Winkelwiese 6, hinter der Hecke die zu unserer Wohnung gehörenden Fenster |
Die Winkelwiese
hinter dem Kunsthaus, am Rande der Zürcher Altstadt, war der Traum meiner
Mutter. Sie lebte anfangs der 50er-Jahre des letzten Jahrhunderts mit ihrem
Söhnchen unweit davon entfernt in einer engen Wohnung an der Kirchgasse 33, zu welcher sie auf
knarrenden Holztreppen mit dem Kind auf dem Arm vier Stockwerke emporsteigen
musste. Auch wenn dort am Hauseingang eine Tafel verkündet, dass in diesem Haus
von 1861 bis 1875 der Staatsschreiber und Dichter Gottfried Keller gearbeitet und gewohnt habe, und auch wenn eine
weitere Tafel Auskunft gibt, dass dieses Steinhaus aus dem 13. Jahrhundert im
Besitz der Familie Manesse
gewesen sei, vermochte der Wohnort meine Mutter nicht zu überzeugen. Sie war
der Meinung, dass eine grosszügigere, grossbürgerlichere Umgebung, wie die
Winkelwiese sie darstellt, sich positiv auf die gesunde Entwicklung ihres Sprösslings
auswirken würde.
Als dann 1952 eine Wohnung im
besagten Winkel der Stadt ausgeschrieben wurde, meldete sie sich und bekam sie
zu ihrem eigenen Erstaunen zugeschlagen. Darauf bezogen wir im Erdgeschoss der Winkelwiese 6 zwei Zimmer mit Bad und
Küche in einer auf fünf Zimmer ausgelegten Wohnung. Ich war damals drei und
kann mich an den Umzug nicht erinnern. Ich erinnere mich bloss, dass wir die
Toilette mit Fräulein Coppex teilten. Sie lebte auf demselben Stockwerk,
aber auf der Sonnenseite des Hauses, in zwei weiteren Zimmern derselben Wohnung.
Die Türen zwischen den beiden Parteien waren zugenagelt und nur über das
gemeinsam benutzte WC miteinander verbunden. Die Räume unserer Nachbarin waren
vom Garten her erschlossen. Sie verfügten nur über ein Lavabo, das Bad lag auf
unserer Seite.
Mlle. Blanche Coppex, so war der Briefkasten angeschrieben, kam
ursprünglich aus dem Welschland, sprach aber neben ihrer Muttersprache auch
Thurgauer-Dialekt mit hellem A. Sie arbeitete als Sekretärin bei der Elektrowatt
und war die Vorzimmerdame unseres Hausbesitzers, Maurice Villars. Als Starkstrom-Elektroingenieur baute dieser
Staudämme in Frankreich und Italien. Nach seiner Pensionierung richtete er sich
im fünften Zimmer des Erdgeschosses sein Büro ein, wo er Fräulein Coppex
anstehende Arbeiten erledigen und in den besagten zwei anderen Räumen wohnen
liess. Auch Villars Büro erreichte man über den Garteneingang.
Wenn es nicht gerade Katzen hagelte
oder schneite, hielt sich Herr Villars vorzugsweise im Garten auf, stutzte
Bäume, jätete Unkraut und pflegte die Rosenbeete. Er hatte um seinen Spitzbauch
herum eine grüne Schürze gebunden. Eine Baskenmütze schützte seinen Kahlkopf
vor der Sonne.
Er wirkte streng, wenn er strammen
Schrittes den Gartenweg hinunterging, in angemessenem Abstand gefolgt von
seiner Haushälterin Herta aus
Österreich. Ich nannte sie Servus: den Servus. Villars Frau Silvia, die sich gerne den Tee im
Gartenhaus unten servieren liess, hatte italienisches Blut. Sie hatte eine
uneheliche Tochter mit in die Ehe gebracht, die sie aber in Florenz zurückgelassen
hatte, wo diese aufwuchs und sich zur Lehrerin ausbildete. In den Sommerferien,
wenn es in Florenz zu heiss war, besuchte sie jeweils mit ihrer Tochter Monica an der Winkelwiese Nonna und Nonno. Monica war
übrigens das erste Mädchen in meinem Leben, in das ich mich so richtig
verknallt habe.
Frau Villars hatte auch diese
stattliche Liegenschaft an der Winkelwiese, deren Garten bis an die
Waldmannstrasse hinunterreichte, mit in den Hausstand gebracht. Sie gebar Herrn
Villars eine Tochter, deren Name mir entfallen ist, und zwei Söhne, einer davon
hiess Leo, genannt Leuli. Auch dieser wurde Elektroingenieur,
allerdings, im Gegensatz zum Vater, nur
für Schwachstrom.
