Donnerstag, 27. April 2017

Walter Keller - Der strategische Tabu-Brecher


Walter Keller in einem Video aus dem Jahre 1983
Unter dem Titel "Walter Keller - Beruf: Verleger" ist im Jahre 2019 ein Gedenkbuch über das Wesen und Wirken des Volkskundlers, Ausstellungsmachers, Verlegers und Galeristen Walter Keller, 1953-2014, erschienen. Ich wurde um einen Beitrag gebeten, der sich mit den Anfangsjahren unserer gemeinsam herausgegebenen Zeitschrift Der Alltag – Sensationen des Gewöhnlichen beschäftigt. Hier ist er.

Es liegt in der Natur eines privaten Tagebuchs, darin diejenigen Seiten des Lebens in den Vordergrund zu rücken, welche im Austausch mit anderen Menschen im Alltag zu kurz kommen. Im Tagebuch werden auch Themen, für die man meint, sich genieren zu müssen, angesprochen, während andere, die einem mehr Stolz, Freude und Befriedigung als Sorge bereiten, nur ungenügend ihren Niederschlag finden. Kurz: so ein Tagebuch ist schrecklich subjektiv und wird einem tatsächlichen Sachverhalt kaum gerecht. Vor allem beinhaltet es, leidenschaftlich geführt, viele Tabubrüche.
Walter Keller aber liebte Tabubrüche. Verkürzt kann ich behaupten, sein ganzes Kommunikations-Interesse zielte darauf ab, mit Tabubrüchen zu provozieren und daraus neue Erkenntnisse zu schöpfen mit dem damit verbundenen Risiko, dafür als komisch, verrückt, ungezogen oder frech angeschaut zu werden. Seine persönliche Bilanz war gleichwohl positiv: wer es wagt, spielerisch aber konsequent Tabus zu brechen, übt auch eine Faszination aus und kann Leute, bei Walter Keller handelte es sich meistens um Frauen, in seinen Bann ziehen, eine über Jahre entwickelte, wohlerprobte Strategie. Gegenüber Männern wiederum war seine Freude an Tabubrüchen eine Art Wettkampf und Imponiergehabe, oft mit unerwartetem Gewinn.


 Als kleines, zwiespältiges Hommage an Walter Keller mit Übernamen Möfi, der mich, wie so viele andere, im Verlaufe unserer Zusammenarbeit so manches Mal provozierte und verärgerte und dann wieder charmierte und zu neuen Erkenntnissen trieb, habe ich meine privaten Eintragungen aus den Zeiten unseres Zusammenwirkens (1974-1984) zu Rate gezogen und bringe daraus im Folgenden kommentierte Auszüge. Unsere ersten Begegnungen fanden an der Universität Zürich im Rahmen der Vorlesungen und Seminarien unseres sehr geschätzten Volkskunde-Lehrers, Professor Arnold Niederer, statt.
  
5. Juni 1974

Ein Näherkommen zu Walter Keller, Kommilitone. Germanistik im Hauptfach, Volkskunde im Nebenfach. Wir haben so eine witzspöttische Basis, ganz erträglich, wir geben uns zynisch. Aber er spricht zuviel von Frauen. Wie er etwas verdrängen müsste oder überkompensieren.

9. Juli 1974

Was in der Volkskunde so belastend ist, sind die Schwarmgeister, die Kreuzlistich-Mädchen, dumm und aggressiv, welche Volkskunde  als das nehmen, von dem sie sich entfernen sollte: vom unkritischen Sammeln folkloristischen Gutes, von Sitten und Gebräuchen, von Blut und Boden und Webstuhl. Ich verleg mich immer mehr aufs Fragen. Gestern in einem Gespräch mit Möfi ist mir das so aufgegangen.

19. Nov. 1974

Zu Grafiker Kurt Eckert eine sehr seltsame und sehr intensive Beziehung, auch zu Möfi Keller, aber bei beiden noch so unausgesprochen, noch so stumm, und ich habe angst sie zu verlieren, würde ich zu fest von meinen Neigungen sprechen. Aber es wird nächstens kommen, ich sehe es.

3. Dez. 1974

Ich ging gestern Abend mit Möfi zu Franz Rueb. Der hielt einen Vortrag über die Rolle der Kunst in der sozialistischen Welt. Ich fand ihn miserabel, unpräzis, schwaflig, pseudo. Nachher brachte mich Möfi noch nach Hause. Wir kommen uns langsam näher, sehr langsam, aber hier am Küchentisch hat er doch Einiges vermerkt, was zur Verarbeitung auf uns wartet.

