Freitag, 31. August 2018

Steven und der vergoldete Sparschäler

Namen und identifizierbare Hinweise zur Person wurden weitgehendst verändert

Als ich ihn am Flughafen abholte, übersah ich ihn zunächst. Er trug zwar auf seinem grossen Kopf einen auffälligen Panamahut, doch darunter bewegte sich ein kurzbeiniges Figürchen, das den anderen heraustretenden Passagieren kaum zur Schulter reichte. Er machte ausholende Schritte, was bei seinen Proportionen etwas lächerlich wirkte. Ich hielt nach jemand anderem Ausschau, wurde aber von ihm angesprochen.
Es war Steven aus den Philippinen. Ich hatte zuvor des Öfteren mit ihm korrespondiert. Jetzt war er da, und ich würde ihm die Schweiz zeigen und insbesondere den Schnee. Bei der Vorstellung, dass ich Grossgewachsener die nächsten paar Wochen mit einem untersetzten Exoten verbringen würde, jagte mir einen kleinen Schauder ein. Würde ich mich auf der Strasse wegen unserer offensichtlichen Unterschiedlichkeit schämen?
Doch das Thema verflüchtigte sich, nachdem wir die ersten paar Nächte miteinander verbracht hatten. Es war schlicht grossartig mit ihm. Im Bett begegneten wir uns auf Augenhöhe und kommunizierten körperlich auf eine Weise, die ich in meinem angegrauten Alter kaum mehr für möglich gehalten hatte. Bei Steven erlebte ich mich abenteuerlustig, experimentierfreudig, scharf und um Jahrzehnte jünger. Dafür war ich ihm dankbar. Meine beruflichen Schwierigkeiten schrumpften plötzlich auf normale Dimensionen zusammen und fanden nächtens einen erholsamen Ausgleich, auch weil die üblichen Albträume ausblieben. Ich war emotional zu beschäftigt. Der Haken bestand nur darin, dass wir uns ausserhalb des Bettes nicht sehr viel zu sagen wussten. Er hatte zwar ein Ökonomiestudium absolviert und konnte, sprach man ihn darauf an, auch einiges über seine heimatliche Kultur berichten. Doch es stellte sich bald heraus, dass er sich ausschliesslich für Styling und Make-up interessierte, was ich mit seiner eigenen, unreinen Haut, die ihn bestimmt störte, in Verbindung brachte.
Auch gab er für Kleider und Kosmetikwässerchen in einer Weise Geld aus, bei der mir angst und bange wurde. Er behauptete zwar, aus vermögendem Hause zu stammen und seine Mutter beauftragt zu haben, sein Auto, einen Mazda 626, in Manila dem Meistbietenden zu verkaufen, um so seinen Europaaufenthalt zu bestreiten. Doch irgendwie wollte es ihm nicht gelingen, daraus das nötige Geld zu schlagen. Allmählich gelangte ich sogar zur Überzeugung, dass die Geschichte mit diesem Auto gar nicht stimmte, und dass er, bewusst oder unbewusst, damit rechnete, dass der Sugardaddy Nikolaus für all seine Kosten aufkommen würde, auch wenn anderes abgemacht war.
So wunderbar wir es des Morgens, des Abends, an Wochenenden auch tagsüber am Fenster mit Aussicht auf die Nachbarschaft, auf dem Balkon unter dem klaren Sternenhimmel, im Badezimmer bei laufender Dusche oder auch ganz konventionell im Bett, uns gegenseitig filmend, miteinander trieben, wir konnten nicht in Abrede stellen, dass für ein weiteres Zusammenbleiben die Basis wohl zu schmal war. So kam nach lustvollen Wochen und Monaten der Tag, an welchem er auf mein Drängen hin beschloss, wegzuziehen. Glücklicherweise fand er Unterschlupf bei einem neuen Gastgeber, den er während unserer gemeinsamen Zeit übers Internet kennengelernt hatte. Dieser war Porträtfotograf, was sich gut zu Stevens Interesse, eine Karriere als Make-up-Designer zu machen, fügte.
