Namen und identifizierbare Hinweise zur Person wurden weitgehendst verändert |
Als ich ihn am Flughafen abholte, übersah ich ihn
zunächst. Er trug zwar auf seinem grossen Kopf einen auffälligen Panamahut,
doch darunter bewegte sich ein kurzbeiniges Figürchen, das den anderen heraustretenden
Passagieren kaum zur Schulter reichte. Er machte ausholende Schritte, was bei
seinen Proportionen etwas lächerlich wirkte. Ich hielt nach jemand anderem
Ausschau, wurde aber von ihm angesprochen.
Es war Steven aus den Philippinen.
Ich hatte zuvor des Öfteren mit ihm korrespondiert. Jetzt war er da, und ich
würde ihm die Schweiz zeigen und insbesondere den Schnee. Bei der Vorstellung,
dass ich Grossgewachsener die nächsten paar Wochen mit einem untersetzten
Exoten verbringen würde, jagte mir einen kleinen Schauder ein. Würde ich mich
auf der Strasse wegen unserer offensichtlichen Unterschiedlichkeit schämen?
Doch das Thema verflüchtigte sich,
nachdem wir die ersten paar Nächte miteinander verbracht hatten. Es war
schlicht grossartig mit ihm. Im Bett begegneten wir uns auf Augenhöhe und
kommunizierten körperlich auf eine Weise, die ich in meinem angegrauten Alter
kaum mehr für möglich gehalten hatte. Bei Steven erlebte ich mich
abenteuerlustig, experimentierfreudig, scharf und um Jahrzehnte jünger. Dafür
war ich ihm dankbar. Meine beruflichen Schwierigkeiten schrumpften plötzlich
auf normale Dimensionen zusammen und fanden nächtens einen erholsamen
Ausgleich, auch weil die üblichen Albträume ausblieben. Ich war emotional zu
beschäftigt. Der Haken bestand nur darin, dass wir uns ausserhalb des Bettes
nicht sehr viel zu sagen wussten. Er hatte zwar ein Ökonomiestudium absolviert
und konnte, sprach man ihn darauf an, auch einiges über seine heimatliche
Kultur berichten. Doch es stellte sich bald heraus, dass er sich
ausschliesslich für Styling und Make-up interessierte, was ich mit seiner
eigenen, unreinen Haut, die ihn bestimmt störte, in Verbindung brachte.
Auch gab er für Kleider und Kosmetikwässerchen
in einer Weise Geld aus, bei der mir angst und bange wurde. Er behauptete zwar,
aus vermögendem Hause zu stammen und seine Mutter beauftragt zu haben, sein
Auto, einen Mazda 626, in Manila dem Meistbietenden zu
verkaufen, um so seinen Europaaufenthalt zu bestreiten. Doch irgendwie wollte
es ihm nicht gelingen, daraus das nötige Geld zu schlagen. Allmählich gelangte
ich sogar zur Überzeugung, dass die Geschichte mit diesem Auto gar nicht
stimmte, und dass er, bewusst oder unbewusst, damit rechnete, dass der Sugardaddy Nikolaus für all seine
Kosten aufkommen würde, auch wenn anderes abgemacht war.
So wunderbar wir es des Morgens, des
Abends, an Wochenenden auch tagsüber am Fenster mit Aussicht auf die
Nachbarschaft, auf dem Balkon unter dem klaren Sternenhimmel, im Badezimmer bei
laufender Dusche oder auch ganz konventionell im Bett, uns gegenseitig filmend,
miteinander trieben, wir konnten nicht in Abrede stellen, dass für ein weiteres
Zusammenbleiben die Basis wohl zu schmal war. So kam nach lustvollen Wochen und
Monaten der Tag, an welchem er auf mein Drängen hin beschloss, wegzuziehen.
Glücklicherweise fand er Unterschlupf bei einem neuen Gastgeber, den er während
unserer gemeinsamen Zeit übers Internet kennengelernt hatte. Dieser war
Porträtfotograf, was sich gut zu Stevens Interesse, eine Karriere als Make-up-Designer
zu machen, fügte.
