Freitag, 20. Juli 2018

Kolumbien im Mord-Modus


Titelbild der Semana vom 8. Juli 2018
Heute, am 20. Juli, ist kolumbianischer Unabhängigkeitstag, der mit Paraden von Truppenverbänden, Kriegs- und Rettungsmaterial, mit Fahnenehrungen und Besäufnissen begangen wird. Der Tag soll an die vielen Befreiungskämpfe und an die Gründung der Vereinigten Staaten von Kolumbien im Jahre 1821 erinnern. 
Die 200jährige Geschichte der Republik zeigt, dass im Laufe der Zeit unter Freiheit und Unabhängigkeit sehr Unterschiedliches verstanden wurde. Die Spanier war man zwar los, aber wer welche Freiheit im eigenen Land für sich in Anspruch nehmen darf, ist bis heute nicht nur Verhandlungssache sondern oft auch eine mit Waffen geführte Auseinandersetzung um Macht und Einfluss. Die Gesetze werden entsprechend den herrschenden Verhältnissen angepasst und abgeändert, die Verfassung mit Füssen getreten. 
Landarbeiter, Landflüchtige und Mittellose, sie bilden die Mehrheit der Kolumbianer*innen, haben von dieser ideologisch überhöhten Freiheitsdebatte, die allzu oft in kriegerischen und kriminellen Aktivitäten mündet, bis dato wohl wenig Vorteile abgekriegt und umso mehr unter der Waffenherrschaft gesetzloser Unabhängigen leiden müssen. Gleichwohl feiern auch sie den heutigen Tag wie diejenigen, die für sich ungeniert und erbarmungslos Freiheiten auf Kosten anderer in Anspruch nehmen. Im Gestrüpp dieser Anspruchsgruppen gab und gibt es immer wieder unheilige Allianzen zwischen Guerillas unterschiedlicher Couleurs, Paramilitärs, Armee, alten Familien, Drogenbossen und sagenhaft korrupten Amtsinhabern. Der Durchblick fällt schwer, wie auch die jüngste Gewaltwelle beweist.
Zur Zeit kann nämlich wieder einmal ein signifikanter Anstieg politisch motivierter Morde beobachtet werden. Im Zeitraum der ersten sechs Monate dieses Jahres wurden im ganzen Land gezielt 86 Sozialarbeiter*innen und politische Aktivist*innen des linken Lagers umgebracht. Diese Tötungen erinnern an die dunklen Tage des Bürgerkrieges, wo jeder, der die Nase ein bisschen im Wind hielt und eine von Hoffnung, Gerechtigkeit und Chancen geprägte Meinung kundtat, dies mit seinem Leben bezahlen musste. 
Das Wochenmagazin Semana fragt auf der Frontseite der aktuellen Ausgabe besorgt: wer tötet sie? Im Hintergrund reihen sich Fotos der Opfer aneinander. 
Eine Antwort darauf hat auch die Semana keine. Sie stochert in einem von Schweigen zugedeckten Feld herum wie Retter, die vergeblich auf einem Lawinenkegel nach Verschütteten suchen. Die politische Führung Kolumbiens und die Polizei lassen verlauten, es gebe zwischen den einzelnen Morden keine signifikanten Verbindungen, oder sie schieben die Taten Gruppierungen in die Schuhe, denen man solche Taten zutraut, ohne sie beweisen zu müssen. 
In wenigen Tagen tritt der neugewählte, junge Präsident Kolumbiens, Iván Duque, sein Amt an. Er hat nicht nur seine Haare aschgrau gefärbt, um älter und seriöser auszusehen, er hat in seinem Wahlkampf auch die Infragestellung des Friedensabkommens mit der grössten Guerilla-Bewegung des Landes, der FARC, die mittlerweile zu grossen Teilen entwaffnet worden ist, ins Zentrum gestellt und verlangt, dass das Abkommen neu verhandelt werden müsse. Es ist absehbar, dass eine solche vom Wahlvolk durchaus unterstützte Position zu einer neuen, gewalttätig verlaufenden Debatte um die Frage, was Freiheit für jeden einzelnen bedeutet, führt. Spekulativ sei schon mal in den Raum gestellt, dass in einer solchen Debatte Stimmen, die sich für eine Verbesserung der Situation sozial Benachteiligter einsetzen, nicht unbedingt erwünscht sind.   

 

© Nikolaus Wyss

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