2. Jan. 1975

Möfi war zu Besuch. Wir machten gemeinsamen Spaziergang und assen zusammen. Zum Abschied umarmten wir uns. Hier hat eine Art Zärtlichkeit stattgefunden, nach der ich mich so lange sehnte. Ich bin noch jetzt von der Schönheit dieses Augenblicks überwältigt. Ich erinnere mich an eine meiner ersten Freundinnen, an Monika, die zu uns in die Junge Kirche kam, obwohl sie katholisch war. Ich hatte sie sehr gern, und wir waren ein paar Wochen miteinander befreundet. Beim Abschied am ersten Abend ergab es sich, dass wir uns flüchtig streiften, dass mir aber diese Streifung, so flüchtig sie auch sein mochte, Dimensionen  öffnete und die Beziehung auf eine neue, offene Ebene setzte, die nichts zu bezweifeln übrig liess. So bei Möfi, es war eine Art Stempel, das sind wir, wir haben uns, das haben wir gemeinsam, so ist es. 

Um es auf den Nenner zu bringen, meine Beziehung zu Walter Keller startete mit der fulminanten Fehleinschätzung, aus uns könnte etwas werden. Später wurde ja gleichwohl noch etwas aus uns, wenn auch nicht so, wie ich es mir zu Beginn erhofft hatte. 

5. Jan. 1975

[...] Ich freue mich auf Möfi, wir wollen einen gemeinsamen Spaziergang unternehmen....

[...] Am Abend: Vielleicht ist es typisch, aber Möfi kam nicht. Ahnte er, dass es zwischen uns heiss werden könnte? In mir macht sich eine leise Verkrampfung breit.

[...] Ich fühle mich allein. Ich möchte, dass mir jemand telefoniert. Ich beschwöre recht eigentlich das Telefon, es möge läuten.

Das Durchblättern des Telefonbüchleins ergibt nichts, eigentlich möchte ich jetzt nur mit Möfi sprechen. Dem rufe ich aber nicht an, er soll sich melden. Das sind so die Regeln, an die ich mich halte.

2. Feb. 1975

[...] Die Ernüchterung am letzten Donnerstag. Ich schrieb ihm doch  ein paar Zeilen, die ich für bedeutend hielt. Es fiel ihm nichts dazu ein. Er habe sie nicht verstanden.

Sowas macht mich enorm stutzig. Es macht mich auch hässig. Weil meiner Meinung nach dahinter „Politik“ liegt. Er wollte nicht darauf eingehen, obwohl er sehr wohl verstanden hat, um was es ging. Aber er wich aus, nahm die Herausforderung nicht an, genau das, was eigentlich auch der Inhalt dieses Briefes darstellte.

Ausweichler.


22. Feb. 1975

[...] Ich habe heute Abend das Studenten-Theater besucht, wo Möfi auftrat. Das Leide bei solchen Aufführungen ist die stete Überforderung der Akteure!

Ich habe mittlerweile zu Möfi einige Distanz gewonnen, die ihn vielleicht veranlasst, Schuldgefühle (aber wahrscheinlich nur auf der verbalen Ebene) zu hegen. Er sagt jetzt immer: ich telefoniere dir dann, wir müssen  uns sehen, etc.  Passieren tut nichts. Er fühlt sich gezwungen, mir gegenüber so zu agieren. – Ich kenne seine Gefühle nicht. Und ich befürchte, er kennt sie selber nicht so recht. Dadurch wird er unberechenbar und untauglich für eine Freundschaft, in der man sich „auf den anderen verlassen“ kann.

6. März 1975

Ich hatte vor einiger Zeit Möfi einen Brief geschrieben, der „nicht ankam“ im Sinne von nicht „einfahren“, „keinen Sinn gehabt haben beim Empfänger“. Ich schrieb darin von der Blödheit  in unserer Beziehung. Wir würden nicht die Tiefe erreichen, wo das Vormachen keinen Platz mehr einnehmen würde. Auf unserer Reise kürzlich nach München musste ich mich Möfi gegenüber immer zusammennehmen. Er forderte (wie bewusst auch immer) eine bestimmte Tonart, ein Über-der-Sache-Stehen, wo keine Ehrlichkeit und keine Leidenschaft möglich sind. Ev. Anflüge von Tieferem bei mir wurden sanktioniert und ins Lächerliche gezogen. Ich hatte Angst, jegliches Vertrauen zu verlieren. 

