Der ambulante Dichter
Als man noch keinen Mundschutz tragen musste und sich auf den Strassen noch zwangslos und straffrei bewegen
konnte, kam ich mit Gästen wieder einmal beim Strassendichter Jesús Espicasa
vorbei. In der Nähe der Plaza Bolivar im Zentrum Bogotás schlägt er jeweils bei schönem
Wetter in einer von Touristen bevölkerten Seitenstrasse sein Randstein-Büro
auf und bietet Gebrauchslyrik an. Ich weiss nicht, ob man bei
ihm auch Gedichte zu einer spezifischen Lebenssituation bestellen kann. Ich
selber bin jeweils wunschlos, setze mich neben ihn und warte einfach auf seine
Eingebungen, die ich jeweils mit einem kleinen Geldbetrag abgelte. Diesmal
brachte er das folgende zu Papier, das ich später zu Hause von Google
Translator übersetzen liess:
* * *
Mach weiter, Meister, mach weiter, schau mir weiter in die Augen
Vielleicht findest du etwas.
Das Leben ist eine Party
Ein Schiff ohne Ruder und ohne Horizont:
Du musst nur gehen
Wohin der Wind dich treibt ...
Kostenlos ...
Zum Reisen brauchst du nur das, was dich vor Kälte schützt
Einen Bleistift und das Blatt, auf das du schreibst -
Den Rest bietet dir die Straße ...
Ich werde es dir sagen, mein lieber Reisender
Du kennst die Gefahren des Denkens -
Fliege
...
Fliege mit den tropischen Winden
Aber guck nicht in meine Augen
Diese Augen sind die Hölle
Doch derjenige, der lebt, weiß es nicht
Und noch viel weniger: er will es nicht wissen
Kinder der Poesie, die Kunst ruft euch!
Jesús Espicasa
* * *
Nun gut, die Zeilen lassen etwas Interpretationsspielraum offen, aber die
Erinnerungen an ihn und an seine dunklen Augen werden mich immer und sicher
durch alle Winde führen.
© Nikolaus Wyss
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