos nur mit grossem
Widerwillen an. Fortwerfen mag ich sie trotzdem nicht.
4. Dezember 1997
Jetzt hätte Chai eigentlich sterben können.
Seine letzten Vorhaben waren vollbracht, sein innigster Wunsch erfüllt. Er war
jetzt wieder zu Hause und er hatte seine Familie noch einmal gesehen. Er hatte
sogar etwas Geld mitgebracht, mit dem die Eltern ein kleines Häuschen erstehen
konnten. Seine Heimkehr war zwar traurig, sie war aber auch eine Attraktion.
Wie er in diesem Hotelzimmer residierte, hatte Stil und machte Eindruck, und es
zeigte sich, dass sich die Familie rasch an die neue Situation gewöhnt hatte.
Die ledige Schwester L., die sich für Chais letzte Tage extra frei genommen
hatte und von Singapur, wo sie als Goldschmiedin arbeitete, hergereist kam,
organisierte mit ihren Schwestern den Pflegedienst. Denn ich verlangte, dass
Chai keinen Augenblick mehr allein gelassen werde. Ich übernahm dabei die
Nächte auf dem Badewannenrand, während die Geschwister und die Mutter die Tage
bestreiten sollten. Sie kamen mit dem Essen für den Sterbenskranken, das sie
dann wegen der Appetitlosigkeit des Kranken regelmässig selbst verspeisten.
Doch Chai starb nicht, noch nicht, und wir alle
mussten uns darauf einrichten, dass es so noch eine ganze Weile gehen könnte.
Er wurde zwar plötzlich gelb, und sein ausgemergeltes Gesicht bekam damit ein
noch fratzenhafteres Aussehen. Zur Sicherheit rief ich seinen Arzt in der
Schweiz an, der mich jedoch beruhigte. Er erklärte mir, wie jetzt die
krebsbefallene Leber langsam ihren Geist aufgebe, dass dies aber noch nicht
aller Tage Abend bedeuten würde.
Ich aber blieb ratlos. Da lag Chai nichtsnutzig
im Bett, alle flatterten um ihn herum, vermochten aber kaum eine Minute lang ruhig
seine Hand zu halten, und der andere Nichtsnutz der Familie, sein Vater, wurde
nicht einmal zu ihm vorgelassen. Da fasste ich den Plan, die beiden zusammen zu
bringen. Ich verlangte nach dem Vater, und zwar ohne weiteren familiären
Anhang. Nach einer halben Stunde war er da. Darauf schickte ich alle hinaus.
Ich zeigte dem Vater, der kein Englisch verstand, wie er ganz nah an Chais
Seite sitzen und dessen Hand drücken soll. Dann entfernte auch ich mich aus dem
Zimmer. Ich gab den beiden über eine Stunde Zeit.
Ich weiss nicht, was in dieser Stunde geschah.
Ich weiss nur, dass diese Zusammenkunft wichtig war. Wichtig für mein Gefühl
zumindest, vielleicht auch wichtig für die beiden selbst. Ich hing nämlich
damals der vielleicht auf den ersten Blick etwas verwegen klingenden Idee nach,
Chai könnte sich für seinen Vater geopfert haben. Der Gedanke kam mir, nachdem
ich mich von meiner eigenen Schuld an Chais Schicksal loszusagen versucht
hatte. Ursprünglich hatte ich nämlich den Verdacht, Chai würde sich mit seiner
Erkrankung an meinem Rückzug als Partner rächen. Kurz vor Ausbruch seines
Krebsleidens waren wir uns wochenlang gram, und es kam zu gegenseitigen
Kränkungen, die eine gemeinsame Zukunft stark infrage stellten. In mir reifte
damals der Entschluss, dass wir wahrscheinlich besser getrennte Wege gehen
sollten.
Ich glaube, damit hatte Chai nicht gerechnet. Er
zählte auf meine Sehnsucht nach ihm, auf meine Angst vor dem Alleinsein und auf
meine Bedürftigkeit: Gefühle, die ich auch wirklich lange genug in meinem
Herzen getragen hatte. Doch dann kam eben der Moment, wo ich abzuwägen begann,
welche Vorteile das Alleinsein gegenüber einem unglücklichen Zusammenleben
bringen würde. Und ganze drei Wochen nach Bekanntgabe meiner Erwägungen
begannen seine fürchterlichen Schmerzen. In meiner Betroffenheit musste ich bei
einer Psychologin nach Erklärungen suchen. Ich fühlte mich so schuldig.
Sie aber fand, ich würde unter
Allmachtsphantasien leiden und meine Wirkungen auf andere für zu gross
einschätzen. Ich würde nicht über die Kraft verfügen, die es bräuchte, um bei
einem Freund eine tödliche Krankheit auszulösen. Mich erleichterte diese
Einschätzung sehr.
Wo sonst aber konnten die Ursachen seiner
plötzlichen Erkrankung liegen? – Ich erzählte der Psychologin von Chais Vater
und von seiner Rolle, die er im Familienganzen spielte. In den folgenden
Sitzungen verdichtete sich dann mein Verdacht, der Sohn hätte unbewusst die
Verantwortung für Vaters Versagen als Familienoberhaupt übernommen: Ein
spielsüchtiger Mann, der seine Familie so verantwortungslos in den Ruin
getrieben hatte, hat eigentlich seine Daseinsberechtigung in diesem Verband
verspielt, müsste zumindest reumütig aus dem Gesichtsfeld der Geschädigten
verschwinden. Doch Chais Vater blieb, ohne dass er irgend etwas
wiedergutgemacht hätte. Die anderen bestraften ihn, indem sie ihn nur noch als
Schatten wahrnahmen und nicht mehr mit ihm sprachen. Er war für die Frauen des
Hauses nur noch ein Schlappschwanz, ein Taugenichts, Luft. Und eine solche
Entwertung des Mannes musste sich der einzige Sohn und Stammhalter Chai seit
Kindsbeinen mit ansehen. Kein Wunder, dass er kein Mann werden wollte, vor
Frauen einen Bogen machte und von Europa träumte. Nur fort von hier.
Und doch musste es da über alle Kontinente
hinweg eine heimliche Verbindung Chais zu seinem Vater gegeben haben, ein Herz
für diesen schwachen Mann, eine Ahnung von den nicht gezogenen Konsequenzen,
die sich jetzt im Körper des erwachsenen Sohnes Bahn brach. Chai zeigte seine
fatale Sohnesliebe und Solidarität zu seinem Vater vielleicht so, indem er sich
dem sich langsam wachsenden Erfolg als Künstler in Europa versagte und zur
Rettung der Familienehre bereit war, die Schuld des Vaters, in die sich jener verstrickt
hatte, zu übernehmen und auf seine Weise abzutragen.
Ich weiss, es sind Hypothesen eines
Verzweifelten, doch wer kommt schon nicht ins Grübeln, wenn ein 31jähriger aus
heiterem Himmel tödlich erkrankt, und dies zu einem Zeitpunkt, wo er sich der Verantwortung
für seine Familie bewusst zu werden beginnt.
Als ich anderthalb Stunden später mit Chais
Schwester L. leise wieder das Hotelzimmer betrat, traf ich die beiden Männer in
der genau gleichen Haltung an, wie ich sie seinerzeit verlassen hatte. Der Vater
sass am Bettrand, hielt ruhig Chais Hand und schaute ihm dabei in die Augen.
Ich bin sicher, die beiden hatten die ganze Zeit kein Wort miteinander
gewechselt. Doch ich spürte grossen Frieden im Raum, und als Chai unsere
Anwesenheit wahrnahm, richtete er sich auf und umarmte seinen Vater lange und
herzlich. Bei diesem Anblick wandte sich seine Schwester L. zu mir, umarmte
mich auch und begann bitterlich zu weinen. Ich war für einen Moment lang
glücklich und weinte mit.
5. Dezember 1997
Jetzt kehrte der Alltag ein. Chais Schwestern
wechselten sich als Pflegeteam ab und ersetzten zuweilen auch die Mutter, wenn
diese wieder einem der vielen Felsen-und Höhlentempeln in Ipohs Umgebung einen
Besuch abstattete, um Opfergaben für ihren Sohn zu hinterlegen.
Ich selbst lernte das Frühstücksangebot des
Hotels auswendig kennen und kombinierte schon ganz virtuos indischen Roti
Chanai mit chinesischen Nudeln und frischen Brötchen. Doch mein
Erschöpfungszustand war grenzenlos. Allein bei der Vorstellung, bis abends die
Zeit in dieser heissen Stadt totschlagen zu müssen, wurde ich aggressiv. L.
hätte mir zwar ihr Auto für Ausflüge schon zur Verfügung gestellt, doch mir war
so gar nicht nach Sightseeing zumute. Eigentlich wollte ich nur schlafen. Doch
mein Bett war Sitzgelegenheit für die Besucherschar. Das Kommen und Gehen nahm
kein Ende. Mir kam Chai vor wie ein exotisches Tier im Zoo, das angesichts so
vieler Schaulustigen erstarrte. Fehlte nur noch, dass er Nüsschen verfüttert
bekam. Seine Mutter hingegen meldete belustigt, er flüstere jetzt nur noch
dummes Zeug, er sei wohl geistig umnachtet. Irgendwo wünschte ich mir, dass es
bald so kommen möge. Einen gesunden Geist neben mir zu wissen, der diesen
körperlichen Abbau und dieses den Blicken der ganzen Verwandtschaft
Ausgesetzsein mitbekam, war nur schwer zu ertragen.