Es gibt in der Folge noch ein paar Eintragungen dazu, die hier aber keinen neuen Erkenntnisgewinn bringen. Deshalb lasse ich sie weg. Bei mir passierte gegenüber Möfi in der Folge so etwas wie ein Reset, ein Zurückstellen auf Null. Gleichzeitig wuchs mein Interesse am Alltag als Gegensatz zu Aussergewöhnlichem. Und hier traf ich mich mit Möfi wieder. 

20. Okt. 1975

[...] Im Kursbuch 41 gelesen:

«Die Zivilisation begibt sich auf den langen Marsch. Was sie hinter sich lässt, ist Alltag.» (Karl Markus Michel) – „The Last Picture Show“ – Ich sah den Film zum zweiten Mal und fand ihn sehr stark. Seit ich den Alltag- Gedanken präziser fassen kann, sagt mir dieser Film noch mehr. 

Ich fing an, mich parallel zum Volkskunde-Studium mit der Realisierung einer Talk-Show zu befassen, in welcher „gewöhnliche Menschen aus dem Alltag“ ihren Auftritt haben sollten, ganz nach dem Motto: Je sensationeller umso langweiliger und je gewöhnlicher umso interessanter. Möfi war sehr irritiert, dass er bei diesem Vorhaben nicht vorgesehen war. Die erste Serie hiess „Wyss-Talk-Show“, die späteren Staffeln hatten dann auf Drängen Möfis „Die Schule des Alltags“ im Titel mit der Option, dass auch er ab und zu Talks-Shows durchführen dürfe. 

Mittwoch, 26. Oktober 1976

Was möchte ich die Leute in der Talk-Show fragen? – Was sie von morgens bis abends tun? Womit sie ihr Leben verdienen und ob sie es sich so erträumt haben? Davon ausgehend interessieren mich ihre konkreten Ansichten zu verschiedenen Fragen, die sich aus ihrer Arbeit oder aus der Tagesaktualität ergeben. Wie habe ich das zu formulieren? Wie kleide ich das in gängige und anregende Fragen und Bemerkungen? – Ich muss mich als Interviewer testen. Frage ich überhaupt, oder lasse ich einfach sprechen, was immer im Augenblick angesagt ist? 

Donnerstag, 4. Nov.

Die erste Talk Show ist vorüber. Mässiger Erfolg, aber doch so, um weiterzumachen. Bin zwischen Nervosität und glücklicher Pläneschmiederei. Stecke ganz stark in einem Ablauf drin. 

Es folgten weitere Talk-Shows. Sie fanden im Studenten-Theater an der Rämistrasse statt und brachten einen bunten Strauss unterschiedlichster Erfahrungen hervor. Es waren Kioskfrauen auf der Bühne, Wirtinnen, Strassenwärter – alltägliche Leute eben. Möfi sass im Zuschauerraum. Die Organisation der Abende bereitete mir Mühe, studierte ich doch noch daneben, schrieb an meiner Lizentiatsarbeit und musste mein Geld als Co-Therapeut in einer kinderpsychologischen Praxis verdienen. 

Montag, 2. Mai 1977

[...] Schlechte Nacht verbracht. Gestern besuchte mich Möfi und überraschte mich mit einem Zeitungsprojekt, das mich ganz nervös machte. Schon blöd, wie sehr ich mich engagiere für solche Sachen. 

Es war noch nicht „Der Alltag“, der damals zur Debatte stand. Was mich aber für die Idee, ein Heft zu entwickeln und herauszugeben, einnahm, war die Begeisterung Möfis, ein solches Projekt, wie immer es aussehen mochte, an die Hand zu nehmen. Ich erinnere mich gut, wie ich ihm damals zur Anregung unserer Debatte Exemplare von Andy Warhols „Interview“ zeigte, die ich aus New York mit nach Hause genommen hatte. Mich faszinierte Warhols Attitude, mit Polaroid-Fotografien und ellenlangen, unredigierten Gesprächsprotokollen eine ganz spezifische Echtzeit-Stimmung zu schaffen, welche den Geruch des Alltags in sich trug. Während Warhol sein beiläufiges Interesse an New Yorker Künstlern labte und mit seinen eigentlich langweiligen Interviews die Banalität eines Lebens im Scheinwerferlicht aufzuzeigen vermochte, kombinierten wir in der Folge diese Technik mit dem Schatz, der sich in meinen/unseren Talk-Shows „Die Schule des Alltags“ allmählich akkumulierte. Wir verfertigten Transkriptionen der Gespräche, sie waren der Humus, der zur Zeitschrift „Der Alltag – Sensationen des Gewöhnlichen“ führte.

