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Gastdozent Wyss mit einer gelehrigen Studentin, diese politisch unkorrekt umarmend |
Kaum wurde im Laufe des Jahres 2009 meine Kündigung
als Rektor der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Luzern ruchbar, meldete sich mein
chinesischer Kollege und Freund Zhan
Binghong, gratulierte mir zum Entscheid und schlug mir vor, an seiner
Universität, dem Beijing Institute of Fashion Technology (BIFT), ein
paar Kurse zu geben. Er fragte mich, welche Themen mir denn am Herzen lägen,
und unterbreitete mir für den bevorstehenden Einsatz gleich einige Zeitfenster.
Hoch motiviert heckte ich vier
Vorschläge aus, von denen ich annahm, sie bei genügender Vorbereitung zu
meistern:
1. Interculturality and Design
2. Design as Factor of Added Value
3. Branding and Specific Local Needs
4. Diversity Design
Binghong antwortete schon am
nächsten Tag und erklärte, die ersten drei Punkte seien bereits Thema an seiner
Uni, doch Punkt vier würde ihn besonders interessieren, denn er habe davon noch
nie etwas gehört.
Nun, mir ging es genauso. Ich
interessierte mich zwar für den Faktor Diversität in arbeitsteiligen
Produktionsprozessen, doch viel mehr als dieser attraktive, vielversprechende Modultitel
war auch mir damals nicht bekannt. Überzeugt, diese Herausforderung aber mit genügenden
Informationen hinzukriegen, liess ich zur Sicherheit noch unseren
Forschungsbeauftragten zu mir aufs Rektorat kommen und bat ihn abzuklären, was
denn in Wissenschaftskreisen unter Diversity Design schon alles
publiziert worden sei. Ein paar Tage später meldete er sich mit einer Ausbeute,
die mich mehr als nur ratlos machte. Ausser für einen Tattoo-Schuppen im US-Staat New York war damals gemäss seinen
Recherchen dieser Begriff nirgends gebräuchlich.
Da begann ich zwischen der Angst
eines Hochstaplers, entdeckt zu werden, und der Unbekümmertheit eines
Draufgängers, für den es immer eine Lösung gibt, hin und her zu schwanken.
Diese Ambivalenz gegenüber diesem Nicht-Thema hielt auch noch an, als ich mich
Monate später in Beijing im Hotel Tibet
einquartierte. War das Haus nicht eine wunderschöne Verkörperung des
chinesischen Umgangs mit Diversität? Das Hotel hiess zwar grosszügig nach einer
beachtlichen und gefürchteten Minderheit im Land, unterschied sich aber ausser durch
ein paar Fotos von Stupas und Berglandschaften des Himalaja im Flur in nichts
von einem gewöhnlichen Hotel, wie es sie im chinesischen Reich zu Tausenden
gibt. Das Zimmer war überheizt, gleichzeitig zog es durch die Fensterritzen.
Der Smog verhinderte die Sicht vom 15. Stockwerk hinunter auf die Strasse, und
für meine Stadtgänge kaufte ich mir in einer nahen Apotheke einen grünen
Atemschutz, wie er in unseren Breitengraden nur bei medizinischem Personal
üblich ist, dort aber jeder zweite im öffentlichen Raum trägt.
Ich rang mich durch, den Workshop
unter den halbwegs ehrlichen Titel Diversity Design – Wir untersuchen die
Tauglichkeit eines vorerst noch unbekannten Begriffs zu stellen. Der
Übersetzer, der mir zur Seite gestellt wurde, ein blitzgescheites Kerlchen, das
vordem bei Microsoft Apps entwickelt hatte, brauchte jeweils für die
Mandarin-Version meiner englischsprachigen Ausführungen doppelt so lang. Oft
fragte ich mich, was er sonst noch alles zu sagen hatte ausser dem, was er zu
übersetzen verpflichtet gewesen wäre.
