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Sonntag, 2. März 2025

Stägeli uuf, Stägeli ab, juhee (Tagebuch 13)


Beim Anhören weinen

    Ich hatte einmal eine Liebschaft mit einem Franco Meier. Das sind wohl 40 Jahre her, und er ist schon seit langem tot, wobei ich nicht weiss, ob er sich damals das Leben nahm oder ob er an einer Überdosis starb. Es kommt letztlich aufs gleiche hinaus. Er schenkte damals an einer Stehbar im noch nicht umgebauten Zürcher Hauptbahnhof Kaffee und Bier aus, und wir verknallten uns ineinander. 
    Was mich an ihm einerseits faszinierte und andererseits jeweils auch vor Rätsel stellte, war die Art, wie er kommunizierte. Er wusste seine Gefühle oft nicht in Worte zu fassen, doch Songs englischsprachiger Popstars seiner Zeit halfen ihm, das auszudrücken, was ihm selbst nicht gelingen wollte. So hörten wir auf meine Fragen hin andauernd aus seinem Kassettenrecorder Musik, deren Botschaft ich nur selten auf Anhieb verstand, die aber mit ihm wohl zu tun hatten. Die Dire Straits, und bei denen natürlich Mark Knopfler, standen ganz oben auf seiner persönlichen Gefühlshitliste.
    Ich komme darauf, weil ich momentan in einer Phase stecke, wo ich einerseits meine, mit Simons Abgang nach einer fast dreijährigen Liebschaft endlich über dem Berg zu sein. Kein Wort mehr möchte ich über ihn verlieren. Doch ich komme grad ins Heulen, wenn ich die folgenden (Abschieds-)Songs anhöre. Büne Hubers Frage hier oben, wo die Geliebte heute Nacht sich befinde, halte ich für einen der gefühlvollsten Beiträge zum Thema. Und die langsam ausklingende Maultrommel zum Schluss bringt es auf den Punkt.  
    Sehr sehr emotional bin ich kürzlich beim Anhören dieses Songs von Dabu Bucher geworden. Ich kannte ihn vorher nicht, und sein Zürichdeutsch steht einer emotionalen Poesie eher im Wege. Doch beim zweiten Mal hinhören erschütterte mich sein Lied gewaltig. Er schrieb es, als er sich in eine neue Frau verknallt hatte und sich von seiner früheren Freundin trennen wollte/musste:
 

    Udo Lindenberg will es aktiv mit Abgrenzung schaffen und redet sich ein, dass es ihm gut gehe ohne sie. Dieser trotzige Kampf mit seinen eigenen Gefühlen ist grosse Psychologie.  

 
    Das vierte Lied hat sich Simon selbst immer wieder angehört. Auch dort geht es ums Verlassenwerden und das kaum darüber Hinwegkommen:
 
 
 
Und schliesslich der Salsa zum Schluss, wo es auch um das Rätsel des Fortgehens einer Geliebten geht, allerdings so: geh schon, wenn du gehen willst.

  
 
     Ja, das Thema des Verlassenwerdens steht bei mir grad im Vordergrund, wobei ich glaube, es gehe nicht nur um den einen Menschen, von dem ich mich übrigens selbst getrennt habe. Es geht wohl eher um den schmerzhaften Abschiedsprozess vom früheren Leben, von den verbliebenen jugendlichen Restgefühlen. Ich erlebe mich jetzt plötzlich älter, als ich sein möchte. Das war früher nie der Fall. 
    Ich sehe keine Vorteile meines Alters. Es ist zwar nicht so, nochmals in ein früheres Alter zurückkehren zu wollen. Doch irgendwo einen Mehrwert zu sehen in der gegenwärtigen Situation wäre doch sehr wünschenswert. Stattdessen drohen die Zähne auszufallen, und die Arthritis erlaubt mir nicht mehr, ein normal verschlossenes Gonfiglas zu öffnen. Soll es da ein Trost sein, dass die ärztliche Untersuchung mir attestieren will, dass ich - für mein Alter (!) - kerngesund sei?
 
Der Einschlagskorridor
 

    Meine Wahlheimat Bogotá befindet sich laut neuesten Berechnungen im Einschlagskorridor des Asteroiden 2024YR4, der am 22. Dezember 2032 mit einer über dreiprozentigen Wahrscheinlichkeit die Erde treffen wird. Ein vorangekündigtes, himmlisches Vorweihnachtsgeschenk, das mir insofern in den Kram passt, als es nicht die einzige Bedrohung darstellt, die mich derzeit umtreibt. Natürlich ist es nicht dieselbe Dimension, doch hinter unserem Haus flattern seit kurzem giftgrüne Flaggen, die verheissen, dass hier ein Neubau geplant ist. Man spricht von 30 Stockwerken, wobei ich selbst die Pläne noch nicht gesehen habe. Schon einmal planten sie auf diesem Parkplatz eine Überbauung. Das war noch vor der Pandemie. Dann aber wurden die Baumaterialien teurer, und die Berechnungen der bereits verkauften Flächen ergaben, dass sich der Bau nicht lohnt. Jetzt scheint es einen zweiten Anlauf zu geben mit potenteren Geldgebern, die vor steigenden Zement- und Stahlpreisen nicht zurückschrecken.

    Plötzlich sehe ich meinen Alterssitz für gefährdet. Ich weiss nicht, ob ich in meinem fortgeschrittenen Alter in unmittelbarer Nähe zwei bis drei Jahre Bauzeit mit all dem Lärm, dem Staub und den Erschütterungen schadlos überstehe für einen Klotz, der mir zum Schluss Licht und Sicht rauben wird. Und manchmal denke ich, wenn die Investoren die Einschlagswahrscheinlichkeit des Asteroiden als Risikofaktor ernst nehmen würden, würden sie von der Errichtung des Bauwerks vielleicht die Finger lassen…

 

Der 20. Februar

 


    Geburtstage haben ihre eigene Hierarchie. Für ein Kind ist der Geburtstag in jedem Jahr ein Ereignis, geschürt von stolzen Eltern mit Kerzlein-Ausblas-Ritualen, Kindereinladungen und Geschenken. Hinzu kommen ab einem bestimmten Alter die Eintrittsberechtigungen für Kindergarten und später für die Primarschule. Und dann signalisiert jeder weitere Geburtstag, in welche Filme man schon gehen darf und welche noch verboten sind (und man trotzdem hingeht). Dasselbe gilt für den Kauf von Alkoholika und Tabakwaren. Auch Sex ist altersgeregelt, der Führerausweis und die politische Mündigkeit. Das heisst, Geburtstage haben im Kindes- und Jugendalter ihre legitimierende Wichtigkeit. Dann aber lässt ihre Bedeutung nach. Wenn man einmal 20 ist, so ist der 21. Geburtstag oder der 22. oder der 23. nicht mehr das Tor zu einem neuen Lebensgefühl der Freiheit und der bis anhin verbotenen Zugangsberechtigungen. Wenn man dann trotzdem seinen Geburtstag feiert, so ist es, weil man es schön findet und Aufmerksamkeit geschenkt bekommt. (Umso trister, wenn sich niemand dieses Anlasses annimmt. Ich kenne ein paar Jungs hier in Kolumbien, in deren Familien Geburtstage kein Thema sind. Oft mangelt es auch an Geld, ihn gebührend zu feiern. Diese Jungs wenden sich dann an mich und kündigen an, dass sie übermorgen Geburtstag hätten in der Erwartung, ich würde ihnen etwas spendieren, was ich im allgemeinen auch gerne tue.)