Frau Villars kam an der
Tramhaltestelle Neumarkt bei
einem Verkehrsunfall ums Leben. Da war ich vielleicht sechs. Anlässlich dieses
traurigen Ereignisses lernte ich, wie Kondolieren geht.
Meine Mutter hatte etwas Angst vor Monsieur Villars. Dabei verband doch
die beiden der gemeinsame Herkunftsort: Leubringen
– oder Évilars, wie die
Welschen sagen – oberhalb der Stadt Biel.
Doch es gab da eine unangenehme, wenn auch unausgesprochene Verbindung zwischen
den beiden, die nach Ansicht meiner Mutter das Mietverhältnis durchaus hätte
gefährden können. Die Tochter von Silvia und Maurice Villars heiratete nämlich
einen Löw aus Oberaach, Amriswil, der zur Familie der gleichnamigen Schuhfabrik gehörte.
Und Löws waren zu jener Zeit in den grössten Steuerbetrugsskandal des 20. Jahrhunderts im Kanton Thurgau verwickelt,
während der Onkel meiner Mutter, Ernst
Wyss, genau zu diesem Zeitpunkt Direktor der Eidgenössischen Steuerverwaltung war und damit der
personifizierte Widersacher Löws. Meine Mutter konnte bis ins hohe Alter hinein
nicht verstehen, dass aus diesen Umständen für sie keine Nachteile erwachsen
sind. Die Angst aber begleitete ihr ganzes Mieterinnendasein – über den Tod
Villars hinaus, als die Erben die einzelnen Stockwerke im Eigentum
veräusserten, mit Ausnahme des Hochparterres, wo wir wohnten. Meine Mutter
hätte nie das Geld gehabt, sich diese Wohnung zu erstehen, die zwischenzeitlich
auf drei Zimmer angewachsen war, weil Herr Villars im späten Spätherbst seines
Lebens während Jahren oben im zweiten Stock sterbenskrank im Bett lag und
seinen Büropflichten nicht mehr nachkommen konnte. Sein zur Sonnenseite
ausgerichtetes Office wurde unserer Wohnung zugeschlagen. Jetzt hatte es auch
Platz für ein Klavier.
Im ersten Stock, über uns in der Beletage, residierten Herr und Frau Professor Paul Keller. Während ich
Herrn Kellers Herkunft für normal und unauffällig hielt, fiel mir seine Frau
auf, denn sie stammte aus dem Basler
Daig. Vermutlich war sie eine Sarasin,
eine Burckhardt, eine Staehelin oder eine Vischer, was weiss ich. Von ihr
bleiben mir das schwungvoll gedrehte Chignon
in Erinnerung, aber auch der in meinen Ohren gestelzt wirkende Dialekt und ihr vornehmes Gehabe, das
von ihrer Umgebung zwingend einforderte, sie Frau Professor zu nennen.
Ich glaube, sie war sich ihrer kantigen Wirkung bewusst und wollte zuweilen
dagegenhalten, indem sie Bettlern und Hausierern Almosen verteilte – trotz des
Schildes an der Türe, welches Betteln und Hausieren im Hause verbot –, und
indem sie meine Mutter, eine «gefallene»,
berufstätige Frau mit einem unehelichen Sohn, auch mal zum Tee einlud. Sofern
präsent, blieb ihr Gatte dabei stumm. Er hatte weiss Gott Wichtigeres im Kopf,
musste er sich doch als Präsident der
Schweizerischen Nationalbank ums Wohlergehen unseres Frankens kümmern.
Eines Abends wurde meine Mutter in
den oberen Stock gebeten. Offenbar waren Gäste nicht erschienen, und Frau
Professor wusste sich nicht anders zu helfen, als auf die Schnelle eine
Mitesserin aus der Nachbarschaft zu organisieren, damit nicht allzu viele
Speisen fortgeworfen werden mussten. Dieser Abend, so reime ich mir das heute
zusammen, denn ich war ja nicht dabei, besiegelte wohl das weitere
nachbarschaftliche Verhältnis zwischen oben und unten. Die aufgetischte Rösti
soll nämlich angebrannt gewesen sein, berichtete Mutter später. Frau Professor
Keller wusste das Missgeschick aber nicht anders zu kommentieren, als ihrer
Erleichterung Ausdruck zu verleihen, dass Gott sei Dank wenigstens die
eigentlichen Gäste, ein Direktionspräsident mit Gattin, nicht erschienen seien.
