Montag, 29. Mai 2017

#instagramistscheisse

Im folgenden Text bestätige ich, dass Instagram stresst und unglücklich macht. Gleichwohl interessiert es mich, damit Erfahrungen zu sammeln.
In Bogotá wohne ich mit einem jungen Mode-Designer namens Johan Danilo Castrillon (@lomaasbello) zusammen. Er ist ein verrücktes Haus und ein bunter Vogel. Er kleidet sich für meinen Geschmack arg extravagant, ja schrill. Wir führen oft lange Diskussionen über Ästhetik und Stil, und er outet sich regelmässig als Liebhaber von kinky stuff, also von Dingen, die jedem guten Geschmack ins Gesicht schlagen. Er ist für mich eine Herausforderung. Es gibt Tage, an denen ich mich regelrecht geniere, neben ihm die Strasse hinunterzulaufen und alle Blicke auf uns gerichtet zu wissen. Ich tröste mich jeweils damit, dass halt kein Gaffer weiss, was für ein herzensguter, bezaubender Mensch er ist – trotz überbordendem Outfit.
Oder ich mobilisiere meine politische Seite und demonstriere durch mein Zusammengehen mit Johan für Toleranz und Akzeptanz. Bezüglich Legalisierung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften übrigens ist das stockkatholische, konservative Kolumbien weiter als die Schweiz: hier garantiert die Verfassung bereits die volle Homosexuellen-Ehe.
Natürlich mache ich mir als eine Art Grossonkel auch Gedanken über Johans Zukunft und rechne ihm vor, dass er mit seinen Verkleidungen alleine wohl kaum überleben wird. Der Laufsteg für solche Paradiesvögel, die aus ihrem unersättlichen Selbstdarstellungsdrang auch noch gutes Geld schlagen, sei sehr klein, doziere ich. – Überdies brauche er für eine internationale Karriere

in den social medias über einen längeren Zeitraum Abertausende von likes von followers, welche dann für Produktewerbung interessant werden. Wir sprechen über Strategien, wie man bei Instagram, Facebook, Twitter und Youtube solche Zahlen erreichen könnte und studieren Karrieren von Modefuzzis, wie diese es geschafft haben, mit extravagantem Posieren erfolgreich zu sein.
Diese Diskussionen führen jetzt dazu, dass ich mich im Sinne eines Selbstversuchs selber einmal in den sozialen Medien breitzumachen versuche, ohne mich allerdings mit rosafarbenden Federboas zu drappieren. Ich lese online-Artikel über Erfolgsstrategien. Dort
werden übereinstimmend ein konsistentes Profil und eine eindeutige Botschaft beschworen, welche am Anfang jeder beachtenswerten Kampagne stehen müssen.
Doch wer bin ich? Was ist mein Profil, das ich vermitteln könnte? Was ist meine Botschaft, damit mir likes nur so zufliegen? – Analyse und Pröbeln haben bislang nur beschränkten Erfolg gezeitigt. Wahrscheinlich habe ich mich noch nicht richtig positioniert - oder ich bin einfach ein Langweiler. Ich biete keine Katzen- und Blumenbilder feil, in meinem Album fehlen Landschaften, Strände, Saufgelage und Wasserfälle. 

Gleichwohl, ich legte mir bei Instagram den Namen @rector_wyss zu in der Absicht, mich als ehemaligen Schuldirektor und wachen Rentner darzustellen, der in Kolumbien auf Entdeckungen aus ist wie weiland Alexander von Humboldt mit seiner Botanisierbüchse.
Ich publizierte entsprechende Fotos und Filmchen und versah sie mit ein paar Stichworten, wie zum Beispiel #rentner #streetart #alltag #sugardaddy #colombia oder #longago. – Letzte Woche gelang es mir immerhin, damit 744 Follower zu gewinnen. Wichtiger aber ist die niederschmetternde Erkenntnis, dass die Meute mich damit unter Druck gesetzt hat. Nichts von Nachhaltigkeit. Liefere ich als Clown vom Dienst nicht jeden Tag drei neue Beiträge, schrumpft die Gefolgschaft gnadenlos dahin. Mittlerweile komme ich nur noch auf knapp 700 Abonnenten, während ich über 3200 die Treue halte. Zugegeben, ein unglückliches Verhältnis, machen mich doch diese Zahlen zum vernachlässigbaren Wurm. Umgekehrt wäre besser. So aber fallen diese Treulosen wieder ab, stündlich. 

Als ich neulich las, dass insbesondere Instagram seine User unglücklich mache und schlaflos, meinte ich zu begreifen, was darunter zu verstehen sei. Vielleicht versehe ich meine künftigen Beiträge eher mit Stichworten wie #glücksuchender, #lassmichschlafen oder #instagramistscheisse. Das schärft mein Profil ungemein und wird mir Tausende von Likes zutragen - oder ich lasse es eben bleiben... 

© Nikolaus Wyss

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1 Kommentar:

Urs Frey hat gesagt…

Sehr schöner Text, Nikolaus. Wenn ich auf Instagram aktiv wäre, würde ich mit Sicherheit zu deinen followers zählen :-) Und wir freuen uns auf den besorgten Rentner und den bunten Paradiesvogel. Bis bald! Urs & Lek