    Weitere Lebensereignisse aber, wie bestandene Prüfungen, Stellenwechsel und Hochzeiten, halten sich nicht an das eigene Geburtsdatum und laufen so der Bedeutung des Geburtstags den Rang ab. Natürlich gibt es Ausnahmen bei runden. Ich zum Beispiel feierte meinen 40. in der algerischen Sahara in der Nähe von Tamanrasset. Den 50. in Luzern mit 200 Gästen aus nah und fern, den 60. als Abschied von meinem Posten als Rektor, den 65. in der Mars-Bar an der Zürcher Langstrasse, den 70. auf dem Dach unseres Hauses hier in Bogotá, ebenso den 75., dies gerade zweimal. Einmal hier in Bogotá wieder auf dem Dach des Hauses mit 30 Gästen, und das zweite Mal im Juni in der Schwamendinger Ziegelhütte am Rande des Zürichbergwaldes mit über 60 Gästen. Daran erinnere ich mich gerne zurück mit dem Gefühl des Geliebtseins und der Dankbarkeit.

    Kürzlich wurde ich 76, und einige meiner Generation haben nicht reagiert, was ihnen nachträglich peinlich war. Mein Gott, in diesem Alter hat ein 76. doch keine besondere Bedeutung. Mir fiel das Ausbleiben von einigen Glückwünschen nicht einmal auf. Denn gleichzeitig bekommt man ja auf Facebook einen kaum überblickbaren Schwarm von "happy birthdays" von mir meist persönlich unbekannten Usern/"Freunden" aus aller Welt...

    Ich feierte meinen diesjährigen Geburtstag ohne grossen Aufhebens, auch wenn meine Hausbewohner in kleinem Rahmen mit einer Torte für einen feierlichen Augenblick gesorgt hatten. Doch die Bedeutung eines Geburtstages liegt bei meiner Alterskategorie woanders. Wo stehen andere 76jährige? – Bröckelt es bei ihnen schon gewaltig, oder rieselt es eher (wie bei mir)? Und mit wachsendem Wohlwollen erinnere ich mich an meine Grossmutter, wenn sie über Gleichaltrige oder soeben Verstorbene sprach. Das war jeweils eine grosse Peer Review, bei welcher sie bis ins hohe Alter ziemlich gut abschnitt.  

 

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©Nikolaus Wyss
 

 

   

 

 

 

Freitag, 3. Februar 2023

Ist Schnurren Liebe? - Mit CUAL im Gespräch

CUAL will mich nicht verstehen
 Du liebst mich nicht mehr.

Wie kommst du darauf?

Du schubst mich von deinem Schoss.

Das hat doch nichts mit Liebe zu tun. 

Wenn du mich lieben würdest, dürfte ich hocken bleiben.

Wenn ich, wie heute, schwarze Hosen anhabe, meine Liebe, dann sind meine Hosenbeine in kürzester Zeit voller Haare.

Da kann doch ich nichts dafür. Dass sie dich stören, ist Zeichen genug, dass deinen Gefühlen mir gegenüber enge Grenzen gesetzt sind. Wenn du mich lieben würdest, hättest du keine Probleme mit meinen Haaren. 

Halt halt. Du gehst von einem Liebesbegriff aus, welcher der Alltagspraxis nicht standhält. Die besten Liebesbeziehungen anerkennen gegenseitig die Grenzen des Gegenübers. Respekt davor macht ihre Liebe erst gross und dauerhaft. 

Blablabla. In welchem Psychobuch hast du das wieder gelesen? - Auch wenn dich meine Haare stören, gibt es keinen Grund, mich runter zu schubsen. Du kannst ja die Hosen später wieder sauber lecken. Das mache ich schliesslich auch mit meinem Fell. Meinst du, es sei angenehm, all die Haare auf meiner Zunge zu spüren? Aber ich mache es. Aus Liebe für dich... 

Du raspelst Süssholz. 

Tatsache.

Nein, nichts Tatsache. Du säuberst dein Fell, auch wenn ich ausser Hause bin. Beim Einkaufen oder in Europa zum Beispiel. 

Wenn du nicht da bist, bin ich entweder einsam und das Lecken lenkt mich etwas davon ab. Oder Danika und ihre Freunde sind da, die wissen eine hübsche und saubere CUAL mehr zu schätzen als du. Dort lecke ich mich sogar, wenn ich auf deren Schoss sitze.

Aber auch diese bekommen deine Haare ab.

Deren Freude überwiegt. Ich darf bei ihnen hocken bleiben. Und ich schnurre voller Dankbarkeit.

Du darfst bleiben, weil sie Angst vor dir haben. Wenn man dich nämlich wegschubst, zeigst du Krallen. Sieh dir doch all die Kratzer an, die du bei deinen Abhängen schon auf meinen Händen hinterlassen hast. 

Die teile ich nur aus, weil du mich nicht akzeptierst, wie ich bin.

Ich mag auf meinen Hosen einfach keine Haare ablecken. Basta. Verstehst du das nicht? Wenn du dich auf meinem Schoss bequem machst, schnurrst du übrigens auch.

Da siehst du nur, wie wenig du von meinen Liebesbezeugungen hältst. Du schickst mich weg, obwohl ich für dich schnurre. 

Du schnurrst nicht, weil du mich liebst, du schnurrst, weil es dir wohl ist auf meinem Schoss.

Ich sehe da keinen Unterschied. Mein Schnurren bezeugt, dass es mir wohl ist auf deinem Schoss. Richtig. Ich schnurre aber auch, um deine Aufmerksamkeit zu gewinnen, dir zu sagen, wie lieb ich dich habe. Ich schnurre aus Dankbarkeit und Liebe. 

Wie romantisch das klingt. Dabei ist dir jeder recht, der dich auf seinem Schoss sitzen lässt.

Du vergisst vielleicht, dass ich nicht auf jedermanns Schoss Platz nehme. Es gibt Leute, denen ich nicht über den Weg traue. Ich riech das schon von weitem.

Mir gegenüber hast du ja auch Vorbehalte. Wenn ich dich zum Beispiel auf den Arm nehmen möchte, so wehrst du dich wie wild.

Ich mag das nicht.

Siehst du! - Die Katze meiner Kindertage hingegen liebte es, in meinen Armen gewiegt zu werden. Wenn ich im Bett lag, so leckte sie sogar meine Haare und versuchte, dabei zu schnurren. Manchmal verschluckte sie sich dabei.

Hahaha, wie lustig. Wie hiess das Viech?

Mutzi. Wir fanden sie in Roncchi am Rande eines schmutzigen Tümpels, allein, von der Mutter verlassen. Sie miaute jämmerlich mit ihrem Stimmchen.

Das ist meine Geschichte. Wie wagst du, dieselbe Geschichte einer anderen Katze anzudichten?

Es gibt viele Katzenkinder, die von ihren Eltern verlassen werden. Manchmal kommen sie auch nicht zurück, weil sie auf der Strasse überfahren worden sind. 

Wo liegt Roncchi?