In den folgenden zwei Jahren unterbrach ich zu meinem heutigen Leidwesen das Tagebuchschreiben. Für mich ein untrügliches Zeichen, dass Produktivität und Zufriedenheit in einer guten Balance zueinanderstanden und keiner weiteren Aufarbeitungen und Klagen bedurften. Mein Liebesleben war geregelt, ich beendete mein Studium mit Höchstnote, Möfi begann im Frühling 1977 mit der Co-Moderation der „Schule des Alltags“, welche übrigens vom Studententheater ins Theater an der Winkelwiese hinüberwechselte. Ich war sehr froh um seine Begeisterung und Hilfe, auch wenn ich mich anfangs für seine Art der Gesprächsführung nicht erwärmen konnte.

Bis die Zeitschrift unter der präzisen Mitarbeit des Grafikers und Typographen Kurt Eckert ihre anfängliche Gestalt annahm, gab es eine Art Zwischenspiel. Zum 65. Geburtstag meiner Mutter, Laure Wyss, gab ich nämlich im Frühsommer 1978 eine Festschrift mit dem Titel „Der Festtag“ heraus, welche ich aber flink schon mal als „Sondernummer des Alltags“ bezeichnete, auch wenn zu diesem Zeitpunkt noch gar kein „Alltag“ publiziert worden war.

Während sich Möfi eher von der Radikalität des publizistischen Ansatzes und von der Chance auf Tabubrüche begeistern liess, war mein Fokus journalistischer: wie kann sich ein Produkt auf einem Markt etablieren, das nichts als grauen Alltag verkündet? Wie sehr kann Alltag attraktiv dargestellt werden, ohne dabei sein eigentliches Wesen, nämlich seine diffuse, sensationslose Langeweile ohne Anfang und Ende, zu verraten?

In Erinnerung an jene Zeit bleibt mir, dass Möfi nur sehr sporadisch auftauchte und sich dann mehr für inhaltliche Fragestellungen interessierte als für die grafische Umsetzung, sprich Layout, für die Logistik, für die Aboverwaltung und für das weitere Drum und Dran, was mich zur Überzeugung verleitete, der eigentliche Herausgeber dieser Zeitschrift zu sein, während mein Juniorpartner Möfi zwischen zwei Rendez-vous seine Kommentare abgab und dann wieder verschwand. Ach ja, er war ja zu dieser Zeit auch noch Assistent am volkskundlichen Seminar, mein Nachfolger dort. 


Dann aber schreibe ich plötzlich am 22. September 1979: 
[...] Als weiteres Druckmoment lastet „Der Alltag“ auf mir. Irgendwie sehe ich nicht ganz durch, wie es weitergehen soll. Das Echo bleibt aus. Abonnements-Bestellungen tröpfeln nur langsam herein.

Beschäftige mich mit dem Gedanken, anderswo Geld verdienen gehen zu müssen. Mir graut davor.

25. Sept.

[...] Merkwürdig ist nur, dass ich von der Richtigkeit meines Tuns überzeugt bin, eigentlich, wenn ich es mir recht überlege. Aber ich bin wohl momentan der einzige, der das von mir ist. Rundum Kopfschütteln und Stillschweigen, Unlust und Abwendung. – Tödlich ist, dass in mir die Schaffenskraft noch nicht wieder gekommen ist. Ich lasse alles hängen, statt dass ich doppelt fleissig würde. Bin geknickt. Dabei will mich doch niemand in die Knie zwingen. Jeder hat doch sein gutes Recht zu sagen, dass ihn meine Arbeit nicht interessiert.

Mittwoch

Möfi macht gute Talk-Shows. Gestern Discos. Leider wieder wenig Publikum. Aber gute Stimmung.

Sa 3. Nov. 79

Die Zuschauer unserer Talk-Shows können es nicht lassen, zum Alltag der Frau X oder des Herrn Y Verbesserungsvorschläge beizutragen oder gar Vorwürfe zu formulieren. Wie viel braucht’s, ruhig auf dem Stuhl sitzen zu bleiben und einfach zuzuhören, was gesagt wird? Alltag provoziert offensichtlich. Prof. Schenda zum Beispiel war entsetzt, als er hören musste, dass Gemüseproduzenten Ware wegschmeissen, wenn sie nicht mehr ganz den optischen Ansprüchen der Konsumenten entspricht. Andere schlugen vor, man solle doch an die Leute in der Dritten Welt denken... Der Pädagoge in einem selbst. Es ist jedem unbenommen, anderer Meinung zu sein.

