Dienstag, 16. Juli 2019

Dein Platz, liebe Mutter

Die Esplanade Laure Wyss umgittert: der Rasen braucht noch seine Zeit. Aufnahme Juni 2019

Liebe Mutter
Es ist ja schon eine Zeit lang her, seit ich dir das letzte Mal geschrieben habe. Vor 20 Jahren vielleicht? Damals hast du im fortgeschrittenen Alter noch e-mailen gelernt. Rund um deinen nigelnagelneuen Mac lagen Zettelchen, auf denen du dir die einzelnen Handgriffe notiert hast. Affenschwanz: G/@, links alt/option; Internet: Safari aktivieren, www-Adresse in oberste Leiste und so weiter. Manchmal wusstest du aber nicht mehr, wofür dieser Affenschwanz überhaupt nötig war, und so wollten deine Sendschreiben einfach nicht losgehen. Da war dir der Fax vertrauter. Dort konntest du ohne viel Federlesens Handschriftliches versenden. Einige dieser Fernschreiben habe ich noch aufbewahrt. Allerdings sind sie bis zur Unleserlichkeit verblichen.
Mit meinem heutigen Schreiben möchte ich dich über die Eröffnungsfeier der Esplanade Laure Wyss orientieren, die deine Heimatstadt Biel/Bienne am 17. August 2019 veranstalten will. Vielleicht hast du ja Lust, ein bisschen über der Veranstaltung zu schweben und zu beobachten, wie dein Platz von der Bevölkerung aufgenommen wird.
Ja, du hast es geschafft – auch wenn es wohl nicht unbedingt dein Ehrgeiz war, in Biel deinen Platz zu bekommen. Dein Sinn stand wohl eher nach Zürich ... Es war aber der Wille einiger politisch engagierter Frauen, die sich seit Jahren dafür einsetzen, in Biel die Rolle der Frau in Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft sichtbar und erlebbar zu machen. Sie gründeten den Frauenplatz Biel und organisierten im Vorfeld des Frauenstreiks Führungen durch die Stadt und weisen nun mit der bevorstehenden Eröffnung deines Platzes einen erheblichen Erfolg auf.
Da ich selbst am Eröffnungstag nicht zugegen sein werde, hatte Gemeinderätin Barbara Schwickert die Liebenswürdigkeit, mich zusammen mit deiner Nichte Elisabeth und deinem Neffen Tobias mit seiner Frau Annemarie zu einer Vorbesichtigung einzuladen. Sie kam in Begleitung des Leiters Hoch- und Neubau, Werner Zahnd. Treffpunkt war unter dem Vordach des Kongresshauses, und wir hatten uns dafür wohl den heissesten Tag des Jahres ausgesucht.
Diese langgezogene Esplanade ist ein Dreiteiler. Der erste Teil der Flucht bildet das Flachdach eines unterirdischen Parkhauses: eine Betonfläche mit neckischen Vertiefungen, wo sich Pfützen bilden dürfen. Dann kommt, einem Riegel gleich, die Coupole. Dieser Gaskessel ist das älteste autonome Jugendzentrum der Schweiz, wo seit über 50 Jahren Konzerte, Versammlungen und Veranstaltungen stattfinden. Als Journalist musste ich einmal eine Reportage machen über diesen Chessu. Das ist aber lange her. In Erinnerung bleibt mir nur noch das Gefühl der Klaustrophobie.
Und dahinter fängt dann dein Teil an, liebe Mutter: eine Rasenfläche mit ein paar bepflanzten Hügelchen, zum Zeitpunkt der Besichtigung eine noch recht fragile Fläche, an deren linkem Rand eine Häuserfassade dominiert mit spitzen Balkonen. Ich befürchte, sie würde dir nicht gefallen. Auf meinen Führungen durch Schwamendingen, wo wir auch immer wieder scheusslichen Fassaden begegnet sind, pflegte ich jeweils zu sagen, dass diejenigen, die darin wohnen, diese ja nicht sehen müssen. Sie haben im Falle von Biel Aussicht auf deinen Platz, können beobachten, wie die Bevölkerung die Fläche langsam in Beschlag nimmt, sie mit eigenen Aktivitäten ausfüllt. Und es dürfte nicht allzu lange dauern, bis die Polizei an milden, langen Samstagabenden wegen Lärmbelästigung herbeigerufen wird, um etwas Ordnung zu schaffen. Dies hingegen dürfte dir gefallen, die gemütliche Störung bürgerlicher Wohlbestalltheit.
Das wärs auch schon. Ich hoffe doch sehr, du lässt es dir im Jenseits gut ergehen. Ich spüre auch schon einen Sog in jene Richtung. Wir sehen uns.
Dein Filius
 





1 Kommentar:

Nikolaus Wyss hat gesagt…

Auf facebook habe ich für diesen Blog-Eintrag unter anderen folgende Kommentare bekommen:
- Das berührt mich, dein jetziger Brief. Und ich gratuliere zu diesem Ehrenplatz (Wuwi Erhardt-Stierli)
- Ob dieses magere Plätzchen deiner Mutter gerecht wird? ich habe sie aus ihren Büchern anders in Erinnerung. Mir ist meine Erinnerung lieber (Kit Burri)
- Hat mich sehr berührt, schöner Text! Sie war eine eindrückliche Persönlichkeit! Alles Liebe (Christine Hiwet-Waser)
- Klar ist das toll in Biel. Und Zürich kann gerne nachziehen oder Stadtpräsidentin Corine Mauch?
- So lieb (Kathrin B. Spühler)
- Sieht nicht schlecht aus (Zina Hess)