Am Abend dieses Tages, ich hatte die Zähne schon
geputzt und freute mich auf ein paar Minuten der Ruhe, bevor der Klozirkus
wieder begann, wurde Chai plötzlich unruhig und wollte unbedingt aufstehen. Er zog
sich unter unendlichen Mühen selbst an und forderte mich auf, ihn zu begleiten.
Er wollte ausgehen und verspürte Lust auf malaysisches Essen. Ich aber sah mich
ein weiteres Mal um meinen Schlaf gebracht.
Doch für Chai war der Ausgang beschlossene
Sache. So raffte ich mich auf, und Schrittchen für Schrittchen und nach
etlichen gefährlichen Strassenüberquerungen gelangten wir zu einer der
zahlreichen offenen Garküchen der Stadt. Auf dem Weg wurde Chai von Passanten
angestarrt, denn er hätte ja einem Gruselfilm entlaufen sein können.
Im Restaurant deutete er auf drei Gerichte, die
er bestellen wollte: Chop Suey, Laksa und Fried Rice. Dazu Coca-Cola. Als
Minuten später die Platten aufgetragen wurden, stocherte er darin herum und
brachte keinen Bissen runter. Er lächelte verlegen, und ich meinte in seinem
Gesicht Enttäuschung zu erkennen. Ihm, dem Feinschmecker und begnadeten Koch,
wurde auf einen Schlag bewusst, dass es mit seinen Lieblingsspeisen wohl
endgültig vorbei war. Zurück im Hotel verbrachten wir den Rest der Nacht wie
üblich zigarettenrauchend im Bad und im Bett und wieder im Bad und wieder im
Bett.
6. Dezember 1997
Heute vor zwei Jahren fuhren wir auf Anraten von
Chais Halbschwester Y. zu einem Medium. Dieses würde in Trance das
Schicksal Hilfesuchender lesen können, indem es mit den Geistern der Unterwelt
Kontakt aufnimmt.
Y. übrigens war die Eleganteste der ganzen
Verwandtschaft und arbeitete als Abteilungsleiterin bei der Post. Sie erhielt
auf ihr Handy ständig Anrufe und hatte zwei halbwüchsige, auch mit Handys
ausgerüstete Töchter, die sie mit dem Auto von der Schule zum Tennisplatz und
von dort in die Ballettschule und dann später zu einer Geburtstagsparty und zum
Schluss nach Hause chauffieren musste.
Y. kannte das Medium von einer früheren Begegnung
her, und ich dachte zunächst, sie wolle nichts unversucht lassen, um Chais
Schicksal noch positiv zu beeinflussen. Erst später wurde mir klar, dass es bei
diesem Besuch nur noch darum ging, den voraussichtlichen Todestag Chais in
Erfahrung zu bringen. Das Haus des Mediums befand sich in einer etwas
verwahrlosten Vorstadtgegend. Die Strassen waren nicht geteert und das Auto
knickte bei jeder Pfütze ein. Für Chai wurde die Fahrt zur Tortur, doch numb
wie er war liess er widerstandslos alles mit sich geschehen.
Das Medium, ein unauffälliger und schmuddelig
angezogener Mann Mitte vierzig fing uns vor dem Hause ab und befahl Chai, den
mitgebrachten Rollstuhl nicht zu benützen sondern zu Fuss über die Schwelle zu
treten. Im Hausinnern sah es sehr unordentlich aus, dreckig und voller Staub.
Ein Köter, dem man am liebsten mit einem Fusstritt verscheucht hätte, kam uns
beschnuppern. Ein Junge und einer, der sich später als Assistent des Mediums
entpuppte, wedelten mit bunten Papieren die Fliegen fort. Dann füllten sie alte
Nescafé-Gläser mit geheiligten Wässerchen ab und stellten diese auf den Tisch,
wo sich schon Barbiepuppen, unzählige Nippesgegenstände, angebrochene
Kekspackungen, Kerzen und Räucherstäbchen befanden.
Die Fenster, mit Tüchern verhangen, verschafften
dem Haus eine düstere drückende und schwüle Atmosphäre. Der langsam rotierende
Fan an der Decke vermochte dagegen nicht aufzukommen. Es gab zu wenig Stühle.
Also blieb ich stehen. Dann begann ein Schauspiel, das mir bizarr vorkam, und
von dem mir letztlich ganz wenig in Erinnerung geblieben ist. Ich weiss nur
noch, dass das Medium am Tisch sass und sabberte und schnalzte, Schleim
absonderte und ziemlich laut wurde. Sprach es Chinesisch, Malaysisch oder die
Sprache der Unterwelt? Es setzte sich eine Narrenkappe auf und bekam bald
darauf einen anhaltenden Schüttelkrampf. Der Assistent reichte ihm unentwegt
Taschentücher.
Der Vorgang war unwirklich und unglaubwürdig,
ich hielt ihn für billige Gaukelei, und ich mochte nicht glauben, dass die
elegante Kaderfrau Y. ein solches Brimborium ernst nehmen konnte. Chai sass
unbeteiligt auf seinem Stuhl, stützte sich auf den Stock und starrte vor sich
hin wie damals, als wir im kalten Zürich mit dem Taxi zum Flughafen fuhren.
Nichts mehr schien ihn etwas anzugehen, aber es kostete ihn vermutlich weniger
Kraft, es mit sich geschehen zu lassen als dagegen zu protestieren.
Ich jedoch war am Ende. Abends telefonierte ich
in alle Himmelsrichtungen. Heute am Nikolaustag brauchte ich Zuspruch, woher er
auch kommen mochte. Ich rief Freunde in Singapur, Bangkok, Südafrika, New York
und natürlich auch in Zürich an. Am hilfreichsten erwies sich das Gespräch mit Ning,
einem alten Thaifreund aus Phuket, der mich spontan zu ein paar Tagen Erholung
zu sich und seiner Familie einlud.
7. Dezember 1997
Heute vor zwei Jahren suchten L. und ich die
bereits ins Auge gefasste Klinik auf. Sie galt als beste am Ort, und wir beide
sahen die Zeit für gekommen, dass Chai professionelle Hilfe bekommen sollte.
Der Verlust seiner Kräfte und die Zunahme meiner Erschöpfung waren ebenso eine
Tatsache wie der Argwohn des Hotelmanagements, das um alles in der Welt einen
Todesfall im Hause vermeiden wollte.
Mit einem Arztzeugnis in der Hand, das mit „To
whom it may concern“ begann und in kurzen Zügen und mit entsprechenden
Fachausdrücken Chais hoffnungslosen Krankheitsverlauf beschrieb mit der
abschliessenden Empfehlung, wegen der Eindeutigkeit des Befundes ausser
Schmerzbekämpfung keine weiteren medizinischen Behandlungen mehr vorzunehmen,
wurden wir zum leitenden Onkologen der Klinik vorgelassen. Er war ein
vielbeschäftigter, eloquenter Sikh, der in einem winzigen Büro hinter
riesigen Stapeln von Papier residierte. Er las das Schriftstück kurz durch und
sah in unserem Ansinnen kein Problem. Gerade kürzlich hätte er einen ähnlichen
Fall gehabt. Da sei auch einer mit einem unheilbaren Krebs vom Ausland nach
Hause gekommen, und nachdem er sich noch von der Familie, die sich ausserstande
sah, ihm die nötige Pflege angedeihen zu lassen, verabschiedet habe, sei er ins
Spital sterben gekommen. Und alle seien happy gewesen! – Zum Schluss erörterten
wir noch die Kostenfrage und ob es denn bei Chai für ein Einzelzimmer reiche.
Zurück im Hotel erlebten wir dann einen
erstaunlich entschiedenen Chai, der eine Überführung ins Krankenhaus
kategorisch ablehnte. Er fauchte und piepste uns an und sah beleidigt zur
Decke. Diese Szene erinnerte mich an den Terror, den Chai immer dann auszuüben
vermochte, wenn ihm irgend etwas über die Leber gekrochen war, oder wenn man
ihn beleidigt hatte, oder wenn er irgend etwas gegen meinen Widerstand
erzwingen wollte.
Er war schnell beleidigt und viel besser im
Austeilen als im Einstecken. Er vermochte in unserer kleinen Wohnung oft genug
eine Atmosphäre zu kreieren, die vor Vorwürfen nur so troff. Ich blieb dabei selbst
an den Wänden kleben, fühlte ich mich doch dem Frieden zuliebe jeweils
veranlasst, mich vorsorglich schon für schuldig zu bekennen. Er war
schliesslich der Gast, der mir die Ehre erwies, in meinem Hause abgestiegen zu
sein. Dafür musste ich a priori schon mal froh und dankbar sein. Daraus auch
nur die geringste Forderung meinerseits ableiten zu wollen, wäre eine völlige
Verkennung dieser Tatsache gewesen. Bei dicker Luft pflegte er am Küchentisch
zu residieren und eine Zigarette um die andere zu rauchen. Schon dies allein
brachte mich auf die Palme. Mit Lust trank er dann die Hausbar leer und meinte
unter grossem Seufzen „life is such a guess“. Ja, mir war er ein Rätsel. Wütend
griff ich dann zum Staubsauger und lärmte in der Wohnung herum. Als weitere
Eskalationsstufe meiner Frustration galt das Wäschebügeln, vornehmlich seiner
Hemden natürlich, schliesslich verbarg sich hinter meinem ohnmächtigen Tun die
Absicht ihm vor Augen zu führen, wer was tat in diesem Haus und wer sich von
wem aushalten liess. Diese hilflosen und lächerlichen Aktionen wählte ich wohl
aus Furcht vor einem ausgetragenen, offenen Streit, der meines Erachtens die
Sache nur noch schlimmer gemacht und die Wohnung auf Wochen hinaus mit seinem
Gift verseucht hätte. Vermutlich wäre ich dann seiner tyrannischen Zuneigung
vollends verlustig gegangen. Ich tat mir in solchen Momenten aufrichtig leid.
Das war das Einzige, was ich damit bewirkte. Er jedoch verharrte in der Rolle
des liebenswerten und ziemlich verwöhnten Terroristen, für dessen
Lebensunterhalt andere aufzukommen hatten. Er machte sich kaum je Gedanken um
seine eigene Existenzsicherung und um seinen eigenen Einsatz dafür. Doch
Ansprüche auf eine komfortable Lebensführung hatte er schon. Das waren Momente,
in denen ich auch den vornehmen Spanier aus Barcelona verfluchte. Ich war
überzeugt, dass sich Chai dort das Rüstzeug für seine unausstehliche
Bequemlichkeit geholt hatte.
8. Dezember 1997
Auf Wunsch von Chai machten wir heute vor zwei
Jahren einen Ausflug nach Kuala Kansar, wo seine älteste Schwester R.
mit ihrer Familie wohnte. Sie betrieb dort vor einer Primarschule einen Stand
mit Süssigkeiten. Morgens pflegte sie den dreirädrigen Wagen von ihrem Haus
über eine Brücke an die Strassenecke zu schieben, wo sich die Kinder in der
Pause aufhielten, und beim Einnachten schob sie ihn wieder nach Hause zurück.
Für Chai bedeutete Kuala Kansar seine eigentliche Heimat, dort hatte man ihn
immer so genommen, wie er war. Deshalb verstand ich seinen Wunsch, nochmals
diese Umgebung aufzusuchen, auch wenn ich mir die Anstrengungen der Autofahrt
nicht so recht vorstellen konnte. Verwirrt im Kopf, sediert mit schwersten
Schmerzmitteln, kaum mehr fähig, eine Zigarette zu halten oder den Weg vom Bett
ins Bad allein zurückzulegen, seit Wochen ohne richtige Nahrung – wollte dieser
Mensch noch vor seinem Übertritt ins Jenseits für einen Verwandtenbesuch in
eine andere Stadt fahren? Wir verlangten an der Reception wieder einmal nach
einem Rollstuhl und fuhren den reichlich geschmückten Chai vom Krankenlager weg
durch die Korridore und Hotelhalle hinaus ins Auto. Die sportliche L. lenkte,
und ich sass neben ihr fest angeschnallt, während sich im Fond die Mutter um
ihren Sohn kümmerte. Wieso nur konnte sie ihn nicht einmal für eine Minute in
Ruhe lassen? Ständig zupfte sie an ihm herum, bot ihm aus den Tempeln
Zaubertränke an und war beleidigt, wenn dieser sie ablehnte.
Kaum hatten wir Ipoh verlassen, machten wir
einen ersten Zwischenhalt. Wir fuhren auf ein lehmiges, abschüssiges und vom
Monsun ausgewaschenes Baugelände. Es war sehr glitschig. Hier komme das Haus zu
stehen, das mit Chais heimgebrachtem Geld abgezahlt würde, erklärte uns L. Ein
Musterhäuschen der künftigen Siedlung stand schon. Wie winzig es doch war, man
konnte sich darin kaum rühren. Sollte Chai für so etwas Lausiges bezahlt haben?
Verlegen lächelte er. Kam ihm jetzt sein grossbürgerlicher Lebensstil von
Barcelona in den Sinn? Er lächelte nur, und ich konnte sein Lächeln nicht
deuten. Oder war er vielleicht doch stolz, seinen Beitrag zum langersehnten
Wunsch seiner Eltern geleistet zu haben? Mir war elend zumute, als wir
weiterfuhren. Doch Chai lächelte unentwegt weiter. Was dachte er bloss? Er
lächelte noch, als wir eine Stunde später in der Sultanstadt Kuala Kansar
eintrafen. Vielleicht hatte er einfach vergessen, sein Lächeln hereinzuholen,
so wie wir zuweilen vergessen, vor dem nächsten Regen die Wäsche von der Leine
zu nehmen. Sein Lächeln hing in seinem gelben Gesicht wie ein Essensrest und
verlieh ihm ein fratzenhaftes Aussehen.
Das Haus von R. befindet sich in einem grünen
Tal. Die Nachbarhäuser stehen eng beieinander. Man hört von überall her
Hundegebell, das Schreien der Kinder, das Scheppern der Radios, die Dialoge der
Fernsehserien und das Maschinengewehrgeknatter der Videospiele, das Grunzen der
Schweine, das Gackern der Hühner, das Krähen der Hähne, die aufbrausenden
Motoren der Mofas, Stimmen, Vogelgezwitscher, Küchengeklapper, das Heranrollen
eines Fahrzeugs auf dem Kies. Mit vereinten Kräften führten wir Chai ins
Wohnzimmer, jetzt sass er auf dem Sofa und liess sich von einem Ventilator
anblasen. Mit lautem Gekreisch stürmten die Kinder herein und begrüssten den
Onkel, dessen noch immer lächelndes Gesicht sich allmählich in ein von
Schmerzen gepeinigtes verwandelte. Er litt wieder unter einer Attacke, und
unter den Augen der ganzen Verwandtschaft mussten zwei Zäpfchen eingeführt
werden. Doch hier in Kuala Kansar, umgeben von diesen vitalen Geräuschen,
machte mir die Situation wesentlich weniger zu schaffen als damals im Flugzeug
oder bei den vielen Malen im Hotel von Ipoh. Vielleicht halfen mir hier meine
romantischen und vielleicht auch naiven Vorstellungen vom einfachen Leben, das
aus den Notwendigkeiten des Augenblicks keine Peinlichkeit zu machen imstande
ist. – Doch eigentlich wusste ich ja von Chai nur zu gut, wie hoch bei allen
Chinesen und so auch in seiner Familie die Peinlichkeitsschwelle war. Das
machte ihn in gesunden Tagen auch so appetitlich, denn ich führte seine grosse
Lust, sich der Sexualität uneingeschränkt hinzugeben, unter anderem zurück auf
die Tabuisierung dieser Zone. Sie galt als besonders exklusives Geschenk für
einen Partner. Jetzt wurde von hinten wenigstens Linderung eingeführt, und ich
hielt dies der Situation für durchaus angemessen.
Spät abends, als wir nach einer von Bangen
geprägten Rückreise ins Hotel zurückgekehrt waren, schien Chais Abbau
offensichtlich. Schwach wie noch nie legte er sich ins Bett und hatte nicht
einmal mehr die Kraft, aufs Klo zu gehen. Er rauchte jetzt seine Zigaretten im
Bett, und bei mir wuchs die Angst vor einem Zimmerbrand.
9. Dezember 1997
Von nun an ging es Chai immer schlechter. Er
reagierte kaum mehr auf Fragen und Bemerkungen. Er lag einfach im Bett und
schlief. Es gab erste Zeichen von Inkontinenz, und bei meinen Wanderungen durch
die heisse Stadt erkundigte ich mich schon mal nach Windeln für Erwachsene. Zu
einem indischen Coiffeur ging ich auch noch und genoss es, dass sich endlich
jemand um mich selbst kümmerte. Mir kamen die Tränen. Das war mir beim
Haareschneiden vorher noch nie passiert. Bestürzt fragte mich der Inder, ob er
mir wehgetan hätte.
Zurück am Krankenlager kam die Idee auf, mit
Chai noch eine religiöse Zeremonie durchzuführen. Ich weiss nicht, wie Chais
Schwester L. erfahren hatte, dass sich ihr Bruder in den letzten Monaten seines
Lebens mit tibetischem Buddhismus zu beschäftigen begann und mit grosser
Hingabe auch das berühmte Werk von Sogyal Rinpoche „Das tibetische Buch
vom Leben und vom Sterben“ gelesen hatte. In Zürich war er noch zusammen mit
unserem Nachbarn und Freund R. einmal ins Kongresshaus zu einer Veranstaltung
dieses hochrangigen Geistlichen gepilgert. Damals waren ihm von der
Chemotherapie schon alle Haare ausgefallen, und sein rechtes Auge vermochte er
auch nicht mehr richtig zu öffnen. Er hatte schon viel an Gewicht verloren,
verstand es aber, den körperlichen Abbau mit raffiniert kombinierter Kleidung
zu kaschieren. Nur zu Hause vor dem Spiegel überkam ihn jeweils die
Verzweiflung. Unwirsch stampfte er dann auf den Boden und jammerte über seinen
Zerfall.
Von einer Begegnung mit Sogyal Rinpoche erhoffte
sich der eitle Chai Zuflucht und Trost. Doch nachdem er mit tausend anderen
Menschen zusammen einen anstrengenden Vortrag angehört und sich nachher in eine
lange Reihe von Hilfesuchenden eingeordnet hatte, beschränkte sich die
nachfolgende Audienz auf ganze zehn Sekunden, während welcher der Rinpoche ihm
den Daumen so fest auf die Stirn presste, dass er Kopfweh bekam.
Nun sollte Chai in Ipoh doch noch eine Zeremonie
zuteilwerden, die ihn spirituell auf seine Reise ins dunkle Bardo
vorbereitete. Doch gab es hier einen Vertreter des tibetischen Buddhismus? L.
erinnerte sich an eine Tupperware-Party am Stadtrand, an der sie einmal
teilgenommen hatte. Diese hatte in unmittelbarer Nachbarschaft eines Tempels
stattgefunden. Nach L.s Einschätzung hätte dieser tibetisch sein können. Kurz
entschlossen setzten wir uns ins Auto und forschten nach.
Es nachtete schon ein, als wir beim gesuchten
Haus anlangten. Es war eine stattliche Villa mit einer offenen Garage, wo ein
reich geschmückter Altar aufgebaut war. Durch die Gitterstäbe des Gartenzauns
schauten wir uns das Interieur an. Ich entdeckte die in Textil gewickelten und
verschnürten Texttafeln, ich sah die ornamentale mandalaartigen Stickereien,
die links und rechts den Altar säumten, und ich nahm mit Genugtuung die
Konterfeis alter rotgewandeter Lamas wahr, die gütig aus den Bilderrahmen
lächelten. Sie trugen goldgewirkte Spitzhüte mit Halskrempen und herausgeklappten
Ohrlöffeln und sahen trotz lächerlicher Pracht weise aus. Es hingen auch
Porträts entzückender Buben an der Wand, die mit ihren Mandelaugen verschmitzt
oder treuherzig, man konnte es deuten, wie man wollte, aus einem Stapel Kissen
in die Kamera lugten. Auch sie bordeauxrot gewandet mit Unterhemd in Orange.
Auf dem Altartisch lagen in vergoldeten Schalen Naturalgaben wie Äpfel,
Bananen, Zitrusfrüchte, Reis und Nüsse. Im Weiteren befanden sich dort auch
noch kleine Zinnfiguren und andere kultische Gegenstände. Der ganze Altar war
mit Drachenmustern verziert, und in der Mitte hockte im Kerzenschein eine
Buddha-Figur.
Ja, dies musste eine tibetische Einrichtung
sein. Wir klopften an und wurden von einer Haushälterin hereingelassen. Sie sah
aus wie eine Squaw und trug lange, aufgelöste Haare. Der Salon neben der Garage
war fast leer. Dort flimmerte der Fernsehapparat und zeigte einen Terminator-Film
mit Arnold Schwarzenegger. Dieser Muskelprotz schoss grad alles über den
Haufen, als wir einen roten Rock in Sandalen eilig aus dem Raum verschwinden
sahen.
Wir trugen der Haushälterin unser Anliegen vor.
Wir würden Segen und Zuflucht für einen Sterbenden suchen. Mit dieser Botschaft
ging sie nach hinten. Nach einer Weile kam sie wieder hervor und beschied uns,
ihr Chef würde unseren Patienten am nächsten Morgen um zehn Uhr hier empfangen.
Mit dieser Antwort gaben wir uns nicht
zufrieden. Unter vielen Entschuldigungen hielten wir dagegen, dass wir erstens
nicht glauben, dass die Person, um die es sich handle, in ihrem
Gesundheitszustand die Nacht noch überleben würde, und dass wir zweitens es für
ausgeschlossen hielten, den Patienten noch aus dem Bett zu hissen und hierher
zu fahren, sofern er am nächsten Tag überhaupt noch am Leben sei. Ob sich denn
der Lama nicht erbarmen könnte, uns jetzt gleich ins Hotelzimmer zu
begleiten? Und wieder verschwand die Haushälterin nach hinten. Als sie
zurückkam, meinte sie trocken, es ginge leider nicht anders.
Enttäuscht liessen wir uns von ihr zum Ausgang
begleiten. Da schlurfte plötzlich der Lama persönlich in die Garage und hiess
uns einen Augenblick zu warten. Er mochte ein 60jähriger Mann sein, war
mittelgross und neigte zur Fettleibigkeit, sah aber, wie alle Lamas, gütig aus.
Er machte sich an der linken Seite des Altars zu schaffen, wo mit Kräutern und
Pülverchen abgefüllte Gläser aufgereiht waren. Er entnahm den Gläsern einige
Prisen und schüttete sie zusammen in einen Räuchertopf. Dann bereitete er noch
einen farbigen Sirup zu und übergab uns die Mixturen. Darauf empfahl uns die
Haushälterin, damit sofort ins Hotel zurückzufahren. Wir sollten dem Patienten
den Sirup einflössen und ihm den Rauch der mottenden Räuchermischung unter die
Nase halten.
Zurück im Hotel schritten wir zur konzertierten
Aktion. Wir schalteten die Klimaanlage auf die höchste Stufe und rissen zur
Überlistung des Rauchmelders auch noch alle Fenster auf. Dann brachten wir die
Kräuter zum Glimmen und hielten den Topf unter Chais Nase. Zur Kühlung reichten
wir ihm den Sirup und murmelten ständig das Mantra „Oma Peme Hung“.
Ich weiss nicht, ob Chai etwas davon mitbekam.
Numb liess er alles mit sich geschehen. Wir jedoch waren mit dieser
Intervention leidlich zufrieden, schliesslich war der Feueralarm nicht
losgegangen.
10. Dezember 1997
Pünktlich um zehn fuhren wir mit unserem
Patienten vor. Er drohte ständig vom Rollstuhl zu kippen. Zwei seiner
Schwestern hielten ihn seitwärts, während sein Schwager und ich den Rollstuhl
über die Schwelle schoben. Im Salon des Lamas setzten wir Chai auf ein mit
Plastik straff überzogenes Sofa und stützten ihn mit ein paar Kissen, die wir
vom Hotel mitgebracht hatten. Man konnte wahrlich nicht behaupten, Chai sei
munter gewesen. Doch immerhin hatte er die Nacht überstanden. Das war für uns
schon Zeichen und Geschenk genug, denn wir führten seine noch vorhandene
Lebenskraft allein auf die Wirkung der verglimmten Kräuter und des Sirups
zurück.
Im Salon mussten wir lange warten, bis der Lama
eintrat. Diesmal lief der Fernsehapparat nicht und es herrschte gedämpfte
Wartezimmerstimmung. Als der Geistliche erschien, schaute er sich den Patienten
genau an und ordnete darauf seine Textsammlung. Dann setzte er sich Chai
gegenüber auf einen mit rotem Samt und goldgewirktem Saum überzogenen
Gebetsschemel, kreuzte seine Beine und hob an zum Gebet. Halb sang er und halb
flüsterte er, der Tonfall seiner Litanei hatte den Charakter von Stossseufzern,
wobei er immer wieder ein paar Worte oder halbe Sätze verschluckte. Auch dünkte
mich, dass er in seinen Texten ganz unterschiedlich vorankam. Zuweilen
übersprang er ein paar Seiten, und bei anderen verweilte er sehr lange. Auch
wenn wir von seinen Worten und Gesängen nichts verstanden, ich hatte keinen
Zweifel, dass Chai hier für seine Reise ins Jenseits gut vorbereitet würde.
Hier wurde er an die Unergründlichkeit des Kosmos angedockt. Hier wandelte er
sich zu unserem Abgeordneten im Reich des Bardo und wurde mit einem
spirituellen Notvorrat für die kommenden 49 Tage versehen, mit dem er das
Dunkle gut überstehen und in neuer Gestalt in unsere Welt wieder geboren werden
konnte. Ich weinte und weinte, doch ich war nicht traurig.
Ich war ergriffen von der Wahrheit des Sterbens
und Geborenwerdens. Vielleicht kam in diesem Augenblick sogar eine Art
Todessehnsucht in mir auf, ein merkwürdiger Neid auf Chai, weil er schon bald
dieses Wechselbad von Vergehen und Werden erleben durfte, während wir anderen
in unserer Haut noch auszuharren und uns mit unserem Schicksal noch eine Weile
abzufinden hatten. Der Lama flüsterte und murmelte und hantierte mit seinem
vierbärtigen, goldenen Schlüssel, und immer wieder besprengte er Chai mit
Weihwasser, das er aus einem Krug auf einen mit Pfauenfedern geschmückten Pinsel
leerte. Er betätigte mehrere Male auch das goldene Glöcklein, und der Raum war
erfüllt von einem betörenden heiligen Rauch.
Unser fürs Jenseits gut vorbereitete Botschafter
sass da und liess die Segnungen teilnahmslos über sich ergehen. Ich hätte es
für angemessen gehalten, wenn er hier auf der Stelle abgetreten wäre. Doch
plötzlich schwoll die Stimme des Lama an, und er donnerte seine Schlussworte in
Chais Gesicht. Dann herrschte Stille. Betreten blieben wir sitzen. Da erhob
sich, wie von Geisterhand geführt, Chai ganz langsam vom Sofa und formte seine
Arme zum tibetischen Gebetsgruss. Würde er sich jetzt auch noch zu Boden
werfen? Nein, doch Chais Kräfte reichten immerhin, allein zum Rollstuhl
hinüberzuwanken. Unsere Spende für den Tempel fiel grosszügig aus.
11. Dezember 1997
Heute vor zwei Jahren brachten wir Chai ins
Spital. Sein Zustand hatte sich im Verlauf des vorangegangenen Tages weiter
verschlimmert, und sein Widerstand gegen eine Überführung in die Klinik war
zusammengebrochen. Ich war mit meinen Nerven am Ende. Ich wollte nur noch
zurück in die Schweiz und hätte alles in der Welt gegeben, um vor dem
anstrengenden Rückflug wenigstens noch eine Nacht ohne Unterbruch zu schlafen.
Als ich am Morgen im Hotelzimmer seine
Siebensachen für den Umzug ins Spital packte, stellte ich fest, dass die
Familie bereits sämtliche Taschen nach Wertsachen untersucht und diese auch an
sich genommen hatte. Die Armreifen und Ringe waren alle weg, sein restliches
Bargeld auch. Nur noch seine Zahnbürste und ein paar Ersatzunterhosen fand ich,
und den Wintermantel. – Wie ungeduldig sie doch sind, dachte ich für mich,
nicht einmal warten können sie! Wie gerne hätte ich selbst noch ein kleines
Andenken an Chai behalten. Doch jetzt hielt ich mich nicht mehr dafür, darum zu
bitten. Am meisten schmerzte mich der silberne Ring, den ich ein Jahr zuvor bei
einem befreundeten Goldschmied gekauft und Chai zum Geburtstag geschenkt hatte.
Der Ring unterstrich die Schönheit seiner Hände, die mir schon immer
aufgefallen waren. Chai hatte lange, Überlegenheit und vornehme Gesinnung
ausstrahlende Finger mit grossen Nagelkuppen, und wenn ich ihm in unserer
Beziehung sonst den Prinzen nicht so gern abnahm und ihn liebend gern eher bei
den Beflisseneren und Strebsameren gesehen hätte, seine feingliedrigen Hände
waren adelig genug, um bei deren Anblick alle Forderungen an ihn sofort
einzustellen.
Chais wohlproportionierten Hände fielen mir
schon bei unserer ersten Begegnung auf. Seine Haut war feinporig und glatt, und
die Adern schimmerten bläulich durch. Sie signalisierten auf ihre Art
Sensibilität. Er las vorne am Ufer des Zürichsee ein Buch und rauchte dazu eine
Zigarette. Ich fragte ihn damals nach seinem Namen, den ich sofort wieder
vergass, weil sich meine Blicke ganz auf seine Hände konzentrierten. Selbst
jetzt, ausgemergelt bis auf die Knochen, hatten seine Hände auf mich noch immer
eine magische Anziehung. Gelb auch sie, waren sie das Einzige, was man an
diesem von Krankheit gezeichneten Körper noch für schön halten konnte.
Chai war an diesem Tag nicht mehr ansprechbar.
Ich weiss nicht, ob man das Koma nennt: er zeigte einfach keine Reaktionen
mehr. Er hielt zwar die Augen zuweilen offen, doch sie starrten in
unbestimmbare Weiten und reagierten auf keinerlei Zuspruch mehr. Mir kam der
Zustand gelegen, denn so fielen mir die beklemmende Überführung ins Krankenhaus
und der bevorstehende Abschied etwas leichter.
Er bekam ein Zweibettzimmer, weil das von uns
ins Auge gefasste Einzelzimmer wider Erwarten besetzt war. Doch dies hatte alles
keine Bedeutung mehr. Der Zimmernachbar hielt sich mehrheitlich in den Gängen
des Spitals auf und rüstete sich schon für seine bevorstehende Entlassung. Am
Abend dieses Tages veranstalteten Chais Verwandte ein Abschiedsessen für mich.
Sie lobten meinen Einsatz und zum Abschluss, als Nachspeise sozusagen,
überreichten sie mir einen versilberten Pokal, wie ihn sonst nur Sportler
bekommen, wenn sie ein Turnier gewonnen haben. Darauf waren folgende Worte
eingraviert: To Nikolaus and others / Thank you very much / From Chai’s family
/ Malaysia.
Die darauffolgende Nacht brachte leider
nicht, was ich mir von ihr erhofft hatte. Unruhig wälzte ich mich im Bett und
brachte kaum ein Auge zu. Chai fehlte mir.
12. Dezember 1997
Tag des Abschieds. Teilnahmslos lag er im
Krankenbett und nahm meinen Besuch nicht wahr. Ich war froh darum. Gleichwohl
sprach ich auf ihn ein. Ausführlich erklärte ich ihm, dass ich jetzt ohne ihn
zurückzufahren gedenke und dass ich ihn hier zurücklassen müsse, weil er für
die lange Reise zu schwach und zu krank sei. Unsere Wege würden sich deshalb
jetzt trennen. Meine Liebe zu ihm bliebe aber unerschütterlich, und ich würde
ihn mein ganzes weiteres Leben in meinem Herzen tragen.
Ich weiss nicht mehr, was ich sonst noch alles
stammelte, ich wusste damals nur, dass ich gehen musste. Es war ein quälender
Drang, der sich nicht in Worte fassen und schon gar nicht einem Todgeweihten
kurz vor dessen Hinschied erklären liess. Nur fort von hier, hämmerte es laut
in meinem Innern. Lauf, so schnell du kannst, rette deine Haut, nur fort von
diesem Strudel tödlicher Erschöpfung! Ich strich über sein Haupt, auf welchem
sich seit der Absetzung der Chemotherapie wieder feine Haarstoppeln gebildet
hatten. Ich betrachtete ein letztes Mal seine Hände und streichelte auch sie.
Ich weinte nicht, ich war gefasst und voller Angst, unverzeihlichen Verrat zu
begehen. Doch ich konnte nicht anders.
Nach einem letzten Kuss auf die Stirn verliess
ich sein Zimmer, trat hinaus auf den Flur und übergab den Stationsschwestern noch
den Rest der mitgeführten Medikamente. Sie wunderten sich über die Höhe der
Dosierung. Sie hätten noch nie zuvor einem Patienten so hohe Dosen Morphium
verabreicht. Dann trat ich aus der Klinik und ging zu Fuss zum Hotel zurück.
Ich empfand mich als brutal und gefühllos. Verbissen stapfte ich dem
Strassenrand entlang, gab den herumliegenden Steinen Fusstritte und verdammte
mich. Doch ich kam keinen Augenblick auf meinen Entschluss zurück und wollte
auf keinen Fall ans Sterbebett zurückkehren. Nein, ich musste einfach
losfahren.
Später im Hotel wurde ich von Chais Verwandten
abgeholt. Sie brachten mich zum Bahnhof. L. kam auch vorbei. Sie war kurz nach
mir auch noch schnell im Spital und berichtete jetzt, dass sich Chai plötzlich
nach meinem Verbleib erkundigt habe. Darauf habe sie geantwortet, ich sei
abgereist, worauf sich Chai in grosser Verzweiflung sein Hemd vom Leib gerissen
und im Bett armefuchtelnd getobt habe. Verdammt, schoss es mir durch den Kopf,
jetzt habe ich mir auch noch das Paradies versaut. Nie wieder würde ich dort
oben unter Chais Augen treten können.
Diese Vorstellung beherrschte mich von nun an
während der ganzen langen Bahnfahrt von Ipoh nach Kuala Lumpur. Ich marterte
mich mit dem Gedanken, die Situation an Chais Krankenlager falsch eingeschätzt
und deshalb nicht den rechten Augenblick des Abschieds erwischt zu haben.
In Kuala Lumpur angekommen, suchte ich Chais
Freund A. auf. Er betrieb dort ein erfolgreiches Grafikbüro und wusste
nichts von Chais schlechtem Gesundheitszustand. Darin schien Chai sehr
eigensinnig. Während seine Verwandten noch im fünften Grad an seiner
Krebserkrankung teilnehmen durften, hatte er es offensichtlich vermieden, gute
Freunde von seiner Krankheit in Kenntnis zu setzen.
A. beschloss aufgrund meiner Berichterstattung
sogleich, anderntags nach Ipoh zu fahren. Dann gingen wir zusammen essen.
Während ich versuchte, ein paar Bissen zu mir zu nehmen, machte A. mit seinem
Handy einige Anrufe, deren Sinn ich nicht verstand. Dann schaute er mir in die
Augen und sagte, er sei froh, dass ich mich vor dieser Nachricht noch etwas
ernährt habe. Er gehe davon aus, dass es mir jetzt den Appetit vollends
verschlage, wenn ich jetzt erführe, dass Chai soeben verstorben sei.
13. Dezember 1997
Heute vor zwei Jahren fuhr ich mit A. und D.,
einem weiteren Freund von Chai, mit dem Auto von Kuala Lumpur wieder nach Ipoh.
Ich war einigermassen gelöst und schlief auf dem Rücksitz, während die beiden
vorne auf Chinesisch plauderten. In Ipohs quadratisch angelegten Altstadt
gelangten wir zu einem Haus, in dessen Einfahrt Chai aufgebahrt in einem Sarg
lag. Dieser war mit Blumen geschmückt. Vorne an der Strasse hatte sich die
Familie versammelt. Chais Nichten und Neffen verbrannten Unmengen Himmelsgeld,
eine Art symbolischer Zollabgabe für den Übertritt ins Totenreich. Die Mutter
kam weinend auf mich zu, umarmte mich und sagte, von nun an sei halt ich ihr
Sohn. Derweil sass der Vater unbeachtet in einer Ecke und starrte reglos vor
sich hin. Ich fasste ihn fest an und wir schauten uns lange in die Augen. Dann
kam Y. vorbei und bemerkte spitz, ich hätte gar nicht erst nach Kuala Lumpur zu
fahren brauchen, seit dem Besuch beim Medium sei klar gewesen, dass es mit Chai
keine Woche mehr dauere. L. führte das Spendenbuch und kassierte bei allen ein.
Sie schilderte mir unter Tränen Chais letzten Minuten. Erstickt sei er,
elendiglich verreckt, er habe nach Luft gerungen, und nachher habe es
fürchterlich gestunken.
Ich trat zum Sarg und erblickte durch das
Fensterchen Chais Antlitz. Seine Augen waren halb geöffnet, auf dem Mund lag
eine Münze. Er sah angespannt aus und unruhig, es schien, als ob es ihm nicht
passe, hier in diesem engen Raum regungslos liegen zu müssen. Er war in ein
weisses Hemd gekleidet, seine Hände hielten eine Gebetskette.