Roncchi ist ein Badeort in Italien, wo ich mit meiner Mutter in der Pension Ideale in den Ferien weilte. Da war ich vielleicht sechs oder sieben. Von Roncchi aus sah ich zum ersten Mal auch das Meer.

Mutzi ist also eine Latina? Was für ein grässlicher Name. Ist das italienisch?

Ich gab ihr diesen Namen. Ich fand ihn damals offenbar passend.

Wie seid ihr übrigens zu meinem Namen gekommen? Ich kann ihn selber kaum aussprechen, so blöd ist er.

Ich sage dir deshalb auch "Psps" und nicht CUAL. - Danika wollte, dass du CUAL heisst. Mit diesem Namen kann man bei unseren Gästen spasseshalber etwas Verwirrung stiften, wenn diese fragen, wie du heisst. Wenn wir dann mit CUAL antworten, meinen sie, wir hätten die Frage nicht verstanden und fragen nochmals nach. CUAL heisst auf Spanisch "welche/s/r". Ist das nicht lustig?

Ich habe nicht gern, wenn man sich lustig über mich macht. 

Ja, Humor ist bei euch Katzen wirklich ein Problem.

Es ist eine Sache der Würde.

Hoppla, jetzt heizt du aber ein.

Ich sage einfach, was Sache ist.

Vorschlag: Ich versuche, dich nicht mehr auf den Arm zu nehmen, und du bist mir nicht böse, wenn ich dich wegschubse, wenn ich schwarze Hosen trage.

Habe ich eine Alternative?

Sonst versuche ich weiter, dich auf den Arm zu nehmen, schubse dich aber gleichwohl weg von meinem Schoss.

So ist das Leben hier. Lieblos unerträglich.

Und wer gibt dir täglich das Fressen?

Hör doch auf. Das ist reiner Machtkampf zwischen einer unschuldigen Katze und einem blöden Macho.

So ist das Leben. Undankbar und voller Kratzer.

Leck mich doch!

Leck dich selber!

* * *

[Ein nächstes Mal werde ich mich mit CUAL über unsere Frustrationstoleranz unterhalten. Guten Abend. N.W.]

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© Nikolaus Wyss

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Hier hat sich CUAL auch schon zu Wort gemeldet:

- CUAL übers Glücklichsein 

- CUAL als Click-Wunder 

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Und hier sind sämtliche Veröffentlichungen auf diesem Blog wohlgeordnet abrufbar

 


 


  

  


Mittwoch, 4. Januar 2023

Tres dias

 

Primer día

 

Morgendämmerung. Der Himmel wolkenbehangen. Die Strassen voller Pfützen, Überbleibsel einer regenreichen Nacht. Darunter verbergen sich Schlaglöcher. Wir fahren im Zickzack. Zweimal schlägt das Auto hart auf.

    Um halb sechs Uhr erreichen wir die Klinik. Pünktlich, was eindeutig zu früh ist. Hier rechnet man mit dem Durchschnittskolumbianer, der in der Regel eine halbe Stunde zu spät eintrifft. So werden alle Termine eine halbe Stunde früher angesetzt. was für uns Pünktlichen ärgerliche Wartezeiten zur Folge hat. Wobei man auch warten muss, wenn man eine halbe Stunde später erscheint. Bis heute habe ich die ideale Ankunftszeit nicht herausgefunden. Vermutlich gibt es sie gar nicht. Ob zu früh, zu spät oder pünktlich: immer musst du nach dem Eintreffen warten, bis sich jemand bequemt, sich deines Anliegens anzunehmen.

    Im Warteraum der Klinik schauen wir Frühstücksfernsehen: Überschwemmungen, Werbung, Erdrutsche, Werbung, Überführung eines Drogenbosses, Werbung, ein paar Tote bei einem spektakulären Unfall eines Reisebusses, Werbung… Das Übliche also.

    Wir sind in dieser Klinik, weil sich Danika endlich ihre Brüste implantieren lassen will. Sie liegt mir damit schon seit Monaten in den Ohren. Jede Unterhaltung endet mit ihrer Frage, welche Grösse ich denn für angemessen halte. Die Diskussion hängt mir seit langem zum Hals hinaus. Mir kommt dabei immer wieder meine Arbeit beim Jelmoli-Versandkatalog in den Sinn. Das ist lange her, vor der Onlinebestellzeit. Ich musste damals auch Texte für Frauenunterwäsche abfassen und mit Angaben zu Körbchengrössen und Preisen versehen. Eine Heidenarbeit. Der Streit von Fräulein Nydegger, der Product-Managerin, mit dem Katalogverantwortlichen Peterhans drehte sich damals um die Frage, ob die Korsetts, die „Panzer“, wie er sich auszudrücken beliebte, und alle grossen Grössen auf einer einzigen Doppelseite abgebildet werden sollen, oder doch besser verteilt über die gesamte Unterwäschestrecke von sechzehn Seiten und in Nachbarschaft von attraktiven Tangas und anderer Reizwäsche. Den Sieg trug schliesslich Fräulein Nydegger davon mit dem Argument, es schmeichle schliesslich jeder festen Frau, in attraktiver Umgebung ihre Einkäufe zu tätigen. So platzierten wir Mieder, Hüftgürtel und Corsagen zwischen durchsichtigen BHs und hauchdünnen Höschen.

    Mein Rat an Danika zum x-ten Mal: nicht zu voluminös bitte. Du bist gertenschlank, gross und hast schmale Hüften. Alles eine Frage der Proportionen. 

    Vor dem chirurgischen Eingriff holte sie sich die Meinung verschiedener Ärzte ein, verglich auch die Preise und entschied sich dann für ein Ehepaar, welches als Team in dieser Klinik arbeitet. Die Frau soll dabei bereits im achten Monat schwanger sein, lässt mich Danika flüsternd wissen. Ich bin als Familienangehöriger hier. Kein Patient geht in diesem Land allein zu einem Arzttermin. Jeder kommt in Begleitung - es könnte ja etwas passieren, und dann ist man froh, jemanden bei sich zu haben…

    Jetzt wird Danika in den Operationsaal geführt, und ich packe meine vor unserer Abfahrt zubereiteten Sandwiches aus, klaube mit meinen fettigen Fingern den Kindle hervor und lese in Werner Herzogs Autobiografie Jeder für sich und Gott gegen alle. Die Lektüre ist eine atemlose Schilderung von Unglücksfällen, gefährlichen Situationen auf den Filmsets, Schiessereien, Drohungen (Stichwort: der tobende Klaus Kinski) und sonstigen Widerwärtigkeiten, die sich aber in letzter Minute oder beim dritten Anlauf immer wieder zu Gunsten eines für den Filmemacher erfolgreichen Ausgangs auflösen. Mir kommt diese Aneinanderreihung von oft aus (gespielter?) Naivität eingegangenen Gefahren und Risiken etwas eitel vor und in ihrer Häufung mit der Zeit auch etwas langweilig. Sie ist die seltsame Koketterie eines trotz aller Hindernisse vom Glück verfolgten, beharrlichen, alten Mannes, die ich beim Anschauen seiner Filme so nicht wahrgenommen habe. Seine Produktivität über all die Jahre als Film- und Opernregisseur, als Buchautor und Dozent ist beeindruckend. Ein Rastloser und Fleissiger, zweifelsohne.