Dies bekam meine Mutter in den falschen Hals. Für sie war klar, dass sich die
Frau Professor für die ungeniessbare Rösti auch bei ihr hätte schämen und entschuldigen
dürfen und nicht nur, wenn die grosskotzige Gesellschaft erschienen wäre.
Ein Jahrzehnt später, als Kellers in
eine Altersresidenz wechselten, zog, von Winterthur herkommend, Dr. Edwin Stopper mit seiner Mutter
in die Beletage. Auch er war, wenn auch eine halbe Generation später, seines
Zeichens Präsident der Schweizerischen Nationalbank. Monsieur Villars wusste
wohlbestallte Mieter durchaus zu schätzen. Herr Stopper führte aber im
Vergleich zu den Kellers ein sehr viel bescheideneres, katholisch-gottesfürchtiges
Leben. Wenn er nicht gerade auf Reisen war für irgendwelche Konferenzen in Washington,
New York City oder London, ging er täglich zur Frühmesse. Seine Mutter Agnes umsorgte ihn, soweit es ihre
eigene Betagtheit noch erlaubte. Das unangenehme, schrille Pfeifen aus ihrem
Hörgerät kündigte jeweils ihr Kommen an. Sie hatte Mühe beim Treppensteigen.
Ein kurzer Schwatz im Hausgang gab ihr die Möglichkeit, etwas Luft zu holen. So
erfuhr ich unzählige Male, dass es bei ihnen zum Znacht wieder einmal Gschwellti,
Käse und Salat gab. Zuweilen beklagte sie sich über ihren Sohn. Der Edwin
komme, so jammerte sie, abends immer so spät nach Hause, er arbeite eben zu viel.
Mit der Zeit wurden die stockwerkeigenen
Kohleheizungen im Keller durch eine zentrale Ölheizung ersetzt. Das kostete Herrn
Jon seinen Teilzeitjob, weil er vordem im Winter jeweils frühmorgens einheizen
kam, was in den Heizkörpern immer seltsame Schabgeräusche verursachte. Herr
Jon, eigentlich Schuster, dem wir zuweilen auch Schuhe, deren Sohlen abfielen,
zur Reparatur gaben, befreite später noch einige Jahre lang den Vorplatz vom
Laub, klagte aber ständig über Atembeschwerden. Dann blieb er plötzlich aus.
Heute ist an der Winkelwiese 6 eine
Tafel folgenden Inhalts angebracht: In
diesem Haus wohnte und wirkte die letzten 50 Jahre ihres Lebens Laure Wyss,
1913–2002, Schriftstellerin. – Geboren und aufgewachsen in Biel. Studium in
Paris und Berlin. Verheiratet in Stockholm. Als Journalistin, Redaktorin,
Fernsehschaffende, Buchautorin, Mutter und Freundin setzte sie sich immer
couragiert für die Schwächeren ein und für die Verwirklichung von gleichen
Rechten für Mann und Frau. – Ehrung durch die Gesellschaft zu Fraumünster,
Sechseläuten 2003.
Ich bin sicher, meine Mutter würde
sich im Grab umdrehen, wüsste sie davon. Denn sie hielt nichts vom weibischen
Nachmachen überkommener, bürgerlicher Männertraditionen. Gleichwohl. Ich liess
die Frauen in ihren wehenden Gewändern im Stil früherer Fürstäbtissinnen
gewähren, als sie in einer kleinen Zeremonie die Gedenktafel der Öffentlichkeit
übergaben. Man kann nicht ungeschoren in einer noblen Umgebung wohnen. Und
letztlich würde meine Mutter schmunzelnd feststellen dürfen, dass
Erinnerungstafeln für die beiden Nationalbankpräsidenten, aber auch eine für den
früheren Crossair- und Swissairchef Moritz
Suter, der zusammen mit seiner Frau nach dem Ableben von Monsieur
Villars in den zweiten Stock einzog, fehlen.
Mit Monica Toselli auf dem Zürichsee |
Silvia & Maurice Villars vor dem Gartenhaus im unteren Teil der Winkelwiese 6 |
© Nikolaus Wyss
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3 Kommentare:
Wunderbar - ganz wunderbar!
solche Geschichten lese ich gerne!
Unglaublich, deine genauen Erinnerungen wie Namen und Daten. Das mit Monika kann ich sehr gut nachvollziehen...
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