Mittwoch, 27. Februar 2019

Stägeli uuf, Stägeli ab juhee (Tagebuch 2)

In Fortsetzung der ersten Tagebuchauf-zeichnungen im Blog-Format folgt hier nun die zweite Ausgabe meiner kleinen Einträge. Diesmal ohne Fotos. 

6. Februar
Heute hat mich wieder meine Poesie-Muse Miguel Angel aufgesucht. Er sei am Schreiben seiner Familiengeschichte und schlüpfe dabei als Erzähler abwechselnd in die Person seines Onkels, seiner Mutter und seiner selbst. Ich konnte nicht umhin, ihm von meiner Lektüre des genialen Romans La Oculta zu berichten, den er zu meinem Erstaunen nicht gelesen hat. Der Autor Hector Abad entwickelt dieses grossartige kolumbianische Familienepos unter Verwendung dreier Erzählfiguren. Es sind die drei Geschwister, die in je unterschiedlicher Weise auf ihre eigene Geschichte, auf die Geschichte des Familiensitzes Oculta und die Geschichte Kolumbiens blicken. 
Als ob wir in einem Besserwisser-Modus befunden hätten, hielt Miguel Angel wenig später mit dem argentinischen Autor Mempo Giardinelli dagegen, dessen Buch Santo oficio de la memoria die Geschichte einer italienischen Auswandererfamilie nach Argentinien mittels Briefauszügen von dreissig Familienmitgliedern, zumeist Frauen, erzählt.
Daraufhin bestellten wir zum zMittag vom Italiener eine Pizza.

7. Februar
Abschiedsessen unseres mehrwöchigen Gastes K. Sie lud uns in ein besseres Restaurant unserer Wahl ein. Wir schlugen das Chato vor, wo ich zu meiner vollen Zufriedenheit vor einem Jahr meinen 69. Geburtstag gefeiert hatte. Diesmal aber war irgendwie der Wurm drin. Es fing damit an, dass jeder von uns unterschiedliche Menue-Karten ausgehändigt bekam. Später wussten die Kellner die einzelnen Gerichte mit ihren kunstvollen, rätselhaften Namen nicht richtig auszudeutschen. Eine gewisse Nervosität herrschte im Lokal, und eine der Vorspeisen war richtig versalzen. 
Meine Irritation korreliert in solchen Momenten jeweils mit den Ansprüchen, welche ein Restaurant sich selber vorgibt. Unperfekte Bedienung und Essen mit Verbesserungspotential stören mich weiter nicht, wenn Preis und Ausstattung im Rahmen dessen bleiben, den man erwarten darf. Staubig hingegen werde ich, wenn der Selbstanspruch nicht eingelöst werden kann. Als sich ein junger Mann als Socio des Restaurants zu erkennen gab, hielt ich mit Kritik nicht zurück. Darauf wurde die Nachspeise vom Hause spendiert, was ich wiederum sehr professionell fand.

8. Februar
Mein Hausgenosse Johan publizierte kürzlich seinen ersten Kurz-Rap, der in den sozialen Medien einigen Widerhall fand. Damit öffnet er für sich selber ein neues Betätigungsfeld und ich schöpfe für ihn Hoffnung auf eine erfolgreiche Nische. Bereits hat sich bei ihm Hugo, ein Musikerfreund aus Mexiko, gemeldet. Er würde mit ihm gerne einen Song produzieren. Seither lebt Johan in einem kreativen Flow.

Gestern beim Abendessen im Primitivo gab ich Johan zu möglichen Textideen meinen Senf dazu. Besonders tat es mir die folgende spontan entwickelte Geschichte an: Er, Johan, sei die Königin des Pazifik, schlug ich vor, Patin dreier Wale, die sich jeweils im Sommer in einer Bucht in der Nähe von Buenaventura einfinden würden. Als Bootsführerin würde sie mit Touristen aufs Meer hinausfahren und warten, bis sich die drei Gottenkinder namens Gorda, Marica und Mara einfinden und ihr aus Dankbarkeit mit viel Geschnaube und Flossenwackeln ein Tänzchen vollführen würden. Das gebe dann von berührten Touristen Extra-Trinkgeld. - Ich weiss nicht, ob Johan diese spinnerte Idee begeisterte, ich glaube, er rappt lieber von sexuellen Wirrköpfen und von der Diskriminierung von Schwarzen und Transsexuellen, die sich mit aufreizenden Songs an der Gesellschaft rächen. Mein Problem: ich verstehe schon rein akkustisch und wegen der Geschwindigkeit der Wortfolge Rapp-Lyrik kaum, weder auf Englisch noch auf Spanisch. Noch schlimmer: ich mag schon gar nicht hinhören, wenn Johan unter der Dusche oder wo auch immer sämtliche Texte von Nicki Minaj oder Travis Scott runterzuraspeln vermag. - Wobei: der folgende Song gefällt mir auch, und die durchaus anstössige, wenn auch total nachvollziehbare Lyrics verstehe sogar ich: Wake up von Travis Scott.