    Zum Ausgleich zwischen den Kapiteln spiele ich auf dem Tablet ein paar Patiencen. Schade, dass dort das Spiel immer schon fertig ist, sobald alle Karten aufgedeckt sind. Das ist für mich unbefriedigend. Ich hätte es lieber, wenn ich nach dem Aufdecken aller Karten noch Ordnung schaffen könnte mit den vier Königen an der Spitze, so wie man das Geschirr in der Küche vor dem Weggehen noch gerne verräumt oder nach dem Aufstehen das ungemachte Bett noch geradezieht…

    In regelmässigen Zeitabständen werde ich über den Zustand der Patientin informiert. Das erste Mal teilt man mir mit, die Operation sei gut verlaufen, die Brüste befänden sich am richtigen Ort. Danika sei aber noch nicht aufgewacht. Eine Stunde später berichtet mir der diensthabende Krankenpfleger, Danika sei jetzt aus der Narkose erwacht, fühle sich aber noch etwas beduselt. Das dritte Mal erhalte ich die Mitteilung, Danika schlürfe jetzt eine warme Bouillon und fühle sich gut. In einer guten Stunde dürfe ich sie abholen. So ist es dann auch. Im Rollstuhl wird sie von der freundlichen Schwester Eliana in den Flur geschoben, und ich bin für einen Moment lang versucht, sie zu umarmen.

    Auf der Rückfahrt schweigen wir zunächst. Manifestiert sich in diesem Moment zwischen uns nicht eine gewisse Zufriedenheit, es trotz divergierender Lebenskonzepte gemeinsam geschafft zu haben und seit über sieben Jahren füreinander da zu sein? - Die Pfützen sind jetzt weggetrocknet und lassen die Schlaglöcher erkennen. Wir umfahren sie grossräumig, ja, elegant, fast übermütig schon. Vor unserer Ankunft erklärt mir dann Danika noch mit ungewohnt leiser Stimme, was sie in den nächsten acht Wochen alles nicht verrichten dürfe: Katzenkistchen leeren, den Tisch decken, kochen, abwaschen… eigentlich alles Dinge, die ich schon vor ihrer Operation im Alleingang erledigte. Ich muss leicht schmunzeln und kündige im Gegenzug an, am darauffolgenden Abend nicht zu Hause zu sein, weil ich mit Simon unser Einjähriges feiern möchte. Kein Problem, meint sie, und mobilisiert über ihr Handy sofort ein paar treue Freunde, die ihr morgen etwas Essen vorbeibringen werden.

    Zu Hause angekommen, bereite ich eine Hühnerbouillon mit Gemüseeinlagen zu. Danika scheint sie zu schmecken. Doch das Heben des Löffels tut ihr weh. Mein Angebot, ihr die Suppe einzuträufeln, lehnt sie aber entschieden ab. Es ist Zeit für den ersten Schmerzmittelnachschub.

    Der Nachmittag schliesslich ist nicht weiter erwähnenswert. Bei Danika dringt zwar Körperflüssigkeit durch den Wundverband. Ein Anruf in die Klinik aber beruhigt. Das sei normal. So ist eine ausgedehnte Siesta angesagt. Sie wird später von keinen weiteren Aktivitäten mehr abgelöst.  

 

Segundo día

 

    Einer meiner ersten Lovers hiess Markus Kägi. Das war Mitte der 70er Jahre. Wir hatten es nicht gut zusammen. Heute würde man von einer toxischen Beziehung sprechen. Sie war bittersüss und quälend. Irgendwie kam ich aber von ihm nicht los, und Markus wusste meine Verzweiflung genüsslich zu schüren und tanzte mir auf der Nase herum. Als sich nach zehn Monaten doch langsam ein Ende abzeichnete, sang Markus bei jeder Gelegenheit den damals grad in der Hitparade gespielten Schlager Ein Frühling, ein Sommer, ein Jahr… Stephanie Lindbergh besingt darin mit hartem R, dass die Erinnerungen bleiben, auch wenn nach diesem Jahr die Liebe ein Ende gefunden hat.

    Nachdem dieser Song bei unserer Trennung seine Schuldigkeit getan hatte, verkroch er sich für lange Jahre in mein Unterbewusstsein. Erst kürzlich poppte er wieder auf, und zwar genau in dem Augenblick, wo Simon und ich uns anschickten, unser Einjähriges zu feiern.

    Im Bewusstsein, dass mir Danika zwar nicht als Partnerin aber als Mann langsam zu entgleiten drohte, lernte ich wohl nicht ganz zufällig, aber unverhofft, im Pärkchen hinter der Basilica de Nuestra Señora de Lourdes einen jungen Studenten kennen. Er sieht nicht nur hinreissend aus, er scheint auch etwas im Köpfchen zu haben. Er studiert Jurisprudenz an der besten Universität der Stadt und stammt, wie sich im Verlaufe der Zeit herausstellen sollte, aus sehr gutem, vermögendem Hause, was alsogleich mein Vorurteil entkräftete, dass sich junge Männer nur dann gern auf ältere Herren einlassen, wenn bei diesen das Potential eines Sugardaddys erkennbar ist, der ihnen ein iPhone kauft, allfällige Studiengebühren begleicht, die Spitalkosten der kranken Grossmutter übernimmt und sie in angesagte Gaststätten einlädt.

    Doch Simon hat all dies nicht nötig. Sein Taschengeld reicht vom Kauf von Markenkleidern über Taxifahrten, Flugreisen in der Business Class bis hin zu Club-Besuchen. Und ich musste mich fragen, worin denn für diesen jungen Mann überhaupt der Reiz bestand, sich auf diesen Schweizer Pensionär einzulassen. Gerontophilie? – Simon kann es mir bis heute nicht erklären. Doch im Verlaufe des Jahres hörte ich wenigstens mit dieser sinnlosen Hinterfragung auf und begann, Simons Zuneigung einfach zu geniessen und im Gegenzug auch ihm meine uneingeschränkte Aufmerksamkeit zu schenken. Wenn nur nicht plötzlich dieser verdammte Ohrwurm von Stephanie Lindbergh wieder aufgetaucht wäre und in meinen abergläubigen Gefühlen Verunsicherung geschürt hätte. Dieser Schlager spielte sich, völlig ungerechtfertigt, als unheilverkündendes Vorzeichen auf. Nichts deutete schliesslich auf ein Ende unserer Langzeit-Romanze hin, und schon fast trotzig traf ich Simon heute Abend, um unser Einjähriges zu feiern. Wir gingen ins Penta, eines unserer Lieblingsrestaurants, zehn Fussminuten von unserem Haus entfernt. Maria Adriana, die Besitzerin, kennen wir gut. Sie studierte in Europa Kunst und pflegt heute als Gastronomin beste Beziehungen zu Bogotás Oberschicht, zu welcher sie selbst auch gehört. So erstaunte es uns nicht weiter, als sie uns an diesem Abend wissen liess, dass eigentlich das ganze Restaurant für einen eleganten Event ausgebucht sei. Sie bot uns wenigstens das Katzentischchen draussen im Patio an.

