Montag, 27. April 2020

Der Musikkritiker



Im Kinderheim "Bergli": Improvisierend am Spinett
Er hiess Markus Müller, wohnte mit seiner Frau an der unteren Zürichbergstrasse nahe der Tramstation Fluntern und sprach Sankt Galler Dialekt. Das Paar war kinderlos. Er rauchte wie ein Schlot, hatte schlechte Zähne und fettiges Haar. Unsympathisch war er deswegen nicht. Für seinen Arbeitsweg den Zürichberg hinunter an die Florastrasse im Seefeld, wo er an der Musikakademie Klavierspielen unterrichtete, nahm er jeweils seinen DKW Junior. Das sei ein fantastisches Fahrzeug, meinte er einmal, nur erzeuge der Zweitaktmotor in Ermangelung einer Motorenbremse bergabwärts keine Wärme. Das sei im Winter zuweilen unangenehm. Dafür heize er beim Heimfahren bergaufwärts umso mehr.

Müller wurde mein Klavierlehrer, weil Ernst Kunz aus Olten, zu seiner Zeit eigentlich ein angesehener Komponist, meine Fingerhaltung nicht akzeptieren konnte. Für ihn musste ich mit gekrümmten Fingern helikoptergleich über den Tasten schweben. Ich aber bekam so in den Handgelenken bereits nach fünf Minuten den Krampf. Meine Mutter sah sich deshalb zu einem Wechsel genötigt, auch wenn ich mir eigentlich wünschte, mit dem Klavierspiel ganz aufhören zu dürfen. Sie aber hielt an der musikalischen Erziehung für mich fest, zumal sie in der Zwischenzeit für teures Geld ein Knight-Klavier angeschafft hatte, das Beste für einen günstigen Preis, millionenfach erprobt in England. Sie suchte jetzt eine Lehrperson, die weniger Wert auf Fingerhaltung legte, umso mehr aber Verständnis einem widerspenstigen Schüler  entgegenzubringen vermochte, der einfach nicht üben wollte. Sie fand in der Person eines gewissen Herrn Müller jemanden, der diese Erwartungen hätte erfüllen können. Aus pädagogischen Gründen nämlich hatte dieser auch Boogy Woogy und Gerschwin-Melodien im Repertoire. Und schon war der Wechsel besiegelt.

Ich glaube, Herr Müller selber war zu meiner Zeit schon ziemlich ausgelaugt und aus der Übung. Wenn er mir etwas vorspielte, so summte er laut dazu, um fehlende Töne zu ergänzen. Leider zeitigte ich aber auch bei Herrn Müller nicht den erhofften Erfolg. Ich war schlicht zu bequem und kam deshalb nicht vom Fleck. Eine der schrecklichsten Erinnerungen bleibt mir gegenwärtig, wie sich eines Nachmittags meine Mutter, die selber nicht Klavier spielen konnte, neben mich ans Klavier setzte und mich ultimativ dazu aufforderte, jetzt endlich einmal mit Üben zu beginnen. Sie starrte auf die Noten und wartete auf meinen ersten Ton. Doch statt ihrem Wunsche zu entsprechen, fing ich an jämmerlich zu heulen. Ich weiss noch heute nicht, wessen Verzweiflung danach grösser war.

Meine Mutter wurmte mein Verhalten nicht zuletzt deshalb, weil ich eigentlich als musikalisch galt. Ich hörte gerne klassische Musik, und ich könnte noch heute Boccherinis Cellokonzert, das ich mir damals mit Pierre Fournier auf einer 33er Schallplatte immer wieder anhörte, aus dem Stegreif dirigieren. Auch Jean-Philippe Rameaus Hof- und Tanzmusik hat sich unauslöschlich bis auf den heutigen Tag in meinem musikalischen Gedächtnis eingraviert. Doch Fingersätze waren nicht mein Ding. Ich improvisierte einfach, wo die Finger sich gerade befanden. Manchmal tönte es gar nicht so schlecht, manchmal aber auch etwas gar unbedarft und holprig.

Problematisch war zudem, dass sich meine Mutter mit Herrn Müller eigentlich gut verstand und sich wegen meiner mangelnden Leistungen wohl auch etwas genierte. Sie buhlte bei ihm immer wieder um Verständnis für meinen Widerwillen und fühlte sich vielleicht bis zu einem gewissen Grad schuldig, ihm einen so schlappen Schüler zugehalten zu haben, mit dem letztlich auch er nichts anzufangen wusste.

Einmal wurden wir sogar zum Essen an die Zürichbergstrasse eingeladen. Dort ging es allerdings weniger um mich als um die Kontakte meiner Mutter, die Redaktorin beim Tages-Anzeiger war. Herr Müller, der sich mit seinem Klavierunterricht karrieremässig wohl am Ende seiner Fahnenstange sah, wollte sich gerne Zugang verschaffen zum Feuilleton dieses Blattes, denn er sah dort für sich mit seinem guten Schreibstil ergänzende Entfaltungsmöglichkeiten. Er zeigte meiner Mutter ein paar Texte, die er Jahrzehnte früher als Musikstudent fürs St. Galler Tagblatt verfasst hatte, worauf sich meine Mutter bereit erklärte, den Kontakt zum Feuilletonchef des Blattes herzustellen. Worauf im Verlaufe der kommenden Jahre  im Feuilleton und im Lokalteil des Tages-Anzeigers immer wieder Musikkritiken von Markus Müller erschienen. So konnte ich mir immerhin einreden, dass er dank mir zu diesem Job gekommen sei. Diese Überlegung entlastete mich etwas vom schlechten Gewissen, ein so ungelehriger Schüler gewesen zu sein.  
Guck mal einer an. Hier sieht man mich in vierhändigem Spiel vertieft zusammen mit Hans-Martin Bossert, Musiker. Selbstverständlich übernahm ich immer nur den allerleichtesten Part, mal oben, mal unten, und Hans-Martin sagte nicht selten zu mir: "Muesch halt Fingersätz üebe"     

2 Kommentare:

VAlentin Altorfer hat gesagt…

Und ich dachte immer, Du seist fleissig und seriös! Und Herrn Bosshard traf ich kürzlich, als meine Nichte in einem Schulhaus mit allen MitschülerInnen vorspielte - er war am Flügel, ich glaube sein Fingersatz war sicher voll okeh.. Herzliche Grüsse, VA

Anonym hat gesagt…

Ich habe dich immer wieder mal an der Bocklerstrasse beobachten und hören können, wenn du da auf dem Klavier im Gangzimmer gespielt hast. Ich erinnere mich an eine Nonchalance und eine Sicherheit, die wahrscheinlich eben deinem guten Musikgehör zu verdanken war. Und weniger den Fingersätzen. Danke für den lustigen "Musikkritiker".
Guet Nacht nic