So

Obige Gedanken von gestern geben ein Editorial ab in „Der Alltag“. Das Aushalten anderer Wirklichkeiten. Was den Hunger in Kambodscha angeht, gelingt uns das ganz gut, aber wenn jemand in der Nachbarschaft seinem Büsi nicht jeden Tag frische Milch auftischt, ist nicht die Schrecklichkeit des Unglücks massgebend sondern die Nähe dazu...

Freitag Abend, 7. Dez.

Berlin (West). Vor zwei Tagen im Saab meiner Mutter mit Möfi morgens um 6 hier angekommen nach durchfahrener Nacht und einem totgefahrenen Hasen am Kühlergrill. Bei Brigitta und Ingo untergebracht, schöne Wohnung, 4monatiges Kind, Katze, Gästezimmer.

Mein Konzept: „meine Abonnenten“ besuchen. Traf Burkhart Lauterbach und Korff, letzterer leitet das Team für die Preussen-Ausstellung, die 1981 stattfinden soll. Dann traf ich Abmachungen mit Frecot, Kerbs und Blomeyer. Am Abend des zweiten Tages traf ich Michael Zochowicky, der mir Kinos, Theater und Saunen empfahl...

Möfis Programm konzentrierte sich bislang auf den Besuch von Freunden von früher und auf ein Abenteuer. Typisch: er musste für einen Hausgenossen in Zürich einer Marion einen Gruss ausrichten und verbrachte darauf prompt die Nacht bei ihr.



Samstag, 8.12.79

Ingo sagt, der Vorteil vom Alltag sei, dass er in der Schweiz etwas Neues darstelle, hier in Berlin hätte dieser aber Mühe, überhaupt Aufmerksamkeit zu erregen, weil alle so müde von Neuem seien. – Möfi ergänzte dann richtig, dass das Heft in der Schweiz zweifellos eine Novität darstelle, dass aber in Berlin eine sog. Subkultur bestehe, die aber eine potentielle Abnehmerschaft darstelle...

Sonntag, immer noch Berlin

[...] Ich telefonierte Diethard Kerbs, auch Alltags-Abonnent. Lud mich zum Tee ein. Grosse Wohnung an der Schillerstrasse 10, toll viele Kisten mit Katalogen und Papier. Er ist Professor für Kunstpädagogik und interessiert sich stark für Ästhetik und Alltag.

Tolles Gespräch mit vielen Anregungen. Wir schälten drei Ebenen heraus, was das Heft angeht. Wollt ihr, fragte er, lokal bleiben, schauen, wo das Eis Brüche aufweist, den binnenschweizerischen Alltag aufzeigen und analysieren? – Das interessiert Berliner eigentlich nicht oder doch nur am Rande. Das ist für uns Exotik, sagte er (d.h. schob ich ihm in den Mund). Oder wollt ihr theoretisch-analytisch an die Sache ran, also Untersuchungen über Verhaltensweisen und Wechselwirkungen von Lebenssituationen etc.? – Dann wäre das Heft auch hier interessant. Oder etwas für Insider, also für unsereiner, Intellektuelle, wo es darum geht, auch die Widersprüche vom eigenen Denken und Handeln aufzuzeigen, so etwas Nabelschau auch. Das würde ihn auch interessieren. Er z.B. werde sich in den nächsten Ferien eine eigene Aktentasche konstruieren, denn eine solche, wie er sie bräuchte, finde er nicht auf dem Markt. So im Sinne von Tipps und Lebenshilfe für Intellektuelle, denen Reflexion übern Alltag und der eigene Alltag nicht ganz unter einen Hut geht. Je präziser man fassen kann, für wen man ein Blatt macht, umso besser läuft’s. Natürlich gibt es auch Beispiele, erfolgreiche, für Blätter, die aus dem Kriterium der eigenen Interessensgebiete entstehen. Ich antwortete darauf, von diesem Gedanken würde ich schon sehr stark geleitet. Ich interessiere mich mal für all das, und „Der Alltag“ ist in dem Sinne eine Dokumentation meiner Interessensgebiete; weil ich davon ausgehen darf, dass vieles, was mich interessiert, auch andere interessieren könnte. Kerbs gab mir darauf Anregungen mit auf den Weg. Er hat z.B. einen grossen Zettelkasten mit Ideen darin, die er seinen phantasielosen Studenten so rumreicht, Themen wie zB „Polizeifotos“, oder „Gedenktafeln“, oder „Schulwege“ oder „Strassen+ oder“ usw. – Ungeheuer anregend, eine Flut und eine Fundgrube.

22. März 80

Der Besuch bei Markus Kutter in Basel war auch insofern erfolgreich, als dass er mir für den Alltag Fr. 5000.- Darlehen in Aussicht stellte. Markus beriet mich noch wegen Schriftstellern für „Der Alltag“: Muschg, Bichsel, Hansjörg Schneider, Heinrich Wiesner, Marti. Wenn ich die habe, würden auch die andern kommen: Burger, Späth etc.

...Stecke in den Gestaltungsarbeiten einer neuen Nummer von Der Alltag. Ich nehme es ziemlich gemütlich.

Montag

Gestern Telefonat mit Möfi. Er trägt sich mit dem Gedanken, eine Doktorarbeit zu schreiben... Mir scheint das heute in Anbetracht der Informationsflut, die einem in dieser Situation stets sagt, was alles schon geleistet und gemacht worden ist auf dem Gebiet der eigenen Ambition, schön schwer. Möfi brachte dann das Stichwort, das auch Paul Parin verwendet: Vom Widerspruch im Subjekt. Das klang ganz schön an bei mir.

Do

Soll ich weiteres Geld aufnehmen. Soll ich die STEO-Stiftung anfragen? – Mein Verhältnis zu Möfi schlägt mir etwas auf den Magen. Für mich ist völlig klar, dass „Der Alltag“ in meinen Händen bleibt. Möfi darf von mir aus ruhig pro forma den Status eines Herausgebers haben, wenn ihn das befriedigt. ... An der Uni verkauft sich „Der Alltag“ recht gut. Es wurden 20 Ex. nachbestellt.

Mo, 28.4.

[...] Aber da funkt noch die „Der Alltag“-Zusammenkunft von gestern rein, eine sehr merkwürdige Veranstaltung. Anwesend waren Heinz Häberli, Philipp Löpfe, Monika Schäppi, Möfi, Laure Wyss, später noch Jean Odermatt, Petr Simon, Toni Saller. Verena Callaghan. Wir knabberten Nüssli und sprachen etwas über das Heft. Später, als die meisten gegangen waren, schälte sich in einem Gespräch zwischen Möfi, Odermatt und mir eine ziemlich präzise Unterscheidung der verschiedenen Intentionen heraus. Möfi erklärte deutlich, dass er sich eigentlich nur für Alltag interessiere, und dass ihm das vorliegende Heftli bereits zu fest Allerlei beinhalte. Ich habe den Eindruck, als ob er sich jetzt endgültig absetzen wolle.

Sa, 3. Mai

[...] „Der Alltag“ pfeift finanziell aus dem letzten Loch. Er hat überhaupt keine Reserven, und wenn nicht Gelder von aussen kommen, so kracht das Unternehmen nächstens zusammen...
 

In meinen Tagebuchaufzeichnung ist in Bezug auf „Der Alltag“ von permanenter ökonomischer Krise die Rede. Ich schrieb Bettel-Dossiers an Dutzende von möglichen Förderstellen – ohne Erfolg. Langweilig zu lesen aber allgegenwärtig. Finanziell hielt ich mich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, zum Beispiel als Texter beim Jelmoli-Versandhauskatalog, wo ich Mieder und sonstige Frauenwäsche beschreiben und „verkaufen“ musste. Die Hauptdiskussion der Produktmanager bestand in der Frage, ob Korsetts und Tangas getrennt aufgeführt oder auf derselben Seite des Katalogs stattfinden dürften. Die dort gemachten Erfahrungen fanden wiederum in der nächsten Nummer von „Der Alltag“ ihren Niederschlag.

