Montag, 4. März 2019

Stress Design (壓力設計)

Gastdozent Wyss mit einer gelehrigen Studentin, diese politisch unkorrekt umarmend

Kaum wurde im Laufe des Jahres 2009 meine Kündigung als Rektor der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Luzern ruchbar, meldete sich mein chinesischer Kollege und Freund Zhan Binghong, gratulierte mir zum Entscheid und schlug mir vor, an seiner Universität, dem Beijing Institute of Fashion Technology (BIFT), ein paar Kurse zu geben. Er fragte mich, welche Themen mir denn am Herzen lägen, und unterbreitete mir für den bevorstehenden Einsatz gleich einige Zeitfenster.
Hoch motiviert heckte ich vier Vorschläge aus, von denen ich annahm, sie bei genügender Vorbereitung zu meistern:
1. Interculturality and Design
2. Design as Factor of Added Value
3. Branding and Specific Local Needs
4. Diversity Design
Binghong antwortete schon am nächsten Tag und erklärte, die ersten drei Punkte seien bereits Thema an seiner Uni, doch Punkt vier würde ihn besonders interessieren, denn er habe davon noch nie etwas gehört.
Nun, mir ging es genauso. Ich interessierte mich zwar für den Faktor Diversität in arbeitsteiligen Produktionsprozessen, doch viel mehr als dieser attraktive, vielversprechende Modultitel war auch mir damals nicht bekannt. Überzeugt, diese Herausforderung aber mit genügenden Informationen hinzukriegen, liess ich zur Sicherheit noch unseren Forschungsbeauftragten zu mir aufs Rektorat kommen und bat ihn abzuklären, was denn in Wissenschaftskreisen unter Diversity Design schon alles publiziert worden sei. Ein paar Tage später meldete er sich mit einer Ausbeute, die mich mehr als nur ratlos machte. Ausser für einen Tattoo-Schuppen im US-Staat New York war damals gemäss seinen Recherchen dieser Begriff nirgends gebräuchlich.
Da begann ich zwischen der Angst eines Hochstaplers, entdeckt zu werden, und der Unbekümmertheit eines Draufgängers, für den es immer eine Lösung gibt, hin und her zu schwanken. Diese Ambivalenz gegenüber diesem Nicht-Thema hielt auch noch an, als ich mich Monate später in Beijing im Hotel Tibet einquartierte. War das Haus nicht eine wunderschöne Verkörperung des chinesischen Umgangs mit Diversität? Das Hotel hiess zwar grosszügig nach einer beachtlichen und gefürchteten Minderheit im Land, unterschied sich aber ausser durch ein paar Fotos von Stupas und Berglandschaften des Himalaja im Flur in nichts von einem gewöhnlichen Hotel, wie es sie im chinesischen Reich zu Tausenden gibt. Das Zimmer war überheizt, gleichzeitig zog es durch die Fensterritzen. Der Smog verhinderte die Sicht vom 15. Stockwerk hinunter auf die Strasse, und für meine Stadtgänge kaufte ich mir in einer nahen Apotheke einen grünen Atemschutz, wie er in unseren Breitengraden nur bei medizinischem Personal üblich ist, dort aber jeder zweite im öffentlichen Raum trägt.
Ich rang mich durch, den Workshop unter den halbwegs ehrlichen Titel Diversity Design – Wir untersuchen die Tauglichkeit eines vorerst noch unbekannten Begriffs zu stellen. Der Übersetzer, der mir zur Seite gestellt wurde, ein blitzgescheites Kerlchen, das vordem bei Microsoft Apps entwickelt hatte, brauchte jeweils für die Mandarin-Version meiner englischsprachigen Ausführungen doppelt so lang. Oft fragte ich mich, was er sonst noch alles zu sagen hatte ausser dem, was er zu übersetzen verpflichtet gewesen wäre.
Die Gruppe von etwa 20 Studentinnen und Studenten war hochmotiviert, aber auch so, wie ich Studierende von Luzern her kannte: Sie waren jeder Reflexion und jedem theoretischen Gedanken abhold und zogen das Gestalten vor, noch bevor sie genau wussten, was es denn überhaupt zu gestalten gab. Ich hingegen legte mehr Wert aufs Ausdeutschen des Begriffs Diversität und bemühte mich, mit drastischen Bildern dessen Reichtum, gesellschaftlichen Mehrwert und Komplexität zu schildern. Wie nebenher strich ich die Notwendigkeit hervor, dass dies auch ein Thema für Designer sei. Ich sprach von geistig und körperlich Behinderten und von Rollstuhlfahrerinnen, von Frauen und Männern, von Rechtlosen, Stadtstreichern, Wanderarbeitern, Seniorinnen am Rollator, von Homosexuellen und braven Familien, um das Bild einer vielgestaltigen Gesellschaft zu skizzieren, wie es gerade China auszeichnet, dem damals noch bevölkerungsreichsten Land der Welt.
Eisiges Schweigen war die Antwort. Hatten sie mich nicht verstanden? Oder hatte das Kerlchen falsch übersetzt? Oder berührte ich Themen, die als absolutes Tabu galten, auch unter jungen Studierenden, die ihre angebliche Unkonventionalität doch mit gefärbten Haaren und extravaganter Kleidung spazierenführten? Wobei: Im Klassenzimmer war es so eisig kalt, dass alle über ihren Tattoos, ihren bunten Hemden und Tüchern als oberste Schicht noch dicke, einförmige Daunenjacken trugen oder graue Wollmäntel. Wenn wir uns unterhielten, so bildete sich jeweils vor unserem Mund nebliger Hauch.
Ich selbst schärfte mit jedem Tag den Begriff und kam schon bald zum Schluss, dass sich Diversity Design eher zur Beurteilung von Design eigne und weniger für eigene Entwürfe. Ich steuerte also während des Workshops auf einen Kriterienkatalog hin, mit welchem man designte Gegenstände auf ihre Diversitätstauglichkeit hin hätte prüfen können. Womit ich die gestaltungswilligen Jungen und Mädchen mächtig frustrierte, denn sie waren schon dabei, spezielle Handgriffe für die U-Bahn zu entwerfen und Schirme für Armlose.
Ich musste ihnen sagen, dass es dafür schon genug andere Design-Begriffe gebe und dass vielleicht solche Schirme Handicapierten zwar entgegenkommen mögen, aber für unsereins mit Armen nicht gerade praktisch seien und lächerlich aussähen.