    Beim Essen sprachen wir über Simons Papa, der seit seiner Rückkehr von einer Geschäftsreise nach Japan gegenüber dem Sohn ein seltsames Verhalten an den Tag legt. Plötzlich ist er ungewöhnlich streng mit ihm, will ihn erziehen, verhängt ein generelles Ausgehverbot, kürzt das Taschengeld und droht, ihn aus dem Haus zu werfen, sollte sich Simon nicht an seine Direktiven halten. Hintergrund ist ein Vorfall an der Universität, wo Simon nicht die beste Falle gemacht hatte, indem er einen Übeltäter deckte statt ihn anzuzeigen. Das hatte von Seiten der Fakultät einen Verweis zur Folge. Sicherlich ein leichtsinniges Vergehen von Simon, das mich als Vater auch sauer gemacht hätte. Doch die Fallhöhe der strengen Massnahmen ist deshalb so gross, weil vorher derselbe Vater seinen Sohn nach Strich und Faden verwöhnt hatte, ihm kostbare Uhren schenkte, unter anderen eine goldene Rolex, und dessen weiteren Wünsche von den Lippen abzulesen pflegte.

    Unser Treffen im Penta war also klandestin. Ich weiss nicht, was für eine Ausrede er erfunden hatte, um das Haus überhaupt zu verlassen.

Eben wurde die Hauptspeise aufgetragen, als die erwartete hohe Gesellschaft eintraf. Simon beobachtete die eintretenden Gäste und bemerkte erstaunt: „Ich kenne die, die sind im selben Club wie mein Vater“. Nur einen Moment später sprang er abrupt vom Tisch auf, wandte sich ruckartig um und schlich auf allen Vieren zum nahen Busch im Patio, hinter welchem er sich, so gut es ging, versteckte. Wie ein begossener Pudel blieb ich sitzen. Nach ein paar Minuten bekam ich auf mein Handy eine Textnachricht von ihm des Inhalts: „Mein Vater befindet sich unter den Gästen. Ich kann mich nicht zeigen, er würde mich entdecken. Sorry.“

    Statt für zwei zu essen, verschlug es mir den Appetit. Ich schrieb Simon zurück: „Ich warte auf dich draussen“. Ich liess mir darauf die leckeren Speisen einpacken, bezahlte und versuchte beim Hinausgehen herauszufinden, wer unter diesen vielen Leuten Simons Vater sein könnte, denn ich habe noch nie ein Bild von ihm gesehen. Kaum draussen, begann es zu regnen, und ich suchte einen Unterstand. Die unterschiedlichsten und widersprüchlichsten Gefühle standen bei mir in diesem Moment Spalier, und ich wusste nicht, welches ich wählen soll. Eines war geprägt von unverhoffter Abenteuerlust, ein weiteres von Irritation und Befremden. Ein drittes deckte gleichzeitig Ungläubigkeit und Ärger ab, und wieder ein anderes liess mich einfach nur lachen: Wie bin ich bloss in diesen falschen Film geraten? 

    Zeit verstrich, der Regen wurde stärker, die Papierverpackung des mitgenommenen Essens weichte allmählich auf. Je länger ich wartete, umso unwohler wurde es mir in der Rolle des unfreiwilligen Komplizen. Soll ich für mich einfach ein Taxi bestellen und Simon hinter dem Busch hocken lassen? Als ob die Situation nicht schon genug Sprengkraft gehabt hätte, ertönte just in diesem Moment in meinem Inneren das unselige Lied von Stephanie Lindbergh, und ich musste zu mir selbst sagen, du alter Trottel bist doch nicht 73 geworden, um so kindische Abenteuer, wie sie allenfalls unter Jungen begangen werden, zu bestehen. Simons Vater hätte schliesslich mein Sohn sein können. Alles hing irgendwie gewaltig schief an diesem Abend, und ich stand im Regen.  

    „Geh nach Hause“, textete mir Simon nach einer Weile, „ich warte, bis Papa aufs Klo geht, dann werde ich versuchen, mich an all seinen Freunden vorbei aus dem Restaurant zu stehlen und so schnell wie möglich nach Hause zu gelangen. Hast du bezahlt? Ich bin pudelnass. Schlaf gut. Ich liebe dich. Und vielen Dank fürs Essen.“

 

Tercer día

 

    Heute morgen fahre ich mit Danika zur Brustkontrolle. Das Korsett beengt sie. Der Brustkorb ist geschwollen. Die Brustwarzen jucken. Ich empfehle Babypuder. Von meinem nächtlichen Abenteuer im Penta erzähle ich ihr aber nichts. Ich warte unten im Auto, bis Danika von der Untersuchung zurückkommt.

    Über Mittag habe ich mit René abgemacht, einem Schweizer, dem ich vom letzten Treffen her noch ein Glas Wein und eine Tasse Kaffee schulde. Mein letzter Wissensstand bei ihm ist, dass er sich jetzt, nach seiner Pensionierung, mit seinem kolumbianischen Partner in Medellín niederlassen will. Heute aber äussert er plötzlich Bedenken, denn er will die Krankenkasse in der Schweiz nicht verlieren und auch nicht das Steuerdomizil, besonders jetzt, wo hier in Kolumbien nach den letzten Wahlen ein linker Präsident ans Ruder gekommen ist und mit massiven Erhöhungen der Abgaben droht. René weiht mich in seine Überlegungen ein und fragt mich um Rat. Soll er pendeln? Ein halbes Jahr hier, ein halbes dort? Soll er eines der beiden Appartements, die er sich in Medellín erstanden hat, verkaufen? Wieviel würde er heute dafür bekommen bei dieser Inflation? Was macht sein Partner, der keinen Schulabschluss und schon gar keine beruflichen Erfahrungen mitbringt, in diesen halben Jahren in der Schweiz? Und was würde René hier in Kolumbien in der anderen Jahreshälfte den lieben langen Tag tun?

    Statt aufmerksam seinen Erwägungen zu folgen, schweife ich ab und befrage mich, angestachelt durch Renés Fragen, selbst. Wieso habe ich für mich selbst bis heute noch kaum derartige Zukunftsgedanken angestellt? Bin ich, im Gegensatz zu René, leichtsinnig und sehe dem Unabdingbaren nicht genug deutlich ins Auge? Was, wenn ich pflegebedürftig werde? Was, wenn ich von Danika und Simon verlassen werde? Was, wenn ich das Gedächtnis verliere? Wird mir jemand den Arsch abwischen und beim Sterben helfen? - Ich habe keine einzige Antwort darauf parat.

    Ich befürchte, ich bin für René heute ein schlechter Ratgeber. Ich scheine im Gegensatz zu ihm in einer Weise in den Tag hineinzuleben, die wohl nicht ganz schweizerischem Standard entspricht. Sollte mich meine Sorglosigkeit mehr beunruhigen, als sie es tut?

    Plötzlich läutet mein Handy. Die Nummer ist mir unbekannt. Mit matter Stimme und schwerer Zunge meldet sich Simon. Er berichtet, er sei spät nachts, nachdem sich die geladene Club-Gesellschaft endlich aufgelöst habe, aus seinem Versteck gekrochen und vor dem Penta in ein Taxi gestiegen. Von da weg könne er sich aber an gar nichts mehr erinnern. Heute Mittag sei er dann völlig durchnässt und verdreckt hinter einem Gebüsch eines nahen Parkes mit blutverschmiertem Hemd und Platzwunden im Gesicht und an den Schultern aufgefunden worden. So habe es ihm die Polizei berichtet. Sie habe ihn darauf zu einem Arzt gebracht, der bei der Untersuchung im Blut betäubende Substanzen entdeckt habe. Alle Wertsachen seien weg und auch sein Handy. Er habe heftiges Kopfweh. Später sei er von der Ambulanz nach Hause gebracht worden, wo sein Vater ihn kühl und ohne grosse Anteilnahme mit den Worten empfangen habe, das alles wäre nicht passiert, wenn sich sein Sohn an die elterlichen Vorgaben gehalten hätte.