9. Februar
Beim Frühstückstee und beim Parfum bin ich heikel. Finde ich keinen Nachschub für meinen vietnamesischen Silver Sencha, so ist der Morgen schon ziemlich aus dem Lot. Und geht mein teures Chanel Bleu zur Neige, so fühle ich mich schon ziemlich nackt. 
Ich meinte schon, eine Zeit der Entblössung sei am Anbrechen, weil ich hier in Bogotá dieses Luxusprodukt einfach nicht finden konnte. Heute aber stiess ich im Shopping Center Unicentro per Zufall auf das begehrte Wässerchen. Erleichtert hielt ich es in den Händen und zückte schon die Kreditkarte, als die stark geschminkte Dame mit aufgeklebten Wimpern mir streng beschied, sie würden nur Bargeld annehmen. Was? In dieser vornehmen Umgebung? Wer führt schon 550.000 Pesos so einfach in seiner Tasche spazieren? An einem Bancomaten müsste man sogar ein zweites Mal nachfassen, weil bei den meisten Maschinen die höchste Bezugssumme bei 400.000 Pesos liegt. 
Ich hatte also die Wahl zwischen Stolz und Bargeldholen. Zu meinem eigenen Erstaunen obsiegte darauf das Nacktsein. Erhobenen Hauptes verliess ich den Laden und kehrte nicht mehr zurück.

10. Februar
Die obige Geschichte ist noch nicht zuende. Heute stiess ich abermals auf Chanel Bleu. In einer anderen Filiale. Auch hier: Bezahlen nur mit Bargeld möglich. Schon wollte ich ein weiteres Mal erhobenen Hauptes das so vornehme Geschäft wieder verlassen, als sich Nubia, die Geschäftsleiterin, vordrängte und mich fragte, ob ich denn nicht schon bald Geburtstag hätte. Ich bejahte, worauf sie mir sofort 10 Prozent Preisnachlass in Aussicht stellte. Der Bancomat stünde grad um die Ecke. Da wurde ich schwach, holte Geld und laufe seitdem wieder unentblösst durch die Gegend.

14. Februar
Schlaflosigkeit ist für mich eigentlich kein Problem. Ich höre mir dann den Podcast der Sendung Diskothek im Zwei an. Sie ist das ultimative Training im Ohrenspitzen. Da diskutieren zwei ExpertInnen und vergleichen Aufnahmen desselben Musikstückes miteinander. Es ist wohl der beste, lehrreichste und spannendste Zeitvertrieb, den SRF auf Kanal 2 zu bieten hat. Je akribischer umso interessanter. Und es reut mich, wenn ich dann doch bei der Aufnahme zwei im dritten Durchgang wieder einschlafe. Wer hat jetzt das Rennen gemacht? - Merkwürdig nur, dass ich am nächsten Tag nicht mehr danach frage und mich viel lieber schon auf die nächste Sendung freue.

21. Februar
Gestern haben wir also meinen runden Geburtstag gefeiert. Wir tanzten zu den Rhythmen einer siebenköpfigen Live-Salsaband die Beine aus dem Leib und verköstigten uns mit einer Hühnersuppe im Stil eines Sancocho. Mit meinen Schweizer Freunden, die den Geburtstag zum Anlass nahmen, nach Kolumbien zu reisen, assen wir zuvor zu Mittag in der Chicheria Demente und gingen anschliessend zur Plaza del mercado del 7 de agosto, um für die Suppe ein paar Gemüse einzukaufen. Die Suppenhühner hatte ich zwei Tage zuvor schon ausgekocht, damit das Fett erkalten und abgeschöpft werden konnte. 
Jetzt bin ich etwas erschöpft. Es ist aber eine zufriedene Müdigkeit.

23. Februar
Vorgestern strahlte das Schweizer Fernsehen eine Dokumentation zum 90. Geburtstag der allzu früh verstorbenen Heidi Abel aus. Ich sah mir auf dem Handy die Sendung in mehreren Etappen an.  
Durch die Fernsehtätigkeit meiner Mutter in den 60er Jahren, in deren Sendungen auch Heidi Abel ihre Auftritte hatte, kannte ich die Fernsehpionierin relativ gut. Heidi plante für den Sommer 1970 eine Auszeit bei einem Guru in Indien und fragte mich, ob ich während dieser Zeit ihr Häuschen in Lützelsee und ihre Katze hüten würde. Sie übergab mir für diese Zeit auch ihren Mini, worauf ich  in ihrem Häuschen einen romantischen Sommer mit dem Brasilianer Luiz Duarte verbrachte, der damals eigentlich der Geliebte eines Swissair-Flight Attentant hätte sein sollen, sich aber Gelegenheiten wie mich nicht entgehen lassen wollte...
Das wohl eindrücklichste Filmdokument zu Heidi Abel wurde leider in der TV-Dokumentation vom vergangenen Donnerstag nicht verwendet und stammt aus dem Dokumentarfilm von Tobias Wyss. Man sieht darin Heidi Abel am Telefon im Gespräch mit einer ihr unbekannten Zuschauerin. Der Anruf kam ungelegen und wäre eigentlich leicht zu beenden gewesen. Aber nein, obwohl Heidi immer wieder darauf aufmerksam machte, dass sie jetzt keine Zeit für ein Gespräch habe, war es gleichwohl sie, die das Gespräch weiterzog und weiterzog und bis zur Erschöpfung des Zuschauers weiterzog. Diese tragische Darstellung von Selbstzerrissenheit dieser schweizbekannten Person bleibt mir bis auf den heutigen Tag in unauslöschlicher Erinnerung.


©Nikolaus Wyss

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