Dienstag, 14. Februar 2023

Die letzten Worte


Hauptprobe in Berlins Hitzesommer 2019
 
Alle, die der Sprache mächtig sind und sie im Alltag auch gebrauchen, werden einmal ihre letzten Worte gesprochen oder gehaucht haben. Manche sind sich der Tragweise ihrer Worte bewusst und setzen sie, als Vermächtnis sozusagen, ans Ende ihres Lebens. Oder sie drücken zumindest aus, was sie in diesem Moment empfinden: "Ich sehe Licht" oder "Liebe und Frieden" oder "Dankbar für alles" oder "Gott segne euch". 
    Andere werden von ihrem Ende überrascht, und es reicht vor dem Zusammenbruch vielleicht gerade noch zu einem "shit", oder zu einem ähnlichen Ausruf. 
    Dann kommt es aber auch vor, dass Sterbende kraftlos etwas vor sich hinbrabbeln, dessen Sinn die Angehörigen oder die Krankenschwester oder der Detektiv nicht zu erschliessen vermögen. "Was will Onkel John (oder Tante Mary oder Grossmutter Pricilla) uns bloss noch sagen? - Sag schon!" - Solche Szenen sind oft auch in Filmen zu beobachten, wo es darum geht, ob die sterbende Person kurz vor ihrem Abgang das Geheimnis noch preisgibt und den Bösewicht noch zu nennen vermag. Doch im Interesse des Storyverlaufs nimmt der Moribunde sein Wissen wohl besser mit ins Grab und erwirkt damit bei uns Zuschauern die notwendige Neugier und Spannung, bis zum Schluss und bis zur Auflösung des Rätsels im dunklen Raum des Kinos sitzen zu bleiben.
    Letzte Worte werden später gern zitiert, besonders dann natürlich, wenn sie irgendwie tröstlich ausfallen oder zumindest einen Sinn ergeben. Mir scheint auch, dass Sterbende im letzten Moment oft noch zu Philosophen heranreifen. Ihre Worte sind die Quintessenz vieler gelebter Jahre. - Wikipedia und andere Plattformen beineln das Phänomen der letzten Worte aus bis zum letzten Hauch und versehen es mit vielen Querverweisen. Und richtig: den sieben letzten Worten Jesu oder der doch eher überraschend profanen Bemerkung von Sokrates am Ende seines Lebens, bevor der Schierlingsbecher seine volle Wirkung zu zeitigen beginnt, ist nichts mehr beizufügen. 
    Was mich aber hier im Fortlauf meines eigenen Lebens zunehmend interessiert, ist die Frage, mit welchen Worten ich mich dereinst aus dieser Welt verabschieden könnte, so mir die Möglichkeit dazu geschenkt wird. Wenn ich aus dem Haus trete, überlege ich mir heute schon mal, mit welchen Worten ich mich grad verabschiedet habe. Ich könnte ja bei einem Strassenunfall oder bei einem Überfall zu Tode kommen. Was bliebe dann von mir akkustisch noch im Hause hängen? - Hier in Kolumbien zum Beispiel habe ich mir angewöhnt, für gute Wünsche oft den Lieben Gott herbeizuziehen. Hier sagen auch Ungläubige: Dios te bendiga. Gott segne dich. Wenn ich also zur Tür hinaustrete, rufe ich schon mal zurück: Dios vos bendiga - oder so ähnlich. Damit könnte ich leichten Herzens sterben. 
    Mein Spanisch ist aber lückenhaft, und es kommt allzu oft vor, dass ich meine Sätze nicht korrekt formuliere. Doch ich habe gemerkt, dass das gut ankommt hier und oft auch Anlass zu Heiterkeit und besonderer Aufmerksamkeit bietet. Jahrelang sagte ich zum Beispiel: Lo apreciso mucho, abgeleitet vom Englischen I appreciate it, also: ich wertschätze es. Dabei sagt man korrekterweise hier: Lo aprecio mucho. Seit ich es allerdings richtig sage, fällt der Unterhaltungswert in sich zusammen. Also sage ich weiter und koketterweise lo apreciso mucho und denke, das wären Abschiedsworte, die wenigstens etwas zum Schmunzeln hergäben. Doch als letzte Worte habe ich sie bis heute nicht in Erwägung gezogen. 
    Unter meinen Freunden und Bekannten gelte ich vermutlich als eher cooler Typ, als einer, dessen Leidenschaft sich in Anteilnahme, freundschaftlicher Treue und Vergebung ausdrückt und weniger in Enthusiasmus und Zielerreichung. Darunter habe ich zeitweilig auch gelitten. Aber was soll's. Ändern kannst du es ja eh nicht mehr. Deshalb scheinen mir letzte Worte wie "Das wärs dann" oder, wenn ich dann des Englischen noch mächtig bin: "That's it", für durchaus angemessen. Oder ich sage zum letzten Mal, was ich wohl allzuviel gesagt habe in meinem Leben: "Entschuldigung". Sorry. Was auch immer war, das war es dann, und es ist jetzt gut, so wie es ist. In allen meinen Erinnerungen und Beobachtungen hier im Blog schwingt diese Grundhaltung mit.    
    Nun führen diese Wunschworte fürs letzte Stündchen aber dazu, dass sie mir einen gehörigen Schrecken einjagen, wenn sie mir aus nichtigem Anlass rausrutschen. Was durchaus vorkommt. Seit ich sie als potentiell letzte Worte identifiziere, mache ich jedesmal eine Nahtod-Erfahrung, wenn ich sie gebrauche. So baut sich, je mehr ich mich dem eigenen Tod nähere, ein Tabu auf, das mir wie eine lebensverlängernde Massnahme vorkommt. Ich versuche nämlich, nicht mehr leichthin that's it zu sagen, Entschuldigung. Ich möcht noch etwas Leben. Jawohl. Das wär's. Shit. 
____

© Nikolaus Wyss
____

Und wenn wir schon dabei sind: Las Flores - oder wenn ich sterbe 
___

    

     

    

Keine Kommentare: