Foto: Dorothee Hess, 1987 |
Im Jahr 1987 verlor ich meine grosse Liebe, machte meinen ersten Aidstest und arbeitete ein paar Monate für eine Schweizerische Landesausstellung, die nie zustande kam. Alles in der ersten Hälfte jenes Jahres.
Das Glück war mir hold. Zur Erholung fuhren Maria
und ich am 28. Dezember 1986 für ein paar Tage an die Nordsee. Reiseziel war
die ostfriesische Insel Borkum. Beim Wechsel von der Fähre zur Kleinbahn
und später auf dem kurzen Fussmarsch vom Bahnhof zum Hotel Atlantik klatschte
uns der bissige Wind Eiskristalle ins Gesicht. Der Teint verdankte es mit
rosiger Frische. Kaum im Zimmer, liessen wir die Badewanne volllaufen und
liebten uns im heissen Wasser. Innig und einander heftig zugetan fiel mir wie
nie zuvor Marias feurige Begierde auf. Später sprach ich sie darauf an, und sie
murmelte etwas von Hormonen. Ich: Kinderwünsche? – Darauf gab sie
keine Antwort, lächelte aber milde, was ich als Zugeständnis deutete. Was hätte
mich glücklicher machen können als dies?
Am Abend
begaben wir uns Hand in Hand in den Speisesaal, wo es nach Sauerbraten und
Rotkraut roch. Wir wurden zu einem Paar aus Stuttgart gesetzt. Sie stellten sich
als Susanne und Thomas vor. Sie war Grafikerin, er Weinhändler.
So stand vom ersten Augenblick an fest, wer für uns den Wein auswählen würde.
Das darauffolgende Tischgespräch liess an Konventionalität nichts zu wünschen
übrig. Kinder? Garten? Haustiere? Kochen? Beruf? Hobbies? Vereinsaktivitäten?
Schweiz? Deutschland? DDR? Terrorismus? Tschernobyl? Perestroika? Gorbatschow?
Helmut Kohl? Riesling? Mosel? Dôle? Spanier? Jahrgang? Luigi Colani? Adrian
Frutiger? TransAtlantik? Primitivo? – Wir quittierten die Themen und Meinungen
mit zuvorkommendem Interesse. Susanne und Thomas taten das Gleiche. Mir gefiel
diese belanglose Konversation. Es war wie das Schnurren bei einer Katze. Fängt
man erst einmal an, ihren Hals zu kraulen, so wird alles friedlich, etwas langweilig,
aber gut. Mich störte einzig, dass Maria zuweilen nicht imstande war, simple
Antworten zu geben. Sie umhüllte diese stets mit einem Schuss unnötiger
Rätselhaftigkeit. Als sie zum Beispiel gefragt wurde, was sie arbeite,
antwortete sie, sie sei Köhlerin. Natürlich verlangte dies eine
Nachfrage. Wie meinen Sie das? – Doch sie brachte es nicht fertig zu
sagen, sie sei Künstlerin. Ihre Kunst bestand zu jener Zeit aus mit
Kohlestiften gezeichneten wunderbaren, grossformatigen, geometrischen Formen
auf Packpapier. In einem aufwendigen Verfahren verschwelte sie in einem Minimeiler die dafür
benötigten Zeichenstifte. Ich fühlte mich jedenfalls
veranlasst, das eine oder andere Mal klärend zu intervenieren.
Später beim
Zähneputzen stellte Maria spöttisch fest, wir hätten uns wie ein altes Ehepaar
aufgeführt. Als ich begeistert zustimmte, meinte sie, es sei ihr dabei nicht
eben wohl gewesen.
Am nächsten
Morgen erlaubte die beginnende Ebbe, weit ins Meer hinauszuwandern. Das Hotel
stellte uns Stiefel zur Verfügung, verbunden mit der Aufforderung, rechtzeitig
wieder den Rückweg anzutreten, um nicht plötzlich weit draussen von den
steigenden Fluten überrascht und vom Festland abgeschnitten zu werden. Auf
unserem ausgedehnten Fussmarsch mit regelmässigem Blick auf die Uhr sahen wir
Rudel von Seehunden. Sie hatten sich viel zu erzählen und grunzten und
quietschten sich fröhlich an. So drollig sie sich auch fortbewegten, so elegant
konnten sie daliegen mit Flossen und Kopf in die Höhe. Sie sahen dann aus wie entsprechend
gefaltete Papierschiffchen oder venezianische Gondeln. Auch der feuchte, nach
Fisch und Seetang riechende Meeresboden war voller Leben. Hier stieg eine Blase
empor, dort verschwand eine Krabbe, und über uns kreischten Möwen und balgten
sich um die Leckerbissen, die das Wattenmeer in reicher Auswahl darbot. Wir
waren zufrieden mit der Wahl unseres Reiseziels, auch wenn wir ursprünglich
nach Biarritz hätten fahren wollen, uns aber ein Streik der
französischen Staatsbahnen daran gehindert hatte.