Wir verabschiedeten uns und liessen
dabei die gebotene Vernunft walten, auch wenn sie so gar nicht meinen Gefühlen
entsprach. Er liess mich mit kaum stillbaren Begierden zurück. Während der
nächsten Monate wälzte ich mich mutterseelenallein im Bett und wünschte mir
sehnsüchtig wenigstens ein Zipfelchen unserer lustvollen Aktivitäten zurück.
Mich trieb die Frage um, woran sich mein unbändiges Verlangen nach ihm denn
nährte und womit ich es hätte unter Kontrolle bringen können. Ich kam zum
Schluss, meine Begeisterung für unseren intimen Zeitvertreib fusse auf meinem
mangelnden Selbstwertgefühl, das er, sozusagen therapeutisch, wegzuficken
wusste. Wenn man einmal die 50 überschritten hat und sich seines zerfallenden
Körpers bewusst wird, wenn man merkt, dass die schwindende Attraktivität weder
mit Fitnesstraining oder Schlankhungern noch mit Waldspaziergängen aufpimpbar
ist, so ist man wohl besonders empfänglich für jemanden, der einem zu verstehen
gibt, man sei mehr als okay mit dem Rest, der einem geblieben ist. Er hatte Lust
auf mich. Das machte mich geil.
Später im Jahr, an einer Party bei
Freunden, lernte ich Kunstmaler R.
kennen, der mich zunächst nicht verorten konnte. Doch plötzlich fragte er mich,
ob in meinem Wohnzimmer eine Vitrine stünde, worin ich einen goldenen Sparschäler
aufbewahre. – Seine Frage verblüffte mich. Woher kann R. sowas wissen, war ich ihm
doch zuvor noch nie begegnet und hatte ihn also auch noch nie bei mir zu Gast.
Die weitere Unterhaltung ergab, dass er einmal von Steven zu mir nach Hause
eingeladen worden war, als ich mich gerade auf einer Geschäftsreise befand.
Dort liess ihm Steven all die schönen Dinge zuteilwerden, die ich selbst bis zu
unserem Abschied mit ihm geniessen durfte.
Diese Informationen waren für mich
insofern wertvoll und heilsam, als sie meine Sehnsucht nach Steven
augenblicklich dämpften. Plötzlich war dieses Gefühl der Exklusivität weg.
Seine Zuneigung zu mir hatte wohl doch weniger mit mir zu tun als mit seinem
grossen Talent, anderen dieses Gefühl zu vermitteln, nach welchem ich mich doch
so sehnte ...
Von nun an liessen mich Gedanken an
Steven in Ruhe. Zwar erinnerte ich mich gerne an ihn zurück, doch ohne den
quälenden Zusatz des Wiederholenwollens. So vergingen die Jahre, und allmählich
verschwand Steven gänzlich aus meinem Bewusstsein, unter anderem auch deshalb,
weil ich mich mit neuen Menschen anfreundete und auch eine Partnerschaft
einging, die noch heute anhält.
Doch die Geschichte ist hier noch
nicht ganz zu Ende. Einige Zeit später trug mir ein Freund den Link auf eine
Pornoseite zu mit dem Hinweis, ein Blick darauf dürfte mich interessieren. Und
ich sah dort, wie Steven sich mit den unterschiedlichsten Männern amüsierte.
Alles ohne Kondome natürlich. Und während er sich kreuz und quer vögeln liess,
stiess er Lustschreie aus. Er verlangte fürs Anschauen des ganzen Streifens
Geld. Ich jedoch begnügte mich mit dem kostenfreien Trailer, was für die
Kenntnisnahme absolut genügte. Ich entdeckte aber, dass in einem versteckten Teil
des Netzes Dutzende seiner Filmchen auf bezahlende Zuschauer warteten, und ich
dachte: Aha, das ist jetzt der fragliche Mazda, auf dessen Erlös ich damals
vergebens gewartet hatte.
© Nikolaus Wyss
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