Das also war das Ende von Chai. Wie wenn ich selbst
am Ende wäre, liefen vor meinem inneren Auge im Schnelllauf Szenen mit ihm ab,
und die Erinnerungen an sein tyrannisches Wesen hielten sich die Waage mit
seinem unglaublichen Charme, mit dem er nicht nur mich, sondern alle
Freundinnen und Freunde von mir für sich einnehmen konnte. Erinnerungen an
seine Kochkunst und seine Malerei passierten ebenso Revue wie unsere
gemeinsamen Reisen, unsere Gespräche, unsere Auseinandersetzungen. – Es war
eine Fülle von Begebenheiten, die sich hier vor diesem Sarg in mir entfalteten,
und eine unendliche Traurigkeit schwebte darüber, dass Chai nicht die Früchte
ernten konnte, deren Samen er mit seinem Wirken schon einmal gesät hatte. Jetzt
war er im Schoss seiner Familie gestorben, von der er sich elf Jahre zuvor
losgesagt hatte. Sein Lebenskreis hatte sich nun geschlossen.
Nur auf den Reisen war er wirklich entspannt und
glücklich, jede festgefahrene und durch die Behörden sanktionierte
Wohnsitznahme blieben ihm Zeit seines Lebens ein Gräuel. Deshalb war auch der
goldene Käfig von Barcelona nicht von Dauer, und auch unsere Beziehung hatte
nur dann wirklich funktioniert, wenn er jeweils bald wieder die Koffer packen
oder für kurze Zeit von einer Reise zurückkehren konnte. Was musste das für
eine Falle für ihn gewesen sein, als er bei mir plötzlich auf tragische Weise
als Krankheitsfall bleiben musste. Ich war ihm dankbar für die Erfahrungen, die
er mir allein durch sein Dasein vermittelt hatte. Mit seiner tödlichen
Krankheit hatte er sich mir auch offenbart und mir in seiner Hinfälligkeit
alles zurückgegeben, was er mir noch hätte schuldig sein können.
Mein innerer Film liess mir die Wahl: mich reich
zu fühlen und dankbar, oder zerknirscht und traurig. Heraus kam aber ein
drittes Gefühl: immer wieder beschlich mich die Frage, was Chai jetzt von mir
denke, weil ich schliesslich nicht bis zum Ende an seinem Krankenlager
ausgeharrt hatte.
Ich spürte seinen Zorn auf mir lasten. Eine
Erleichterung empfand ich erst bei der Ankunft dreier kahlgeschorener
buddhistischer Priesterinnen in grauer Gewandung. Sie sangen Gebete und
schlugen auf kleinen Trommeln und Glocken den Takt dazu. Sie knüpften am
kosmischen Netzwerk, und ich fühlte mich gut aufgenommen in den Heerscharen der
Schuldigen.
Blumen, Früchte und weitere Opfergaben stapelten
sich auf einem Tisch, und Unmengen von Räucherstäbchen glimmten und hüllten den
offenen Raum in einen leicht süsslichen Duftmantel ein. Dann wurde der Sarg auf
einen Toyota-Transporter geladen. Die Frauen blieben in der Stadt zurück,
während wir Männer mit lautem Hupen durch den dichten Verkehr zu einem der
Felsentempel vor der Stadt fuhren. Im Ofen war das Brennholz bereits
aufgeschichtet, darüber schoben jetzt die Männer den Sarg, und wir wuschen
unsere Hände in Blütenwasser. Dann wurde das Feuer entfacht und schon bald
entwich den Dachritzen des Ofens dichter Rauch, der sich der Felswand
emporschlängelte und sich weiter oben in der bewaldeten Kuppe verlor. Dort
zwitscherten die Vögel um die Wette und die Affen lärmten mit.
14. Dezember
Heute vor zwei Jahren landete ich wieder in
Zürich. Die ganze Nacht hindurch hielt ich bei klarem Sternenhimmel
Zwiegespräche mit Chai und versuchte ihm zu erklären, weshalb ich ihn verliess.
Er sass draussen auf dem Flügel und rauchte eine Zigarette um die andere. Die
Verständigung durchs Flugzeugfenster war schwierig. Es gelang mir nicht, ihn
auch nur in irgendeiner Weise von meinem Handeln zu überzeugen. In meiner
Verzweiflung und in meinem schlechten Gewissen wurde ich recht ausfällig. Jetzt
machte ich ihm laute Vorhaltungen. Er sei verwöhnt, schnauzte ich ihn an, ich
sei auch nur ein Mensch, womit ich die Aufmerksamkeit der Flugpassagiere auf
mich lenkte. Er aber blieb draussen neben dem Flugzeugfenster hocken und
bezichtigte mich, ohne mir in die Augen zu schauen, des Verrats. Da draussen
sah er strahlend aus und gesund, und ich begriff nicht, wie so einer an Krebs
hatte sterben können.
Das Morgenturnen vor der Ankunft mochte ich
nicht mitmachen. In Zürich-Kloten landete ich als Sünder, schuldig am Tod des
geliebten Freundes. Wartete dort draussen nicht schon die Polizei, um mich
abzuführen?
Zu Hause begann ich sofort mit Aufräumen,
stapelte seine Kleider aufs Bett, unterschied in Sommersachen, die ich Chais
Familie schicken, und in Wintersachen, die ich hier verteilen wollte. Auch hier
bei diesen Kleidern erschien mir Chai. Er sagte nichts, rauchte und sah mir
beim Ordnen zu.
Ich spürte, er war mir weiterhin gram. Er hatte
sein stoisches chinesisches Lächeln aufgesetzt. Unerträglich. Kein Wort des
Dankes für meine aufopfernde Pflege, keine einzige versöhnliche Geste, damit
ich nach all diesen Anstrengungen wenigstens hätte in Ruhe schlafen können.
Nach den Kleidern ordnete ich auch noch seine
Bilder. Erst jetzt merkte ich, dass er in den letzten Monaten seines Lebens
nächtelang durchgearbeitet haben musste. Es kamen Dutzende von Blättern zum
Vorschein, von denen ich nichts wusste. Zum Schluss ordnete ich auch noch die
Belege meiner Ausgaben, die durch die Rückführung Chais nach Malaysia
entstanden waren, und ich schrieb zu Handen des unterstützenden Freundeskreises
eine Rechnung.
27. Dezember 1997
Heute vor zwei Jahren fand in einem privaten
Versammlungsraum für Chai eine kleine Gedenkfeier statt. Etwa fünfzig Freunde
waren erschienen. Auch der Spanier aus Barcelona war angereist. Er erfuhr von
Chais Erkrankung und Tod erst durch die Todesanzeige, die ich all denen
zugeschickt hatte, deren Anschrift sich in Chais Adressbüchlein finden liessen.
J.-C. rezitierte an der Feier auf Katalanisch ein paar Gedichte von Joan
Maragall. Sie soll der kunstsinnige Chai besonders geliebt haben. Darauf
las meine Mutter ein selbst verfasstes Gedicht vor. Es handelte von
Erinnerungen an Chai. Mein Freund H.-M. verlass den von mir verfassten
Lebenslauf und R.L. spielte auf seiner Gitarre einen Tango und ein paar
expressive Stücke von Rudolf Kelterborn. Darauf erklärte unsere Freundin und
Buddhismus-Expertin C., wo sich nach buddhistischem Glauben Chais Seele
jetzt befinde. Es sei dort dunkel, sagte sie, und man müsse ihr den Weg
leuchten. Für die Feier hatte ich in der Migros vorsorglich eine grosse Menge
von Teelichtern eingekauft. Diese zündeten wir an. So wurde es hell und warm im
Raum.
Zur Erinnerung an Chai wählte sich ein jeder aus
einem Stapel ein Bild aus. Das war sein Wunsch.
28. Dezember 1997
Aufräumen des Versammlungsraumes. Der Spanier
half mir dabei. Von den 31 Rosen, die das Gedenktischchen schmückten, warfen
wir eine um die andere in den nahen Fluss und begleiteten sie mit unseren guten
Gedanken.
Später an meinem Küchentisch kam J.-C. ins
Erzählen. Für ihn sei Chai auch ein Projekt gewesen, ein Ziehsohn, dessen
künstlerischen Begabungen er hätte zum Erblühen bringen wollen. Doch irgendwann
hätte sich Chai seinem Zuspruch verweigert. So seien die Erinnerungen an den
Verstorbenen auch etwas gemischt.
Ich meinte darauf, der junge Chai sei der
Grosszügigkeit seines Förderers einfach nicht gewachsen gewesen. „He was too
good to me“ hatte mir Chai einmal über seinen spanischen Freund gesagt, worauf
J.-C. am Küchentisch bitterlich zu weinen begann. Wir waren uns darin einig,
dass sich Chai selbst oft für einen schlechten Menschen gehalten hatte. Mit
einem derartigen Selbstbild liessen sich Freiheiten wie Kehrtwendungen,
Bocksprünge, Launen und Ungereimtes, die er für sich immer wieder
herausgenommen hatte, besser rechtfertigen, Taten, die einem sogenannt guten
Menschen wohl schlecht angestanden wären. Wie oft hatte mich Chai aus heiterem
Himmel gefragt „do you hate me?“ – Mit meiner Antwort, dass dies nicht der Fall
sei, gab er sich jeweils nur halbwegs zufrieden.
