Sonntag, 8. Juli 2018

Terri in Cartagena 1991

Terri Orrego Cor 1991 - Die Bilder entstanden am darauffolgenden Sonntag Nachmittag - mit frischen Kleidern
Es ist Nachsaison. Es gibt mehr Schuhputzer, Zigarettenhändler und t-shirt-Verkäufer als Touristen. Sie sind entsprechend aufsässig. Ein untersetzter, dunkelblonder Junge tut sich besonders hervor. Er wagt sich an meinen Tisch heran, wo ich gerade das Abendbrot einnehme, und empfieht seine perfekten Schuhputzdienste.
Du siehst doch, dass ich Turnschuhe trage, zische ich ihm zu. Ich brauche keine Schuhwichse, sonst kommen meine Füsse nur noch mehr ins Schwitzen.
Das Leben ist hart, antwortet er darauf.
Mit dieser Reaktion habe ich nicht gerechnet. Ein kleiner Lumpenphilosoph?
Ich kann Ihnen sagen, das Leben ist hart.
Das glaube ich Dir.
Schauen Sie, und er deutet auf eine Narbe ganz dicht an der Halsschlagader, vor vier Wochen haben sie mich beinahe umgebracht. Während ich schlief, kamen sie zu dritt auf mich los. Sie wollten mir meine 3000 Pesos klauen. Als ich mich wehrte, stachen sie zu.
Der Kellner hat diese Art von Begegnungen zwischen kostbarer Klientel und Pöbel nicht gern. Er kommt jetzt an meinen Tisch und knallt mit seiner Serviette in die Luft, als ob es Fliegen zu verscheuchen gelte. Der Junge weicht sofort und begibt sich wieder ins Dunkel nach draussen.
Ich bleibe noch eine Weile und bezahle dann. Als ich die Terrasse verlasse, ist der Junge wieder da. Er sucht jetzt den Kontakt übers Gespräch und lässt seine Dienste bleiben. Was er erzählt, sind Schnappschüsse seines jungen Lebens. Pro Tatbestand braucht er nicht mehr als einen Satz.
Ich komme aus Medellin. Ich bin 17. Ich bin vor drei Jahren von Zuhause weggelaufen. Meinen Vater kenne ich nicht. Meine Mutter ist Trinkerin. Sie schlug mich immer und immer wieder. Sie wohnt jetzt mit einem anderen zusammen. Ich mag ihn nicht. Deshalb bin ich abgehauen. Ich bin kein Gassenjunge. Ich bin anständig. Seit sie mich umbringen wollten, wohne ich in einem Hotel an der Halbmondstrasse. Wir sind zu fünft in einem Zimmer. Ich bezahle 800 Pesos die Nacht. Ich dusche mich täglich. Fürs Essen reicht es nicht immer. Das Leben ist hart.
Was mich an diesem Burschen zunehmend gefangen nimmt, ist sein strahlendes Gesicht. Beim Erzählen eines solchen Schicksals erwarte ich eine bedrückte, traurige Miene.
Du erzählst deine Geschichte wohl nicht zum ersten Mal, entweicht es mir.
Nein, aber sie ist trotzdem wahr. - Was esst Ihr in Europa? Gibt es Hühnchen, Pommes frites? Arepas?
Arepas, diese gebratenen Maisfladen, kennen wir nicht, und das Fleisch ist bei uns im allgemeinen sehr viel teurer als hier.
Wieviel verdienen Sie?
Das ist etwas schwierig umzurechnen. Weisst du, die Lebenshaltungskosten sind bei uns um ein Vielfaches...
Der Junge unterbricht mich und bedeutet mir, dass er hinter den Ohren nicht grün sei. Er habe schon einiges auf dieser Welt gesehen.
Ich kenne Kolumbien sehr gut. Ich war schon in Bogotá, Cali, Bucaramanga. Wenn die Polizei hinter mir her ist, so muss ich die Stadt wechseln. Sonst würden sie mich aufgreifen und wieder in ein Heim stecken. Ich habe keine Papiere. Deshalb gelte ich für sie als Vagabund. Aber ich kann lesen und schreiben. nach Puerto Rico habe ich es auch schon gebracht.
