Sonntag, 29. November 2020

Bockler-Blues

Bild: Christian Altorfer

 

Am Samstag, 4. Juni 1994, beging unsere Genossenschaftsbuchhandlung Bücher-Treff Schwamendingen (1984-2005) an der Winterthurerstrasse 495 ihr zehnjähriges Bestehen mit einem Fest. Vor dem Lokal wurden Tische und Bänke aufgestellt. Grosse Schirme und Plachen schützten vor der heissen Sonne. Das Programm begann mit einem Literaturzmorge. Kaffee und Tee wurden ausgeschenkt. Es gab selber gemachten Zopf und Kuchen. Auf Tischen lagen haufenweise antiquarische Bücher zum Verkauf bereit.

Um 10.30 Uhr lud die Künstlerin Ingeborg Lüscher zum Bücherstechen ein, einer unterhaltsamen Art des Orakelns. Erstaunlich, wie wahrhaftig und treffsicher sich die Sätze erwiesen, die das Publikum in den zufällig ausgewählten Büchern mit einem spitzen Messer aufspiesste. Daraus entwickelten sich einige Gespräche, die sich für einzelne als ziemlich bedeutsam erweisen sollten.

Über Mittag servierten dann die Teilnehmenden des Kochkurses, den mein damaliger Freund Geok-Chai Pang aus Malaysia durchgeführt hatte, für 20 Franken Daging Curry, Sambal Prawns, Nyonya Penang Chicken Curry und andere Köstlichkeiten. Dafür musste man sich aber zwei Tage vorher angemeldet haben.

Um 14.30 Uhr schliesslich las die japanische Schriftstellerin Yoko Tawada, deren witzigen Texte Beobachtungen von den kulturellen, semiotischen und semantischen Unterschieden zwischen dem Japanischen und der deutschen Sprache handeln.

In der Nacht zuvor jedoch erklang der Bockler-Blues. Die Veranstaltung wurde als volkskundlich-schräge Mitternachts-Performance angekündigt. Im Spritzenhäuschen beim Parkplatz auf der anderen Strassenseite, dort, wo sich die Bocklerstrasse mit der Hüttenkopfstrasse kreuzt, dort, wo einmal im Jahr die Kleintierschau stattfand mit preisgekrönten Hasen, Schafen, Ziegen und Hühnern, dort drin wurde von den Nüsslis aus Hüttwilen eine Tribüne errichtet mit Blick auf die Strasse. Darauf fanden vielleicht 60 Zuschauerinnen und Zuschauer Platz. 

Bild: Christian Altorfer
Die Nachbarschaft wurde auf den Anlass wie folgt vorbereitet: «… Auch wenn wir Lärmbelästigungen möglichst vermeiden wollen und weder Chilbi-Betrieb, verstärkte Musik noch allgemeines Besäufnis angesagt sind, könnte es zwischen 23 Uhr und 0.30 Uhr doch zu kurzfristigen Lärm-Immissionen kommen, wofür wir Sie um Entschuldigung bitten. Wir raten Ihnen deshalb, in dieser Nacht zur obgenannten Zeit entweder das Fenster geschlossen zu halten, oder aber selber vorbeizukommen und an dieser, mit allerlei merkwürdigen Überraschungen gespickten Geisterstunde teilzunehmen. Der Eintritt ist frei, zur Unkostenreduzierung wird zum Schluss eine Kollekte durchgeführt…»

Bild: Christian Altorfer
Wenn ich noch wüsste, was in dieser Nacht alles abgelaufen ist. Draussen auf der Strasse stand jedenfalls ein bunt geschmücktes Bett mit Baldachin. Jemand musste dort während der ganzen Aufführung schlafen. Lediglich mit Schnarchen sollte er sich ab und zu bemerkbar machen. Zum Schlussapplaus erhob er sich und schloss das Tor zum Spritzenhäuschens. Dann gab es linkerhand eine schwere, metallene Klangwand von Valentin Altorfer mit vielen Ein- und Ausbuchtungen, an welcher sich Lucas Niggli, der mittlerweile zur ersten Garde der Schweizer Schlagzeuger-Community gehört, akkustisch abarbeitete. Zum Interview eingeladen war auch Marta Emmenegger, die damalige Sex-Päpstin beim Blick. Dann war ein kleiner Chor zugange, der Cervelats grillte und dazu sang. Es gab Tanzeinlagen und auch Gedichte der Lokallyrikerin Elsbeth Putre-Wild. Ich glaube, wir rollten auf der Strasse auch noch einen roten Teppich auf, wo Jemand während der ganzen Zeit versuchte, einen Blumenstock so zu positionieren, dass es irgendwie passte, was ihm aber während der ganzen Performance nicht gelingen wollte. Ach ja, da war auch noch Nachbarin Barbara Reinthaler, die Unterschriften für eine Wohnstrasse im Quartier sammelte, während zwei junge Frauen mit ihren Rhön-Rädern kunstvoll ihre Runden drehten. Ich selber steuerte mit irgendwelchen Kindertäschli auch noch etwas zur Performance bei. Doch frage mich bitte niemand, wie das genau ablief.

Ich glaube, niemand konnte so richtig etwas anfangen mit diesem nächtlichen Spuk, und ich hatte für die Aufführung auch keine richtige Erklärung bereit. Doch irgendwie fand der Anlass statt, es gibt sogar Fotos davon. Nach einigen Tagen Katzenjammer begann ich schon davon zu träumen, wie der Bockler-Blues ein nächstes Mal aussehen könnte. Ideen dafür hatte ich schon zur Genüge, und Lucas Niggli schickte mir eine Dankeskarte mit den Worten: «Welch toller Blues!!! S’hett niemert greut, mi hets freut!»

Bild: Christian Altorfer

Bild: Archiv Nikolaus Wyss


© Nikolaus Wyss

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