Wir verabschiedeten uns und liessen dabei die gebotene Vernunft walten, auch wenn sie so gar nicht meinen Gefühlen entsprach. Er liess mich mit kaum stillbaren Begierden zurück. Während der nächsten Monate wälzte ich mich mutterseelenallein im Bett und wünschte mir sehnsüchtig wenigstens ein Zipfelchen unserer lustvollen Aktivitäten zurück. Mich trieb die Frage um, woran sich mein unbändiges Verlangen nach ihm denn nährte und womit ich es hätte unter Kontrolle bringen können. Ich kam zum Schluss, meine Begeisterung für unseren intimen Zeitvertreib fusse auf meinem mangelnden Selbstwertgefühl, das er, sozusagen therapeutisch, wegzuficken wusste. Wenn man einmal die 50 überschritten hat und sich seines zerfallenden Körpers bewusst wird, wenn man merkt, dass die schwindende Attraktivität weder mit Fitnesstraining oder Schlankhungern noch mit Waldspaziergängen aufpimpbar ist, so ist man wohl besonders empfänglich für jemanden, der einem zu verstehen gibt, man sei mehr als okay mit dem Rest, der einem geblieben ist. Er hatte Lust auf mich. Das machte mich geil.
Später im Jahr, an einer Party bei Freunden, lernte ich Kunstmaler R. kennen, der mich zunächst nicht verorten konnte. Doch plötzlich fragte er mich, ob in meinem Wohnzimmer eine Vitrine stünde, worin ich einen goldenen Sparschäler aufbewahre. – Seine Frage verblüffte mich. Woher kann R. sowas wissen, war ich ihm doch zuvor noch nie begegnet und hatte ihn also auch noch nie bei mir zu Gast. Die weitere Unterhaltung ergab, dass er einmal von Steven zu mir nach Hause eingeladen worden war, als ich mich gerade auf einer Geschäftsreise befand. Dort liess ihm Steven all die schönen Dinge zuteilwerden, die ich selbst bis zu unserem Abschied mit ihm geniessen durfte.
Diese Informationen waren für mich insofern wertvoll und heilsam, als sie meine Sehnsucht nach Steven augenblicklich dämpften. Plötzlich war dieses Gefühl der Exklusivität weg. Seine Zuneigung zu mir hatte wohl doch weniger mit mir zu tun als mit seinem grossen Talent, anderen dieses Gefühl zu vermitteln, nach welchem ich mich doch so sehnte ...
Von nun an liessen mich Gedanken an Steven in Ruhe. Zwar erinnerte ich mich gerne an ihn zurück, doch ohne den quälenden Zusatz des Wiederholenwollens. So vergingen die Jahre, und allmählich verschwand Steven gänzlich aus meinem Bewusstsein, unter anderem auch deshalb, weil ich mich mit neuen Menschen anfreundete und auch eine Partnerschaft einging, die noch heute anhält.
Doch die Geschichte ist hier noch nicht ganz zu Ende. Einige Zeit später trug mir ein Freund den Link auf eine Pornoseite zu mit dem Hinweis, ein Blick darauf dürfte mich interessieren. Und ich sah dort, wie Steven sich mit den unterschiedlichsten Männern amüsierte. Alles ohne Kondome natürlich. Und während er sich kreuz und quer vögeln liess, stiess er Lustschreie aus. Er verlangte fürs Anschauen des ganzen Streifens Geld. Ich jedoch begnügte mich mit dem kostenfreien Trailer, was für die Kenntnisnahme absolut genügte. Ich entdeckte aber, dass in einem versteckten Teil des Netzes Dutzende seiner Filmchen auf bezahlende Zuschauer warteten, und ich dachte: Aha, das ist jetzt der fragliche Mazda, auf dessen Erlös ich damals vergebens gewartet hatte.

© Nikolaus Wyss

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