Ich schwankte zwischen Aufgeben und Strategiewechsel. Mir schien der Zürcher Vorort Schwamendingen und die Bocklerstrasse, wo ich lebte und wo sich auch unsere Büros befanden, eine verheissungsvolle und geschichtenträchtige Konkretisierung dessen, was ich unter Alltag verstand. Möfi hingegen vermochte sich für eine lokale Verstetigung und Verankerung nicht zu begeistern und warf mir einen Hang zum Skurrilen vor. In einer Kaskade von Kurzeinträgen, die sich mit dem jämmerlichen, entbehrungsreichen Alltag des „Alltags“ befassen, können folgende Trends herausgelesen werden: trotz existentieller Nöte bildete sich so langsam ein Redaktionsteam heraus, es gab auch Verstärkung in der Administration, wobei es sich tendenziell um Menschen aus dem Dunstkreis Möfis handelte, welche sich jetzt in den Redaktionsstuben zeigten, verflossene Freundinnen zum Beispiel und Menschen, die sich am Wegrand seiner Streifzüge noch so gern aufgabeln und in ein ungewöhnliches Projekt involvieren liessen, was zur Folge hatte, dass sich seine Hausmacht vergrösserte und in mir ambivalente Gefühle aufkommen liess. Einerseits war ich froh, dass sich so etwas wie eine Gruppe bildete, die sich für dieses Heft engagierte, andrerseits kamen Beiträge ins Heft, die ich unseres Niveaus für nicht würdig hielt. Es bildeten sich Fraktionen, und Möfi mutierte allmählich vom gelegentlichen Besucher an der Bocklerstrasse zum Mr. Alltag. Verräterisch mein Eintrag vom 

9. April, 81

Bin nicht sehr unternehmungslustig. Müde. Die Layout-Ambitionen von Möfi strengen an. Ich muss den Stuss dann ausführen. Das regt mich auf. Soll er doch selber machen. 

Ich begann für mich nach Alternativen umzusehen, bewarb mich an verschiedenen Stellen um einen Job, allerdings meistens für Positionen, für die ich wegen mangelnder Führungserfahrungen nicht infrage kam. Gleichwohl war für mich klar, dass „Der Alltag“ nie ein Auskommen für mehrere Mitarbeiter und zwei Herausgeber abwerfen würde. Bei mir zeigten sich Abnützungserscheinungen nach Jahren ökonomischen Darbens, jetzt, wo Möfi im brotlosen Laden mitbestimmen wollte und so richtig Dampf gab. Meine Absetzungs-Versuche beobachtete er mit Argwohn und zettelte seinerseits ohne meines Wissens weitere Projekte an. Wir versuchten aber auch, nicht zuletzt der Repro-Kamera wegen, die wir für teures Geld angeschafft hatten, eigene Projekte zu lancieren. So entstand zum Beispiel das Schwamendinger-Buch, dessen Schwachstelle aber gerade die Qualität der Reproduktionen war. 

So, 12. Juli 1981

Kürzlich Gespräch mit Möfi übers Reifsein. Er sagte, ich sei manchmal überreif. Und meine Rationalisierungen würden zum Himmel schreien.  – Er sieht mich in einem perfekt aufgezogenen Netz-System hier in Schwamendingen, und er wünschte sich, dass ich etwas mehr Herzklopfen und Affären hätte.


Mo
Grundsatzdiskussion mit Möfi über „Der Alltag“. Wie soll dieses Heft weitergeführt werden? Welche Dinge sollen sonst noch damit verknüpft werden? Es gibt so vieles, das zu besprechen ist.  Soll eine Trägerschaft hinter uns stehen? – Wir sind damit noch nicht zu Rande gekommen. Möfis Rolle ist mir auch noch sehr unklar...

Di

Gestern Fortführung der Perspektivengespräche mit Möfi. Vielleicht liegt die Unsicherheit von uns darin, dass wir immer die Zeitschrift in den Mittelpunkt stellen statt unser eigenes Fortkommen. Der Gedanke taucht wieder auf, sämtliche Einnahmen von uns beiden zum Verlag fliessen zu lassen und uns von unserem Verlag eine regelmässige Einkunft auszuzahlen. Der Gedanke ist alt und doch wieder, in der gegenwärtigen Situation, neu.

Di

Gespräche im „Kropf“ mit Möfi und Jean (Odermatt). Im Ganzen zeitaufwendig und demoralisierend. Bezeichnenderweise ist es Möfi dann am wohlsten, wenn er die Runde in die totale Immobilität führen kann. Er ist ein Wirrkopf, der nicht weiss, was er will, ein Schisshas, der sich hinter einer Gruppe verstecken will, heute Abend zweifelte ich streckenweise sogar an seiner Intelligenz. Der Vorrat an Gemeinsamkeiten erschöpft sich allmählich, ich bin mir nicht so sicher, ob er den Ernst der Lage sieht. Nach heute Abend ist meine Gesprächsbereitschaft eingeschränkt, ein solches Gespräch und diese langwierigen Telefonate in letzter Zeit zehren an meinen Kräften. Es scheint, als ob Möfi spielerisch Verschiedenes ausprobieren möchte (wobei er selber nicht genau weiss, was er will), und mich dann verschaukelt. So komme ich mir jedenfalls vor.