    Meine Aufmerksamkeit für René ist jetzt vollends dahin. Ich entschuldige mich bei ihm für mein merkwürdiges Benehmen, bezahle die Konsumation und verabschiede mich rasch und schnörkellos. Doch wohin mit meinen Sorgen? Simon liegt jetzt vermutlich im Bett und ist wohl vorerst keines vernünftigen Gedankens fähig. Ich auch nicht.



©Nikolaus Wyss

 

 Ich freue mich immer über Kommentare und Grüsse. Danke. Hier noch: Weitere Beiträge auf einen Click

 


Mittwoch, 7. September 2022

Carlos Wiston - mein Freund jener Tage


  

Es ist zuweilen nicht unwichtig, den Rahmen zu kennen, in welchem sich eine Geschichte oder ein Gefühl entwickelt. Im Herbst 1970 war es so, dass ich von Europa nach Lateinamerika aufbrach in der Absicht, fernab heimatlicher Zwänge mein eigenes Leben zu gestalten. Nach zweiwöchiger Schifffahrt auf der MS Donizetti landete ich, von Genua aus und nach Zwischenstopps in den Häfen von Neapel, Barcelona und Las Palmas, in La Guaira, dem Hafen von Caracas.

    Ich fühlte mich von Anbeginn in diesem Venezuela ziemlich verloren. Ich sprach kaum Spanisch, alles war für meine Verhältnisse so fremd und zu teuer, und die zwei Adressen, die ich mit mir führte, erwiesen sich beide als Sackgassen. Es handelte sich dabei um ausgewanderte Europäer, die dort zu Reichtum gekommen sind, mich zwar in ihren scharfbewachten Villen am Stadtrand freundlich zum Tee empfingen, gleichzeitig aber in ihrem grossbürgerlichen Verhalten den Beweis erbrachten, dass wir uns weder praktisch noch emotionell etwas zu sagen hatten. Sie lebten in ihrer Welt aus Privatflugzeugen, viel Personal und gepanzerten Limousinen. Ich hingegen, in Jeans und mit Flaumbart, hatte gerade mal Ersatzwäsche, Zahnbürste, das South America Travel Handbook und Imodium im Gepäck, und im Gürtel mit Reissverschluss ein paar Travellers Cheques, die ich mir in der Schweiz für diese Reise auf der Blick-Redaktion und bei der Werbeagentur Rothenhäusler zusammengespart hatte. Meine Gastgeber in Caracas hingegen leisteten sich ab und zu Shoppingtouren nach Miami oder New York City und liessen ihre Kinder an Schulen und Universitäten in den USA oder in Europa ausbilden. Klar, dass sie auf der einen oder anderen Karibik-Insel auch noch ein Ferienanwesen oder eine Bananen- oder Kaffeefarm unterhielten. Netterweise luden sie mich sogar ein, dort einmal ein Wochenende zu verbringen. Doch das eine Mal vereitelte schlechtes Wetter den Anflug, das andere Mal war ich es selbst, der die Einladung ausschlug, weil ich in meinem Unwohlsein schon so weit fortgeschritten war, dass ich hastig Reisevorbereitungen traf, um in Richtung Westen aufzubrechen.

    Bald schon fuhr ich mit dem Bus dem Land entgegen, wovor mir in Venezuela wirklich alle abrieten: nach Kolumbien. Dort seien Diebe und Drogenbanden zuhause, der Alltag würde von bürgerkriegsähnlichen Zuständen, Schmutz und Korruption beherrscht, und zu essen gebe es nicht viel mehr als Kartoffeln, Reis und Kochbananen. Deshalb würden viele Kolumbianer nach Venezuela fliehen und damit leider auch das zivilisatorische Niveau und den Wohlstand des reichen Ölstaates bedrohen. Kolumbien hingegen sei stinkbillig, hiess es. Letzteres liess mich wegen meinen bescheidenen ökonomischen Verhältnisse natürlich aufhorchen und generelle Bedenken hintanstellen.

     Auf der langen Reise ins «gelobte» Land leistete ich mir einen Zwischenhalt in Mérida und fuhr mit der Gondelbahn zum Pico Espejo hinauf. Auf der 4765 Meter über Meer befindlichen Bergstation empfing mich dichter Nebel. Die Sicht betrug geschätzte drei Meter. Die Höhe machte mir zu schaffen. Sie verursachte Schwindelgefühle und starkes Kopfweh. Es war kalt, feucht und windig, und das Bergrestaurant geschlossen. Für mich ein weiterer Beweis, dass Venezuela nicht mein Land sein konnte. Auf der Weiterfahrt zur kolumbianischen Grenzstadt Cucutá überfuhren wir dann noch eine fette Sau. Der Chauffeur hielt es aber nicht für nötig, deswegen anzuhalten.

    Nun gut. Auf den ersten Blick unterschied sich Kolumbien in nicht so vielem von Venezuela. Es gab auch hier verkehrstüchtige Busse, die Leute waren nett und nicht so ruppig, wie sie mir in Caracas geschildert worden sind. Ich meinte sogar zu spüren, dass sich die Kolumbianer ihres schlechten Rufes bewusst waren und sich gerade deshalb besonders zuvorkommend und freundlich zeigen wollten. Was mich aber am meisten freute, waren die Preise fürs Essen und für die Unterkunft, die ich mir hier ohne unmittelbare Existenzängste leisten konnte.

Später, in der auf 2600 Meter über Meer gelegenen Hauptstadt Kolumbiens, Bogotá, hatte ich das Glück, eine Adresse mit mir zu führen, die mir einen Job in der Buchhandlung Buchholz ermöglichte. Der wirblige Patron Karl Buchholz mit seinem schlohweissen Haar und seiner sehr deutschen Diktion im Spanischen verfügte über eine bewegte Buchhändler- und Kunsthändler-Vita. Man munkelte damals, dass er mithalf, in Nazi-Deutschland entartete Kunst loszuschlagen. Nach Stationen in Berlin, Madrid, Lissabon und New York führte ihn seine Laufbahn zum Schluss nach Bogotá, wo er damals zwei Geschäftslokale betrieb. Das eine im Stadtzentrum an der Avenida Jimenez, das andere im damaligen Norden der Stadt, in Chapinero, welcher heutzutage nicht mehr als Norden bezeichnet werden kann, weil sich die Stadt mittlerweile so viel weiter nach Norden ausgedehnt hat, dass man heute auf der Strassenkarte Chapinero in der Mitte der Stadt findet.  

    Meine Chefin war Mary, verantwortlich für das internationale Sortiment im Hochparterre. Sie kam aus Buenos Aires und war mit einem Kolumbianer verheiratet. Sie nahm sich meiner an und lud mich ab und zu bei sich zu Hause zu einem Churrasco ein. Dort lernte ich die Notwendigkeit kennen, vor dem Essen erst einmal ein paar Züge Marijuana zu rauchen. Das zähe Stück Fleisch liess sich nachher leichter kauen und geniessen.