In Puerto Rico warst du?
Si señor. Ich habe mich auf ein Schiff geschlichen. Bei der Landung in San Juan haben sie mich entdeckt und zurückbefördert. Doch jetzt weiss ich, wie die Sache läuft. Das nächste Mal klappt er bestimmt.
In der Zwischenzeit sind wir auf unserem langsamen Spaziergang am Strand angekommen. Dort lockt ein kühles Lüftchen zum Verweilen. Es ist ziemlich dunkel. Ich überlege mir, ob unter dem Schuhputzzeug irgendwo ein Messer steckt, bereit, um meinen Hals aufzuschlitzen. 
Ich frage ihn nach seinem Namen.
Terri, schiesst er hervor, Terri Orrego Cor. Soll ich ihn Ihnen aufschreiben?
Jetzt wage ich mich etwas mehr ins Dunkel vor. Terri, rund drei Köpfe kleiner als ich, weicht nicht von meiner Seite. Er erzählt und erzählt, lässt mich seine kräftigen Armmuskeln ertasten und sagt, er glaube an Gott.
Du bist ein feiner Junge, sage ich.
Ich weiss, antwortet er. Wenn ich etwas mehr Geld auf der Seite habe, und wenn man es mir bis dann nicht weggenommen hat, ojala, hoffentlich, so gehe ich als Zigarettenverkäufer. Damit verdient man mehr. Und dann will ich vielleicht nochmals zur Schule.
Terri entfacht in mir väterliche Gefühle. Ich sehe ihn schon, wie er sich als Zigarettenverkäufer tüchtig emporschafft. Die erste Stange Zigaretten möchte ich ihm spendieren. Ich lenke meine Schritte zurück in die Nähe der Strassencafés. Er soll etwas Warmes zu essen bekommen.
Nicht hier, lehnt Terri meinen Vorschlag ab. Hier werfen sie mich raus.
Schliesslich landen wir in einem Schnellimbiss, und Terri beisst genüsslich in seinen Hamburger. Nach der Hälfte wird ihm schlecht.
Ich bin mir so etwas Feines nicht gewohnt.  
Draussen schleichen seine Schuhputzkollegen herum. Ich glaube, Terri ist das unangenehm. Er will um Gottes Willen keinen Neid erregen, das könnte für ihn tödlich sein. 
Während er mit seiner Übelkeit kämpft, verschwinde ich auf die Toilette und klaube mir aus meinem Gürtel Geld für Terris Zigaretten hervor.
Hier. Ich mache Anstalten für die Transaktion.
Nicht hier, stoppt mich Terri. Er will mich zu meinem Hotel begleiten. Der Weg führt wieder am Strand vorbei. Dort findet die Übergabe statt. Er rollt die Noten eng zusammen, küsst sie, murmelt ein kurzes Dankesgebet und bittet Gott, mich zu segnen. Dann schiebt er das Geld in die Lasche seiner arg mitgenommenen Turnschuhe.
Hasta luego, auf Wiedersehen sagt er hastig und entschwindet in der Dunkelheit. Von weitem ruft er noch: Morgen wird es etwas später. Ich muss meine Kleider waschen, damit ich für den Sonntag etwas Frisches zum Anziehen habe.
___

Dieser Text, der Titel zeigt es, entstand 1991 unter dem Eindruck eines Besuches von Cartagena. Mittlerweile sind 27 Jahre vergangen. Ich bin seither, ausser am darauffolgenden Sonntag, wo die Fotos entstanden sind, Terri nie mehr begegnet. Was ist wohl aus ihm geworden? Vielleicht lebt er, wenn er noch lebt, in Puerto Rico? Oder vielleicht sogar in den Vereinigten Staaten? Oder würde ich ihn, sichtlich gealtert, bei meinem nächsten Besuch in Cartagena wieder antreffen?- Und: würde er mich wiedererkennen?

© Nikolaus Wyss

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