Jean leitete diesen Prozess mit der guten, aber fatalen Frage ein, was der eine am anderen beneidet. Mir fiel zu Möfi nur seine Leichtigkeit gegenüber Frauen ein. Möfi hingegen sprach von meiner grossen Integrationsfähigkeit, was mich sehr freute, er sprach allerdings auch noch von meinen Erfahrungen mit Männern (um die er mich beneidet), aber das kann auch perfid gemeint sein.

Dann fing das mit der geplanten Firma an. Meine Formulierung eines Minimalkonsenses fiel nicht auf fruchtbaren Boden, man tanzte lieber um das Goldene Kalb der Gruppe, obschon existentielle Grundlagen dazu erst noch geschaffen werden müssten. Aber als es darum ging, so eine Gruppe mit alltäglichem Leben zu füllen, gefiel Möfi das Modell auch nicht mehr. Shit... 

Merkwürdigerweise existieren von der endgültigen Auflösung meines Arbeitsverhältnisses mit Walter Keller und dem gleichzeitigen Ende unserer Freundschaft keine Aufzeichnungen, was mich heute erstaunt, war es doch peinvoll für mich, allerdings eher im Nachhinein als während des Prozesses. Es muss Ende 1982 gewesen sein, und das Darlehen an Markus Kutter bereits zurückbezahlt, als ich unter erleichtertem Stöhnen von Keller meinen Austritt aus dem Verlag Der Alltag bekanntgab. Gleichwohl gab es noch ein Fest.  

23. Jan. 1983

[...] Vor 14 Tagen ein grosses Suppenessen hier in allen Räumlichkeiten. Über 100 Gäste kamen zusammen, es war eine grosse Freundschaftsdemo, wobei es in meiner Funktion bei Gesprächsfetzen blieb. Ich hatte einfach zu tun. Die Suppe war bald alle, gegen Schluss musste ich sie immer mehr strecken. Unten wirtete Möfi, in der Mitte H.-M. B., und Herr Brunner, erstaunlich zwäg an jenem So nachmittag, hockte die ganze Zeit dabei, später mit Knecht zusammen in meiner Küche. In Erinnerung bleibt auch die herzliche Art Urs Leibundguts. Auch die Liliputs kamen, zumindest Astrid, Julia, Stephan und Beat Schlatter. Marlene und Klaudia waren zu jenem Zeitpunkt in England, um mit Rough Trade zu verhandeln.

4. März 1983

Möfis Vater starb am letzten Montag. Mir kommt der Gedanke, dass ich früher in der Beziehung zu Möfi auch die Rolle des Alten einnahm, und dass in letzter Zeit ich in dieser Rolle symbolisch sterben musste. Was ich für Möfi immer sein mochte, für mich war er so etwas wie ein Junge, ein Sohn, ein jüngerer Bruder, der sich nun mit einem eigenen Leben umgeben hat. Dies war ein langer Prozess, aber erst jetzt wurde es mir gefühlsmässig klar.
Abends: In meinem Seelenhaushalt tritt langsam eine Ruhe ein. Ich muss neue Verbündete suchen für mein Tun und Glücklichsein. Es ist erstens die gefragte Arbeit im Gegensatz zur ungefragten, dass ich also Abstand nehme vom Zwang,  immer das tun zu müssen, was am meisten Widerstand zu überwinden hat, das von niemandem Gefragte, wo nebst der Arbeit für die Realisierung noch Überzeugungs- und Motivationsarbeit der andern anfällt. Von da her ist wohl der Weggang vom „Der Alltag“ genau zu dem Zeitpunkt, wo die Nachfrage wächst, falsch.

Walter Keller wiederum konnte in der Folge von dieser entbehrungsreichen Aufbauarbeit profitieren, trat vollständig aus meinem Schatten und entwickelte sich, umgeben von einflussreichen und vermögenden Persönlichkeiten, zu einem angesehenen Kultur-Initianten. Unser späteres Verhältnis kann nicht einmal mehr als gestört bezeichnet werden, wir mieden uns während Jahrzehnten und haben uns aus der Distanz erst in seinen letzten paar Lebensjahren wieder zugelächelt. 
 
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