Montag, 30. November 2020

Der Romanshorn-Test

Der Romanshorntest in der Pilotphase. Beobachter halten sich versteckt und verteilen Punkte. Hier Testperson Nr. 27 (Romi Wintsch) vor einer Skulpur im Romanshorner Stadtpark. (Foto: Dorothee Hess)

Dazu muss man wissen, dass ich in den späten 1980er Jahren eine Zeitschrift herausgegeben habe, die sich Dr. Bockler’s Kulturmagazin nannte. Mit durchaus gewolltem, falsch gesetztem Genitiv-s. Ein total erfolgloses Unterfangen, das es lediglich auf sieben oder acht Ausgaben brachte, ich weiss es nicht mehr so genau. In der ersten Ausgabe zum Beispiel berichtete der bekannte Zürcher Psychiater Mario Gmür von einer abenteuerlichen Flussreise auf dem Amazonas, bei welcher sein Boot zu lecken anfing. Nur mit grösster Mühe und in allerletzter Minute erreichten er und seine Schicksalsgenossen schwimmend das rettende Ufer.

Auch eine Idee fürs Heft war, über den ganzen Erdball verteilt ein Korrespondentennetz aufzuziehen, von wo Leute über ihren persönlichen Alltag berichten konnten, über ihre Hobbies, Nöte, Leidenschaften und Essgewohnheiten. Damals gab es noch kein Internet. Wir rekrutierten Berichterstatter über Goethe-Institute oder British Councils in Pakistan, Indien, in Tansania und Buenos Aires. Noch existiert irgendwo in einem Keller in Zürich ein Ordner mit dieser Korrespondenz aus aller Welt. Doch ich weiss nicht mehr, wie viele von den Kontaktierten dann auch wirklich Beiträge schrieben, die wir publizieren konnten. Das Projekt lebte wohl mehr von guten Absichten als von wirklich Realisiertem. 

Der Name Dr. Bockler’s übrigens war auch so eine Sache. Ich wohnte zu jener Zeit an der Bocklerstrasse in Zürich-Schwamendingen, und ich hielt es irgendwie für reizvoll, dieser Strasse eine fiktive Persönlichkeit zuzuordnen, nach welcher diese Strasse benannt sein soll. Ich erfand deshalb eine Figur dieses Namens, einen etwas verschrobenen, älteren Arzt, der aber zu seiner Zeit durchaus seine Verdienste hatte. Er galt nämlich als Entdecker des Alltags. Ich übertrug ihm auf seine alten Tage gleich noch die Präsidentschaft des Vereins für Hobbypsychologie. Ich selber fungierte dort als Aktuar und druckte in jeder Ausgabe von Dr. Bockler's die mir aus den Fingern gezogenen Protokolle der Vereinsversammlungen ab. – Wichtigstes Kriterium für die Mitgliedschaft war, keinen psychologischen Abschluss vorweisen zu können. So fanden abstruse Gedanken und krude Behauptungen Eingang in diese Protokolle. Die Zusammenkünfte selber hielten sich ans Muster eines Rotary-Clubs. Im Rahmen der monatlich stattfindenden Mittagessen referierte jeweils ein Mitglied über einen Casus. So kam es, dass eines Tages die Alternative zum Rorschach-Test zum Thema wurde.

Der Vorteil des Romanshorn-Tests besteht in seiner Wirtschaftlichkeit. Statt wie beim Rorschachtest im Einzelgespräch Klackstafeln zu präsentieren und zu interpretieren, fällt beim Romanshorntest diese Art von Anamnese im Sprechzimmer weg. Stattdessen gibt es Massentests. Diese verlaufen so, dass alle zu untersuchenden Personen an einem bestimmten Tag mit dem Zug nach Romanshorn reisen, ein Nummernschild ausgehändigt bekommen und versuchen, am Ort die Zeit totzuschlagen. Heutzutage könnte man die Bewegungen der einzelnen mit Handysignalen aufzeichnen, damals aber, als der Test lanciert wurde, mussten einheimische Beobachterinnen und Beobachter rekrutiert werden, welche sich die einzelnen Handlungen und Bewegungen der Testpersonen notierten.

Jeder Ort besitzt ein bestimmtes Profil, das sich in grünen Punkten ausdrücken lässt. Auch die Aufenthaltsdauer der Getesteten generiert Punkte, allerdings in einer anderen Farbe, gelb zum Beispiel. Des weiteren wird beobachtet, ob sich die Person alleine auf den Rundgang begibt oder in Begleitung anderer. Auch das gibt Punkte, diesmal rote. Es treten auch Provokateure auf, Besoffene zum Beispiel, oder eine alte Frau, die sich nicht über eine stark befahrene Strasse traut. So bekommt Romanshorn ein buntscheckiges Profil von Punkten, das sich gleichsam automatisch auf die Testpersonen abfärbt, je nachdem, wie sich diese verhält. Zum Schluss hätte man dann die neurotische Disposition eines Menschen, seine Stärken und Schwächen auch, feststellen können. Das Farbsystem birgt zudem den Vorteil, dass es bereits der Erkenntnis Rechnung trägt, dass es verschiedene Arten von Neurosen gibt: rote, blaue, violette, grüne... Wenn Dr. Bockler’s weiter existiert hätte, hätte man die Pilotphase wohl ordentlich zu einem Ende bringen und darüber in einer nächsten Sitzung des Vereins für Hobbypsychologie detailliert berichterstatten und eine Patentierung des Systems in Aussicht stellen können. Leider ist es nicht mehr dazu gekommen.  

© Nikolaus Wyss

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