* * *
Meine
Glücksgefühle aber gründeten nicht allein auf meinem Zusammensein mit Maria.
Sie stellten sich schon Tage vorher ein anlässlich einer gelungenen
Weihnachtssendung des Schweizer Fernsehens, die ich als zuständiger
Redakteur verantworten durfte: Wir sendeten am Heiligen Abend live aus Studio
drei. Die Moderatorin Olga Piazza unterhielt sich mit geladenen
Gästen, darunter auch mit einem griechischen Koch, der für die Anwesenden im
Ofen einen Lammbraten mit viel Rosmarin und Knoblauch schmoren liess. Als
Einspieler gab es Kurzreportagen über die Herstellung von Christbaumschmuck,
über einen Engel von Mensch, der sich für die Ärmsten der Armen einsetzte, und
ein Orgelstück mit Chor. Auch eine Aussenschaltung zu einer Dorfkirche im
Berner Oberland war Bestandteil der Sendung. Ein Reporter schilderte,
wie Weihnachten dort oben gefeiert wird.
An den
Proben kam einmal auch mein Chef vorbei, um sich ein Bild von den
Vorbereitungen zu machen. Er befand, die beiden Christbäume im Studio seien zu
klein. So liess er grössere herbeibringen, was zu Überstunden des Dekorateurs,
zum Ankauf weiteren Baumschmucks und in letzter Minute zu einer ergänzenden
Beleuchtungsprobe führte. Für mich aber waren diese angeordneten
Budgetüberschreitungen Zeichen seiner Wertschätzung. Die Sendung soll gelingen,
auch wenn ich, sein sonst ungeliebter Mitarbeiter, die Finger im Spiel habe.
Und, sollte sie gelingen, würde auch ich vom Lob und von der Anerkennung
profitieren dürfen. Das nahm der Chef offenbar in Kauf und unterstützte mich im
Rahmen seiner Möglichkeiten mit immerhin zwanzig Zentimeter höheren
Weihnachtsbäumen.
Diese kleine
Geste war für mich so etwas wie das versöhnliche Zeichen nach einem doch eher
betrüblichen Kapitel meiner beruflichen Laufbahn. In meiner Erinnerung waren die
beiden Jahre als Kulturredakteur beim Schweizer Fernsehen geprägt von
unangenehmen Begegnungen mit diesem Mann, die von Nörgeleien bis hin zu
genereller Missgunst gegenüber meiner Arbeit reichten. Nach heutigem Jargon
würde man so etwas als Mobbing bezeichnen. – Vielleicht war von seiner Seite
aber auch etwas Eifersucht im Spiel. Denn ich konnte es gut mit meinen
Kolleginnen und Kollegen, mit den Kameraleuten, den Cutterinnen, den Tontechnikern,
den Beleuchtern – mit allen eigentlich. Ganz im Gegensatz zu ihm, der stets bessere
Sendungen forderte, ohne jedoch je in der Lage gewesen zu sein, dazu einen
konstruktiven Beitrag zu leisten. Ich litt unter dieser Diskrepanz und kündigte
auf Ende des Jahres.
* * *
Ich erinnere
mich nicht mehr, ob ich Vorsätze fasste fürs neue Jahr. Ich war schon auf gutem
Weg. Einen neuen Job in Aussicht, die Frau meines Lebens an meiner Seite, ein
mögliches Kind. Wir feierten Silvester im Hotel, fanden allerdings an der Rambazamba-Musik
in der Lobby keinen Gefallen und zogen uns schon kurz nach dem
mitternächtlichen Zuprosten aufs Zimmer zurück. Für den Morgen darauf planten wir
früh mit Bähnchen, Fähre und Intercity nach Köln weiterzureisen. Ich genoss die
Fahrt im warmen Waggon durchs winterliche schneeverwehte Deutschland. Maria und
ich unterhielten uns in vertrautem Ton, und ab und zu dösten wir für ein
Weilchen friedfertig ein.