Meine Bemühungen, einen Qualifikationsbegriff wie Diversity Design zu entwickeln, der vorhandenes Design in gut und weniger gut unterteilen könnte, und Design, das sich besonders gut für unterschiedlichste Gebrauchsgruppen eignet, mit einem Qualitätslabel auszuzeichnen, stiessen nur auf lauwarme Begeisterung. Während ich zunehmend zufrieden war, meinen Kopf aus der Schlinge gezogen zu haben, beobachtete ich eine untröstliche Ernüchterung, welcher ich nichts entgegenzustellen vermochte. Das tat mir ausgesprochen leid, und ich versuchte, am letzten Tag in der Feedback-Runde unseren Workshop selbst als eine diverse Veranstaltung zu positionieren, in welcher jede und jeder mit ihren und seinen je eigenen Erwartungen und Vorstellungen hineingegangen war, ohne genau zu wissen, was sie oder ihn erwartet, und wo alle auf unsicherem Terrain ihre eigenen Erfahrungen machen mussten und durften. Ich selbst war eigentlich in jenem Moment überzeugt, einen wesentlichen Beitrag zu einer Begriffsbildung geleistet zu haben, musste aber einsehen, mich hier im winterlichen Beijing im völlig falschen Film befunden zu haben.

© Nikolaus Wyss

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