30. Dezember 1997
Weihnachtstage in Stockholm. Ich ärgerte mich,
dass das Hotel keine Flugmeilen mehr gutschrieb, weil zwischen der Scandinavian
Airline, zu welcher das Hotel gehörte, und der Swissair die Zusammenarbeit
gerade auslief.
In Stockholm blies ein eisiger Wind, und die
zahlreichen Wasserarme der Stadt waren zugefroren. Am Abend Einladung bei
Freunden. Der Mann war pensionierter Oberrichter, die Frau eine gute Freundin
meiner Familie. Die beiden wohnten in einem gutbürgerlichen Stadtteil und
hatten reichhaltig gekocht: Salat, Suppe, einen mit Pflaumen gespickten
Rindsbraten, und plötzlich unterbrach die Gastgeberin das Gespräch.
„Halt, da, da links. Da steht er, dein Freund“
sagte sie ganz aufgeregt, „ich spüre ihn ganz deutlich“. Sie horchte eine Weile
hin und wandte sich darauf wieder zu mir. Es gehe ihm jetzt wesentlich besser,
meinte sie, alles sei gut. Dann assen wir weiter.
12. Januar 1998
Vor zwei Jahren in Barcelona. Auf Besuch bei
J.-C., der eine kleine Putscha für unseren Chai arrangierte. Der Tempel war im
dritten Stock einer Mietwohnung untergebracht. Junge westliche Mönche, des
Tibetischen offensichtlich mächtig, leierten ihre Gebete herunter und gaben uns
Gelegenheit, noch einmal unseres Chais zu gedenken.
Nach der Zeremonie nahmen wir den grossen
Strauss roter Nelken, der den Altar geschmückt hatte, mit uns und fuhren zum
Hafen hinunter. Es war stürmisch auf der Mole draussen, der Wind pfiff uns um
die Ohren, und wir beide hatten Bedenken, ob denn die Blumen, die wir ins
Wasser werfen wollten, ihren Weg ins Meer hinaus überhaupt finden würden. Doch
der Wurf gelang, und die Nelken trieben vorbei an den grossen Steinquadern
hinaus ins offene Meer. Erleichtert schauten wir uns an. Ich glaube, hier
wurden J.-C. und ich endgültig zu Freunden. Ich bewunderte seine Würde und
seinen Umgang mit Abschiedsschmerz. Er wiederum beschloss auf dieser Mole,
Chais Urnengrab in Ipoh zu besuchen, und zwar am 49. Tag nach dessen Hinschied,
dann, wenn sich nach buddhistischem Glauben Chais Seele wieder auf den Weg
machen dürfte, ein neues Wesen zu beleben.
30. Januar 1998
Heute vor zwei Jahren weilte ich für ein paar
Tage bei Ning im thailändischen Phuket. Ich war damit seiner Einladung
gefolgt, die er in meinen schwierigen Tagen von Ipoh ausgesprochen hatte.
Nachdem wir ein paar erholsame Tage auf Phee-Phee-Island verbracht
hatten, kehrten wir rechtzeitig zur Hauptinsel zurück, um in einem Tempel
diesen 49. Tag nach Chais Tod zu begehen.
Wir kauften auf dem Markt Orchideen,
Jasminblüten und Essen, das wir in Plastic-Behältnissen den Mönchen mitbringen
wollten. Wir schwangen uns aufs Moped und fuhren mit unseren Mitbringeln durch
die wilde, feuchtheisse Landschaft. In der Obhut des Ortskundigen fühlte ich
mich sicher und glücklich. Vor dem Tempel hiess er mich dann die Schuhe
ausziehen und Chais Name auf einen Zettel schreiben, damit die Mönche auch des
Richtigen gedachten. Dann musste ich, einem Hindernislauf gleich, diese und
jene Statue küssen, Räucherstäbchen schütteln, mit der Stirn den Boden
berühren, in diesen und jenen Topf etwas spenden, Goldpapierchen auf das Knie
einer sitzenden Buddhastatue abreiben, den Rüssel eines hölzernen Elephanten
streicheln…
Die ganze Prozedur bereitete mir grosse
Befriedigung. Alles in mir floss, und ich fühlte mich so reich wie kaum je
zuvor. Plötzlich kam mir Chais Vision wieder in den Sinn, die er einmal während
einer seiner Schmerzattacken hatte. Damals verkündete er verheissungsvoll, er
werde voraussichtlich als Schwarzer in Afrika wiedergeboren: „Very beautiful
but very poor.“ – Augenblicklich griff in mir die Idee Raum, ihn dereinst in
Afrika suchen zu gehen…
Abends auf der Terrasse eines Restaurants mit
Blick über die Meeresbucht von Patong tranken wir Singha-Bier und assen
thailändische Köstlichkeiten. Ich war Ning so dankbar. Wir sprachen über unsere
Leben und unsere Zukunftspläne. Da hielt mein Gastgeber plötzlich inne und
meinte, er hätte schon einen konkreten Wunsch, er würde damit aber überall nur
Kopfschütteln und Unverständnis ernten. Doch unter den gegebenen Umständen
hätte ich vielleicht Verständnis für seine Idee: Er präpariere nicht ungern
Leichen, gestand er mir, und eigentlich möchte er gern ein Begräbnisinstitut
eröffnen. Dieses Bekenntnis haute mich um. Sogleich anerbot ich mich als
stillen Partner.
* * *
1. Juli 2010
Seit Chais Tod sind nun viele weitere Jahre ins
Land gezogen, in welchen er sich kontinuierlich von mir entfernt hat. Es
braucht heute schon starke Anlässe, sich seiner zu erinnern oder seiner zu
gedenken. Das Requiem von Giuseppe Verdi ist so ein Anlass. Er liebte es
über alles, vor allem dann, wenn er für sein Unglücklichsein keine Worte mehr
fand, oder wenn er auf mich wütend war. Dann zog er sich in sein Zimmer zurück
und hörte sich mit Kopfhörern so laut das Dies Irae an, dass ich es noch durch
die verschlossene Türe vernehmen konnte.
Auch beim Song „It’s my life“ von Bon Jovi
kommt mir Chai noch regelmässig in den Sinn. Das Lied beherrschte zu jener Zeit
gerade die Hitparade. Als wir einmal auf ein Laborresultat mehrere Tage warten
mussten und Chais Schmerzen unerträglich wurden, rief er den Arzt an und
begründete seine Ungeduld resolut mit dem Satz „It’s my life…“
Meinem eigenen Tode aber bin ich seither 15
Jahre näher gerückt. Habe ich mich damit auch Chai wieder angenähert? Möchte
ich ihm dereinst im Himmel oder wo auch immer überhaupt wieder begegnen? Soll
ich mich jetzt in meinen alten Tagen noch nach Afrika aufmachen und seine Seele
in einem schwarzen Ghetto suchen gehen? Oder liegt er im Paradies unter einer
Bananenstaude, raucht seine Zigaretten und ignoriert mich womöglich, sollte ich
ihn je antreffen, weil er immer noch böse auf mich ist?
Zwei Jahre nach seinem Tod zog ich meine
Tagebuchnotizen hervor und schrieb den vorangegangenen Text. Nach jedem Tag las
ich die entsprechende Passage meiner Freundin und Nachbarin D. vor. Sie war
damals an Chais Abschiedsessen auch dabei und hatte die Süssspeise
beigesteuert. – Mittlerweile ist sie selbst eines qualvollen Todes gestorben,
und ich musste im Kirchgemeindehaus von Schwamendingen-Mitte zu ihrem Abschied
sprechen. Vorne war ein Altar in tibetischem Stil errichtet worden mit Blumen,
Opfergaben und dem Konterfei der Verstorbenen. Ich beging den unverzeihlichen
Fehler, mich hinter diesem Altar zum Rednerpult heranzuschleichen, statt vorne herumzugehen
und mich vor ihrem Bild noch zu verneigen. Vielleicht tat ich es nicht, weil
ich sonst losgeheult hätte, statt meine vorbereitete Abschiedsansprache
vorzulesen.
Auch meine Mutter ist seit acht Jahren tot. Sie
hatte Chai so geliebt, dass ich manchmal sogar etwas eifersüchtig wurde. Da
herrschte eine enge Verbindung, und ich bin mir sicher, dass sich die beiden im
Himmel oder sonst wo wieder über den Weg laufen und sich über diese Begegnungen
sehr freuen.
Kurz nach Chais Tod tat ich mich mit einem
Brasilianer zusammen. Er hiess H. Über dieser hastigen Verbindung jedoch
herrschte ein strenger asiatischer Schatten. Ich rief ihn allzu oft Chai. Nach
gut einem Jahr war es vorbei.
Ich hatte und habe immer noch die Absicht, das
vorliegende Erinnerungstagebuch mit einem Postskript anzureichern. An diesem
Punkt stehe ich jetzt und schreibe diese Zeilen in dieser Absicht. Ich könnte
zum Beispiel hier erwähnen, dass ich fünf Jahre nach Chais Tod nochmals nach
Ipoh reiste, mit Chais restlichen Bildern eingerollt unter dem Arm. Die ganze
Familie empfing mich damals wie einen verlorenen Sohn und begleitete mich zum
Felsentempel mit den vielen in die Mauern eingelassenen Urnengräbern. Wir
brachten Blumen, gekochten Reis und Früchte mit. Seine Urne befand sich im Fach
Nummer 8915. Man konnte das schmiedeeiserne Türchen, an welchem ein ovales emailliertes
Bild des jugendlichen Chai angebracht war, öffnen. Neben der Urne lagen sein
Tagebuch und der vermodernde Wintermantel. Zwei rote fingerlange Halbmonde aus
Holz befanden sich auch dort. Damit konnte man Kontakt zum Verstorbenen
aufnehmen.