    Ich wohnte bei einer Schriftstellerfamilie mit drei Kindern, die alle süss waren, mich liebten und mir ab und zu eine Zeichnung unter dem Türspalt in mein Zimmer schoben. Abends schrieb ich Texte, die mich in der Meinung bestärkten, eigentlich sei ich Schriftsteller, was natürlich nicht stimmte, denn die damit einhergehende, quälende Einsamkeit hielt ich kaum aus und konnte sie schon gar nicht nutzen für kreatives Arbeiten. Die Buchhandlung blieb mir aber, offen gestanden, auch fremd. Ich bekam mit, wie alle über alle anderen schlecht sprachen. Buchholz pflegte dann noch Oel ins Feuer zu giessen, indem er mich des Öfteren wissen liess, dass den Kolumbianern nicht zu trauen sei. Er sang das venezolanische Lied: Diebe seien sie hier und Falschspieler, und Mischlinge würden eh nicht über eine gute Erbmasse verfügen.

    So ungefähr war der Rahmen, in welchem ich Carlos Wiston in der Verpackungsabteilung der Buchhandlung kennenlernte. Er repräsentierte genau den Menschentyp, mit welchem der deutsche Chef so grosse Mühe bekundete. Ich hingegen entdeckte in Carlos Wiston einen jungen Mann, der zehnmal belesener war als ich und in der Buchhandlung eigentlich an meiner Stelle hätte arbeiten müssen. Er verdiente gut einen Drittel weniger als ich, zögerte aber, schlecht zu reden über den Inhaber. Das verlieh ihm eine gewisse Würde, seine Leidensfähigkeit transformierte sich bei ihm zur Noblesse. Ich begann ihn zu bewundern. Wir gingen von jetzt an oft zusammen zum Lunch, wobei die Suche nach einem Restaurant zuweilen zu einer nervenaufreibenden Tour verkam. Er konnte sich kaum je für ein Speiselokal entscheiden, meinte aber, die Suche erhöhe immerhin den Appetit. Jeder eingesparte Peso galt ihm als Triumph. Um Geld jedoch ist er mich nie angegangen, dafür war er zu stolz.

Ich fragte ihn einmal, wieso er Carlos Wiston heisse und nicht so, wie man es erwarten würde: Winston. Die Antwort: Sein Vater bewunderte Winston Churchill und wollte seinen Erstgeborenen unbedingt auf den Namen des britischen Kriegspremierministers taufen lassen. Doch beim Zivilstandsregister ging etwas schief, denn der Beamte vergass das N im Namen, so dass in allen amtlichen Papieren Wiston zu stehen kam, ohne N. – Um Schwierigkeiten und Missverständnisse zu vermeiden, gewöhnte sich Winston an, sich selbst Wiston zu nennen und – vor allem – als Wiston zu unterschreiben. Mir hingegen kam sein ungewollter Name insofern gelegen, als er mich ans englische «wisdom» erinnerte, also genau an die Art von Weisheit, die ich bei ihm zu entdecken glaubte.

Mit Wiston sah ich zum ersten Mal auch ein Fussballspiel im Stadion Campín, und mit Wiston fuhr ich nach Cartagena ans Meer. Wir logierten im Gestemani-Quartier an der Halbmondstrasse. Kaum angekommen, führte sein erster Weg in eine Apotheke, wo er – ungefragt – für mich Kondome kaufen ging, denn vor unserem Hostel standen die Prostituierten Schlange. Ihm zuliebe liess ich mich sogar auf eine hübsche, junge Frau ein und verbrachte bei ihr, zum eigenen Erstaunen, ein paar wunderbare Tage.

    Meine Neigung zum eigenen Geschlecht aber war kein Thema. Sie fand keinen Platz in unserer Freundschaft, sie wäre, dies meine scheue Einschätzung, der Reinheit unserer Beziehung abträglich gewesen. So aber konnten wir an einer Art von Freundschaft arbeiten, die ich schon fast als ideal bezeichnen würde. Wäre ich je darauf angesprochen worden, ich hätte Carlos Wiston in jenen Tagen unumwunden als meinen besten Freund bezeichnet und dabei die Ergänzung unterlassen, dass er damals auch mein einziger Freund war, den ich hatte.

    Klar, da waren noch meine Freunde von vor meiner Abreise. Der eine schrieb mir von seinen Studien an der Harvard University, der andere studierte Geschichte und wollte Diplomat werden, und der dritte berichtete in langen Briefen von seinen Mädchen und von seinen Depressionen, die ihn später in den Selbstmord treiben sollten. Und hier in Bogotá pflegte ich Kontakt zu ein paar Schweizern, die für ein Hilfswerk unterwegs waren. Sonntags stiess ich zu ihnen und half mit bei der «concientización» von Armenvierteln, wie man das damals nannte, auf Deutsch: Bewusstwerdung. Man verteilte Flugblätter, organisierte Suppenessen, hielt Versammlungen ab und stachelte die Bevölkerung auf, sich gegen staatliche Übergriffe zu wehren. Das Viertel Pardo Rubio zum Beispiel, das über dörfliche Strukturen verfügte und ganz oben am Hang klebte mit fabelhafter Aussicht auf die ganze Stadt, sollte wegen einer Schnellstrasse, der Circumvalar, aufgerieben werden. (Zum Schluss hatten die Proteste nichts bewirkt, doch damals wog man sich noch im Glauben, das Projekt bei genügender Mobilisation abwehren zu können.)

    Ich nahm ein paarmal Carlos Wiston ins Pardo Rubio mit, musste aber erkennen, dass die Schweizer kein grosses Interesse bekundeten, ihn als meinen Freund anzuerkennen. Das lag vielleicht auch an seiner eigenen, reservierten Haltung gegenüber unseren Aktivitäten, denn er hielt sie für reichlich idealistisch und nutzlos. Er jedenfalls, der aus ähnlich ärmlichen Verhältnissen stammte wie die Leute in diesem Viertel, konnte unserem Wirken nicht viel abgewinnen. So blieb ich etwas allein mit meinem besten Freund, was einerseits meine Gefühle für ihn verstärkte und andrerseits mich aber auch daran hinderte, ein richtiger Revolutionär zu werden. Denn aus diesem Kreis von damals erwuchs tatsächlich so etwas wie eine umstürzlerische Zelle, welche Sprengkörper zu Hause im Badezimmer versteckt hielt und auch einen Anschlag auf eine Polizeistation verübte. Typischerweise wurden darauf Einheimische verfolgt und verhaftet, während die ausländischen Agitatoren, ergänzt mit kolumbianischen Studenten aus gutem Hause, untertauchen und ins Ausland fliehen konnten. Doch das geschah, als ich schon wieder in der Schweiz war, als Kellner und als Co-Therapeut in einer kinderpsychologischen Praxis arbeitete und nebenher Ethnologie studierte.

    Von meinem Ausflug nach Cartagena kehrte ich allein nach Bogotá zurück. Carlos Wiston musste noch schnell einen Abstecher nach Santa Marta machen, um ein Mädchen, das ihm bei früherer Gelegenheit schöne Augen machte, aufzusuchen. Als er wenige Tage später und arg enttäuscht, weil aus der Romanze nicht mehr wurde, in der Verpackungsabteilung der Buchhandlung Buchholz wieder auftauchte, wurde er fristlos gefeuert wegen nichtrechtzeitigen Erscheinens zur Arbeit.