Die Gruppe von etwa 20 Studentinnen
und Studenten war hochmotiviert, aber auch so, wie ich Studierende von Luzern
her kannte: Sie waren jeder Reflexion und jedem theoretischen Gedanken abhold
und zogen das Gestalten vor, noch bevor sie genau wussten, was es denn
überhaupt zu gestalten gab. Ich hingegen legte mehr Wert aufs Ausdeutschen des
Begriffs Diversität und
bemühte mich, mit drastischen Bildern dessen Reichtum, gesellschaftlichen
Mehrwert und Komplexität zu schildern. Wie nebenher strich ich die
Notwendigkeit hervor, dass dies auch ein Thema für Designer sei. Ich sprach von
geistig und körperlich Behinderten und von Rollstuhlfahrerinnen, von Frauen und
Männern, von Rechtlosen, Stadtstreichern, Wanderarbeitern, Seniorinnen am
Rollator, von Homosexuellen und braven Familien, um das Bild einer
vielgestaltigen Gesellschaft zu skizzieren, wie es gerade China auszeichnet, dem damals noch
bevölkerungsreichsten Land der Welt.
Eisiges Schweigen war die Antwort.
Hatten sie mich nicht verstanden? Oder hatte das Kerlchen falsch übersetzt?
Oder berührte ich Themen, die als absolutes Tabu galten, auch unter jungen
Studierenden, die ihre angebliche Unkonventionalität doch mit gefärbten Haaren
und extravaganter Kleidung spazierenführten? Wobei: Im Klassenzimmer war es so
eisig kalt, dass alle über ihren Tattoos, ihren bunten Hemden und Tüchern als
oberste Schicht noch dicke, einförmige Daunenjacken trugen oder graue Wollmäntel.
Wenn wir uns unterhielten, so bildete sich jeweils vor unserem Mund nebliger
Hauch.
Ich selbst schärfte mit jedem Tag
den Begriff und kam schon bald zum Schluss, dass sich Diversity Design eher zur Beurteilung von Design eigne und weniger
für eigene Entwürfe. Ich steuerte also während des Workshops auf einen Kriterienkatalog
hin, mit welchem man designte Gegenstände auf ihre Diversitätstauglichkeit hin
hätte prüfen können. Womit ich die gestaltungswilligen Jungen und Mädchen
mächtig frustrierte, denn sie waren schon dabei, spezielle Handgriffe für die
U-Bahn zu entwerfen und Schirme für Armlose.
Ich musste ihnen sagen, dass es
dafür schon genug andere Design-Begriffe gebe und dass vielleicht solche
Schirme Handicapierten zwar entgegenkommen mögen, aber für unsereins mit Armen
nicht gerade praktisch seien und lächerlich aussähen.
Meine Bemühungen, einen Qualifikationsbegriff wie Diversity Design zu entwickeln, der vorhandenes
Design in gut und weniger gut unterteilen könnte, und Design, das sich
besonders gut für unterschiedlichste Gebrauchsgruppen eignet, mit einem
Qualitätslabel auszuzeichnen, stiessen nur auf lauwarme Begeisterung. Während
ich zunehmend zufrieden war, meinen Kopf aus der Schlinge gezogen zu haben,
beobachtete ich eine untröstliche Ernüchterung, welcher ich nichts
entgegenzustellen vermochte. Das tat mir ausgesprochen leid, und ich versuchte,
am letzten Tag in der Feedback-Runde unseren Workshop selbst als eine diverse
Veranstaltung zu positionieren, in welcher jede und jeder mit ihren und seinen
je eigenen Erwartungen und Vorstellungen hineingegangen war, ohne genau zu
wissen, was sie oder ihn erwartet, und wo alle auf unsicherem Terrain ihre eigenen
Erfahrungen machen mussten und durften. Ich selbst war eigentlich in jenem Moment
überzeugt, einen wesentlichen Beitrag zu einer Begriffsbildung geleistet zu
haben, musste aber einsehen, mich hier im winterlichen Beijing im völlig
falschen Film befunden zu haben.
© Nikolaus Wyss
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