Nachdem wir die Blumen und Speisen als
Opfergaben auf einem Klapptischchen ausgebreitet hatten, zündete Chais Mutter
eine Zigarette an und steckte sie ihrem Sohn ins Urnenfach. Soll er doch ein
paar Lungenzüge davon nehmen. Jetzt schaden sie ihm nicht mehr, er hatte sie
doch immer so genossen. Dann schüttelten wir die Räucherstäbchen, und jeder von
uns murmelte dazu ein Gebetchen. Zum Schluss wurde ich aufgefordert, mittels
der beiden Halbmonde Kontakt zu Chai aufzunehmen. Ich wurde angeleitet, wie ich
die beiden Gegenstände auf den Boden zu werfen habe. Je nachdem, wie sie zu
liegen kamen, konnte man herauslesen, wie es Chai gehe und was er über einen
denke. Ich war also, worauf die Familie mir schonend beizubringen versuchte,
dass Chai ganz offensichtlich immer noch böse auf mich sei, denn beide
Halbmonde kamen auf die konkave Seite zu liegen, was nichts Gutes verhiess.
Jahre später verschüttete ein Erdrutsch einen
Teil der Tempelanlagen. Die Urnen wurden evakuiert und auf andere Tempel
verteilt. Als ich letztes Jahr meine Adoptiv-Familie in Ipoh wieder einmal
besuchen ging, befand sich Chais Urne in einem modernen Grabstätten-Komplex
unterhalb eines anderen Felsenhügels. Es war weniger muffelig dort, und man
konnte das Auto unmittelbar neben den Urnengräbern parken.
Ich hatte Angst, wieder Halbmonde werfen zu
müssen. Doch die Urne war diesmal eingemauert, Chais Geist konnte so nicht mehr
entweichen. Diese Erfahrung veranlasste mich, gefahrlos das alte Manuskript
wieder einmal hervornehmen und mich damit zu befassen.
Chai wollte seiner kleinen Welt in der
malaysischen Provinz entfliehen und sah in Europa die Erfüllung seiner
Sehnsüchte. Wenn ich aber den Entwicklungsverlauf der letzten 25 Jahre zwischen
Asien und Europa vergleiche, so komme ich zum Schluss, dass seine Chancen
eigentlich in Asien gelegen hätten. Hier bei uns gelangte er in ein gemachtes
Nest namens Europa, während er in Asien an einem gigantischen Nestbau hätte
teilnehmen können. Als wir den Schwerstkranken für die paar Stunden bei
Verwandten in Kuala Lumpur zwischenlagerten, sah man vom Haus aus in der Ferne
die beiden Petronas-Türme im Bau. Sie sollten für geraume Zeit die höchsten
Wolkenkratzer der Welt werden.
Malaysia entwickelte sich in kürzester Zeit von
einem Schwellenland zu einem modernen Staat, rodete Abertausende von Hektaren
Urwald, pflanzte an dessen Stelle Palmöl-Felder und machte den Schweizer
Urwaldretter Bruno Manser, der seit dem Jahre 2000 als verschollen gilt,
zum Staatsfeind Nummer eins. Tierschützer hingegen liess man gewähren. Sie
errichteten zum Beispiel für heimatlos gewordene Orang-Utans eine Auffang-und
Auswilderungsstation. Sie befindet sich in der Nähe von Sandakan und
heisst Sepilok Rehab Center. Auf einer Rundreise durch Sabah
konnte ich diese bemitleidenswerten Tiere mit ihrem treuherzigen Blick
beobachten, wie sie in einem vierphasigen Programm langsam wieder an den Urwald
gewöhnt werden, nachdem sie von Rangers in oft erbärmlichem und ausgehungertem
Zustand auf offenen Rodungen aufgelesen worden sind. Aber wohin sollen sie nur
gehen, nachdem sie sich allmählich wieder an den Urwald gewöhnt haben? Da ist kaum
einer übrig. Vom Flugzeug aus entdeckte ich längs der Flussläufe noch
Grünstreifen, in welchem wohl Affen und Vögel um die Wette pfiffen und von
Buschwerk zu Buschwerk jonglieren konnten, doch unmittelbar dahinter breiteten
sich überall Palmöl-Felder aus, kilometerbreit und weit. Wahrlich kein Orang-Utan-Land.
Ich buchte bei meinem Besuch von Sabah auch eine
Vier-Tage-Dschungel-Safari und übernachtete an einem dieser Flüsse einige Male
in einem Urwald-Camp mit Moskito-Netzen über den Betten. Der Zufall wollte es,
dass zu dieser Zeit ein amerikanischer Fernsehsender ein Überlebens-und
Abenteuer-Rennen durch Sabahs Rest-Dschungel veranstaltete. Während also die
harten Männer mit Unterstützung einer Biermarke und einer Zigarettenfirma durch
die Wälder streiften, Eidechsen jagten und Beeren pflückten, fuhr ihnen der
Familientross von Urwald-Lodge zu Urwald-Lodge nach. Über
TV-Satelliten-Schüsseln konnten wir dann abends bequem von der Hängematte aus
an einem amerikanischen Sender mitverfolgen, was sich unweit von uns über tags
alles abgespielt hatte. Die Ehefrauen und Kinder kreischten, wenn sie Daddy
ausrutschen und ins Wasser plumpsen sahen. Wenn man denkt – bei all den
Krokodilen dort. Einmal aber stieg der Generator aus und es wurde früher still
als geplant.
Am letzten Tag gab es einen Urwald-Spaziergang
zu einer Schwalbennest-Höhle. Sie gilt als eine der grössten der Welt und hat
Ausmasse, welche die des Petersdoms von Rom bei weitem übertreffen. Heerscharen
von Schwalben schwirren dort im fahlen Licht herum, welches gegen oben aber
immer scharfkantiger wird, weil von einem seitlichen Loch her Sonnenstrahlen
eindringen. Es stank bestialisch und die Begehung war ein glitschiges
Unterfangen. Unser Führer beeindruckte uns mit der Bemerkung, dass unsere
Körper in Kürze aufgelöst würden, sollte es uns belieben in den aggressiven Kot
zu fallen.
Ganz weit oben in der Kuppel dieser immensen
Höhle hingen an Seilen Einheimische und ernteten Vogelnester, genau solche, wie
Chai sie in den letzten Tagen seines Lebens von seiner Mutter noch eingeflösst
bekommen hatte. Aufgekochte, glitschige Gallerte, ich habe das Zeugs nie
ausprobiert.
Dort in dieser Höhle kam ich zum ersten Mal zum Schluss,
dass ich jetzt von Chais Heimat womöglich mehr kannte, als er es zum Zeitpunkt
seines Aufbruchs nach Europa tat. Ich empfand dabei keine Befriedigung, nur
Bedauern, wie viel ihm dabei entgangen ist. Für mich aber begann sich in dieser
Höhle allmählich das asiatische Tor zu öffnen, das mich in den darauffolgenden
Jahren öfters nach China, Indonesien und Japan führte, alles Destinationen, die
für Chai hätten eine genuine Bedeutung erlangen können. Er sagte schliesslich
des Öfteren, er sei mehr Chinese, als es auf den ersten Blick den Anschein
mache. Es tönte wie eine Drohung, eine Grenzziehung. Wir Langnasen würden nie
auf den Grund seines Wesens gelangen.
Seine gelegentlich gemachte Bemerkung barg aber
auch ihr Gutes, indem ich nie, auch heute nicht, mir je die Mühe gemacht hätte,
Chai in seinem Wesen gänzlich zu verstehen. Die Entdeckung der asiatischen Welt
ging bei mir immer mit dem Eingeständnis einher, davon im Grunde nichts zu
wissen und nichts zu verstehen. Die Reisen waren Meditationen über die eigenen
Grenzen und die Unmöglichkeit, diese zu überwinden. In meiner
Auseinandersetzung mit ihm lernte ich eigentlich nur mich selbst besser kennen,
meine eigenen Fehler, meine Art, die zu Zuneigung aber auch zu
Missverständnissen führen kann. Chai gab mir Gelegenheit, an ihm zu reifen.
Sein Sterben war sein Geschenk für mich und eine Lektion der besonderen Art,
bei welcher ich mit meiner eigenen Beschränktheit konfrontiert war. Bei Chai
hatte ich mich plötzlich als jemanden erlebt, der sich nicht bis zur
Selbstaufgabe aufopfert, sondern der sehr gut erkennen kann, wann die
Erschöpfung ein Ausmass annimmt, die dringlich nach Gegenmassnahmen verlangt,
auch wenn ich damit unverzeihliche Schuld auf mich lade.
Soll das der Schluss dieser Geschichte sein?
Habe ich die Lektion über mich, die mir damals Chai so drastisch vor Augen
geführt hatte, auch wirklich begriffen?
Man spricht zwar von einer Lektion, aber
eigentlich wird einem in solchen Momenten lediglich vor Augen geführt, wer man
ist, schon immer gewesen ist, der sich aber erst in Extremsituationen so zu
erkennen gibt und sich ansonsten versteckt im Mäntelchen des zivilisatorischen
Common Sense. Ich werde wohl in einer ähnlich gelagerten Situation nicht viel
anders handeln können. In den extremen Momenten bleibt man allein: sowohl beim
Sterben als auch beim Überleben…
© Nikolaus Wyss
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