So ging das erste Kapitel unserer Freundschaft zu Ende. Von da weg mussten wir abmachen, um uns zu sehen. Die regelmässigen Mittagessen blieben aus. Er arbeitete jetzt als selbständiger Buchvertreter und reiste mit irgendwelchen Schrottpublikationen im ganzen Land herum und versuchte diese den Papeterien, welche auch noch ein bescheidenes Buchsortiment führten, anzudrehen.

    Und ich selbst, von Depressionen gepeinigt, musste langsam einsehen, dass ich den kolumbianischen Herausforderungen nicht gewachsen war. Ich trug mich mit dem Gedanken, in mein Heimatland zurückzukehren und dort psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen, was dann, mit einiger Verzögerung, auch geschah.

Wir schrieben uns noch, Carlos Wiston und ich, aber die Briefe erwiesen sich als etwas anstrengend. Mein Spanisch war dafür zu wenig entwickelt und fiel gegenüber den Ausführungen von Carlos Wiston dermassen ab, dass ich mich nur noch schämte. Übersetzunghilfen von Google gab es damals noch nicht. So versiegte die Korrespondenz allmählich, auch wenn das Gefühl blieb, einen Freund in Kolumbien zu wissen.

***

    Es muss Ende der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts gewesen sein, als ich mich anschickte, Kolumbien wieder einmal zu besuchen. Das Land versank damals gerade in den Wirrnissen der Drogenkriege und Guerillakämpfe. Ganze Talschaften befanden sich auf der Flucht. Sicherheitskräfte, Lehrpersonal und die Beamtenschaft machten sich jeweils als erste aus dem Staub und liessen die hilflose, verängstigte Bevölkerung allein zurück, wo sie von Paramilitärs, Guerilleros oder von regulären Streitkräften (Stichwort: falsos positivos) entweder massakriert oder vertrieben wurden, wenn sie sich nicht den neuen, rücksichtslosen und brutalen Herrschern bedingungslos unterwarfen. Meiner Unwissenheit und Naivität ist es aber zuzuschreiben, dass ich trotz allem ein Flugbillett löste, um Carlos Wiston wiederzusehen. Wobei mich der Gedanke streifte, auch er könnte Opfer dieser violenten Zeiten geworden sein. Vielleicht würde ich wenigstens seine Hinterbliebenen ausfindig machen, um mit der mir noch unbekannten Witwe sein Grab aufzusuchen und dort eine weisse Rose niederzulegen.  

Ich erinnere mich noch, dass ich einen Moment lang enttäuscht war, als ich, in Bogotá eingetroffen, ohne Umwege seine Adresse fand - ohne Abenteuer und Romantik. Ich rief an, er meldete sich, und wir machten auf den nächsten Tag in der Nähe des Goldmuseums ab. Dort tauchte er mit einer ganzen Kinderschar auf. Ich glaube, es waren fünf. Oder sechs. Sein Haar war etwas angegraut, doch sein strahlendes Lachen und seine vornehme Art kamen mir vertraut vor.

    Er erzählte, dass er eine Zeitlang als Vertreter von Haushaltsgeräten gutes Geld machte, doch später wieder aufs Buchgeschäft zurückgekommen sei. Und die Kinder? Seine damalige Frau schenkte ihm fünf Töchter. Leider verstarb sie im Kindbett der letzten. So wurde Carlos Wiston alleinerziehender Vater, gab aber den Wunsch nie auf, noch einen Sohn zu zeugen. Als die älteste Tochter, sie war damals vielleicht 16 Jahre alt, eine Schulfreundin heimbrachte, schien der Zeitpunkt gekommen, diesen Wunsch in Tat umzusetzen. Sie schenkte ihm einen Sohn und wurde zu seiner zweiten Ehefrau.

    Ich schreibe freihändig, das heisst, aus der Erinnerung. Es könnte sich auch etwas anders zugetragen haben. Festgesetzt hatte sich allerdings der Eindruck, dass die alten freundschaftlichen Gefühle für ihn nicht mehr dieselben waren. Während ich mir eingestehen musste, wohl keine Familie gründen zu können, er aber das Hohelied der Familie sang, entglitt mir die Lust, ihm von meinem eigenen Leben zu erzählen, um so auf Augenhöhe die alte Freundschaft zu retablieren. Ich kam mir als weitgereisten Versager vor. Ich hatte nichts zu berichten, was sein Familienglück hätte aufwiegen und ihn hätte interessieren können.

***

    Das zweitletzte Kapitel dieser Freundschaft jener Tage trug sich um meinen 50. Geburtstag herum zu. Ich hatte den Ehrgeiz, zu diesem Fest Freunde aus allen Lebensphasen einzuladen. Ich war damals Rektor der Kunsthochschule Luzern und in der Lage, auch eine weite Reise zu finanzieren. Deshalb kontaktierte ich auch Carlos Wiston und wollte ihn an diesem Anlass dabeihaben. Er antwortete überrascht, doch auch mit Freude.

    Wenige Tage vor seinem Abflug jedoch, am 25. Januar 1999, bebte die Erde in Kolumbien. In Armenia, Quindío, zeigte die Richterskala 6,1 Punkte an. Die Provinzhauptstadt wurde zu grossen Teilen dem Erdboden gleichgemacht. Die Eltern von Carlos Wiston wohnten dort. Er musste hinfahren und zum Rechten schauen und sagte seine Teilnahme am Geburtstagsfest ab.

    Wir sahen uns nie mehr. Auch nicht, als ich Ende 2016 nach Kolumbien übersiedelte. Ich entdeckte ihn zwar auf Facebook, jetzt mit seinem eigentlichen Namen Carlos Winston. Doch die vielen Einträge seiner weitverzweigten Familie, wo sich eine Taufe an die andere reihte, wo Fotos von Hochzeits- und Geburtstagsfesten mit vielen bunten Ballonen und Herzchen im Hintergrund kumulierten, und Carlos Winston, jetzt ein alter Mann, von allen liebevoll umsorgt schien, hielten mich irgendwie davon ab, den Schritt auf ihn zuzutun.

    Als ich kürzlich seine Seite wieder aufschlug, las ich unter dem Datum 10. Mai 2020 folgenden Eintrag von Carolina, und ich nehme an, es handelt sich dabei um eine seiner Töchter: «Mein Väterchen, du bist heute von uns gegangen, aber du bleibst uns lebendig und bist eintätowiert in unseren Gedanken und Herzen. Wir lieben dich.» Und am 4. Juni desselben Jahres schrieb Monik, wohl eine andere Tochter: «Mein wunderbarer Papa, heute würdest du einen weiteren Geburtstag feiern, doch jetzt weilst du beim Lieben Gott. Ich vermisse dich sehr. Alles Gute einem weiteren Engel im Himmel. Mein Papito, ich liebe dich.»

***

    Ich weiss nicht recht, wie ich diesen Text zu einem befriedigenden Schluss bringen soll. Texte verlangen nach einer gewissen Dramaturgie und nach einem Sinn, wozu sie überhaupt geschrieben worden sind. Erinnerungen hingegen hängen in der Luft, einer Wolke gleich, aus welcher manchmal Wehmut tropft.

 


© Nikolaus Wyss

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