Dienstag, 23. Juli 2019

Ein Freund aus Kolumbien


Mir widerfuhr neulich in Deutschland, was mir in Kolumbien häufig passiert: Meine Herkunft interessiert, und die Kenntnisnahme wird stets mit anerkennenden, staunenden Worten und von Interesse zeugenden Fragen begleitet.
Ich hielt mich also für ein paar Wochen in Deutschland auf. Im Zentrum standen Wiederbegegnungen mit alten Freunden. Wir unternahmen Ausflüge, gingen gemeinsam essen, machten Besuche und nahmen an Veranstaltungen teil. Bei solchen Aktivitäten begegnete ich immer wieder deren Freunde, denen ich regelmässig als Freund aus Kolumbien vorgestellt wurde. Das war so überhaupt nicht abgesprochen. Doch meine Freunde schienen Spass daran zu haben, ihren Freunden einen Überseefreund vorstellen zu können, und sie rechneten sich wahrscheinlich aus, damit mehr Aufmerksamkeit zu erzielen, als wenn ich als Schweizer Pensionär dahergekommen wäre. Die Kenntnisnahme meiner „Herkunft“ provozierte jedenfalls anerkennendes Staunen. Die einen entschuldigten sich für ihr mangelhaftes Spanisch, worauf ich sofort zu verstehen gab, dass ich der deutschen Sprache mächtig sei. Andere erkundigten sich freundlich, ob das Land besser sei als der Ruf, der ihm vorauseilt, und fanden es mutig, dorthin auszuwandern.
Mein Kolumbien-Ruf verdichtete sich an einem Abend bei den Berliner Philharmonikern zu einem vielseitigen, und gleichzeitig verstörenden Erlebnis. Wir hörten eine Haydn-Symphonie, das 4. Klavierkonzert von Ludwig van Beethoven und die 5. Symphonie von Robert Schumann. Am Pult: Daniel Barenboim, am Klavier: Maria João Pires, die kurzfristig für den erkrankten Radu Lupu einsprang. Da meine Berliner Freundin früher bei der Philharmonie in leitender Stellung arbeitete, hat sie auf Lebenszeit für alle Konzerte Anrecht auf zwei Gratiskarten, und in ihrem Schlepptau durfte ich von ihren Privilegien profitieren. In der Pause und nach dem Konzert begleitete ich sie in die Künstlergarderoben und konnte auch die zarte Hand von Frau João Pires drücken und ihr gratulieren zum gelungenen Auftritt. Als Freund aus Kolumbien liess sie mich sofort wissen, dass sie im Oktober in Bogotá zugegen sei, was ich mir natürlich sofort vormerkte. Dann arbeiteten wir uns auch zum in Argentinien geborenen Maestro Barenboim vor, und als Freund Kolumbiens liess ich verlauten, wie gut mir der Abend gefallen habe. Er aber verstand, dass mir Kolumbien so gut gefalle und antwortete mit leerem, glasigem Blick, ja, schönes Land. Dann kamen Geiger und Hornisten dran, und irgendwann stiessen wir auch auf den Bassisten Edicson Ruiz aus Venezuela, von welchem meine Begleiterin erzählte, dieser sei in seiner Jugend in einem Slum von Caracas vor der Wahl gestanden, sich entweder einer kriminellen Gang anzuschliessen oder im Rahmen des einmaligen Sozial-Musik-Projektes El Sistema von José Antonio Abreu, das Cello zu erlernen. Später wechselte er zum Bass und gelangte mit einem Stipedium nach Europa. Jetzt spielt er seit vielen Jahren in der Philharmonie. Dem Freund aus Kolumbien gegenüber fühlte er sich natürlich verpflichtet, sofort auf Spanisch zu wechseln. Nun muss man wissen, dass Venezolaner beim Sprechen kaum ihre Lippen bewegen und in einer Geschwindigkeit daherreden, dass einem Hören und Sehen vergeht. So geschah, was geschehen musste. Ich verstand nichts, antwortete – welche Schmach – auf Deutsch, und kam mir in diesem Moment so unheimlich nackt und überführt vor.

© Nikolaus Wyss

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1 Kommentar:

Unknown hat gesagt…

Herrlich! So kann man sich vor lauter Goodwill in die Nesseln setzen! Das volle Leben als echter Kosmopolit! Latinosuizo! Als Halbfranzösin laufe ich in Frankreich immer wieder auf mit der schnell gesprochenen Umgangssprache. Paris, die essen ihre Worte förmlich, heraus kommt für mein Gehör ein Ratatouille😎Irgendwie beschämend für mich.....Dennoch:Was für ein Glück...