Köln war
menschenleer, regennass und kalt. Alle schienen noch mit einem Eisbeutel auf
der Stirn ihren Rausch auszuschlafen. Eine günstige Bleibe mochten wir der
Witterungsverhältnisse wegen nicht suchen. So quartierten wir uns kurzerhand im
nächstliegenden Hotel ein, dem luxuriösen Inter-Continental mit Minibar
und Blick auf den nahen Dom. In mein Tagebuch schrieb ich dazu: Ein Überriss
für eine Nacht. Maria geniesst es wohl mehr als ich, der das noch berappen
muss. Im Fernsehen Baby Schimmerlos in der 6. Folge von Kyr Royal
gesehen. Sehr gute Serie.“
Und dann,
eine Nacht später, nachdem wir in ein billigeres Hotel gewechselt und vorher
noch schnell in der Derby-Bar das wohl schlechteste Sandwich unseres
Lebens hinuntergewürgt hatten, es war trocken, fad, und man musste es von den
schlaffen Salatblättern befreien, stand unsere kleine Welt plötzlich Kopf. Ohne
Vorankündigung. Statt uns zu einem weiteren Beischlaf anzuschicken, fing Maria
hemmungslos an zu weinen. Sie weinte und weinte – der Tränenfluss wollte
einfach kein Ende nehmen. Ich fragte, was denn los sei, und bediente sie
pausen- und hilflos mit Kleenex aus dem Badezimmer. Sie aber fand keine Worte
für ihre Gefühle. Um Mitternacht weinte sie immer noch, und ich wusste nicht,
ob ich mich jetzt gleichwohl schlafen legen durfte, oder mich mit gutem Zureden
wach zu halten hatte. Sie weinte auch noch um eins und um zwei, und ich konnte
es mir nicht erklären. Ihre Periode dürfte es nicht sein, schloss ich
messerscharf, die hatte sie doch kurz vor Weihnachten schon. Vor ein paar
Stunden noch spazierten wir friedlich zum Wallraf-Richartz-Museum
hinüber, zur Sammlung Ludwig auch und schauten uns Bilder aus
unterschiedlichen Epochen an. Nichts deutete auf ein solches Ende dieses Tages
hin. Ja, beim Betrachten des Chagall-Bildes Moses zerbricht die
Gesetzestafeln, das uns beiden eigentlich nicht gefiel, sprachen wir über
ein Kind und was es für uns zwei bedeuten würde. Ich liess keinen Zweifel
aufkommen, dass es für mich das höchste der Gefühle wäre.
Erschöpft
und wortlos begaben wir uns am darauffolgenden Morgen zum Frühstück, bestiegen
ein paar Stunden später den Zug und traten als zwei stumme Fragezeichen den
Heimweg in die Schweiz an. Maria brachte auf der ganzen Strecke kein Wort
heraus, und ich zwang mich, meine drängenden Fragen ruhen zu lassen. Es
herrschte auf der ganzen Fahrt Erklärungsnotstand und dräuende Depression. Die
Winterlandschaft, die mich auf der Reise nach Köln noch faszinieren konnte,
zeigte jetzt nur noch ihre düstere Endzeitfratze. Maria kehrte am selben Abend
in ihr Künstlerhäuschen in den Bergen zurück, und ich verkroch mich, so gut es
ging und mit tausend Rätseln im Kopf, in meiner Wohnung in
Zürich-Schwamendingen.
* * *
Am nächsten
Tag trat ich in Zug meine neue Stelle an. Zuvor hatte ich mir noch eine
neue Aktentasche erstanden. Sie roch gut nach Leder. Ich behielt das zerknüllte
Papier, das dem Objekt ein gewisses Volumen verlieh, auf meinem Weg zum neuen
Arbeitsort noch in der Tasche. Die Büros befanden sich in unmittelbarer Nähe
zum Bahnhof und waren nur durch eine Unterführung getrennt. Meine
Stellenbezeichnung lautete Leiter Landesweite Aktivitäten. Damit war die
Koordination von Projekten gemeint, welche im Rahmen des 700. Geburtstags der
Eidgenossenschaft im Jahre 1991 im ganzen Land hätten realisiert werden sollen.
Als Kernstück der Jubiläumsfeierlichkeiten war eine Landesausstellung in der
Zentralschweiz geplant, wofür eine Stiftung gegründet und eine Organisation mit
dem Namen CH91 aufgebaut worden ist. Ich war neu Teil dieser
Organisation, gleichzeitig aber auch autonom. Mir oblag es, diejenigen
Aktivitäten in Einklang zu einem Gesamtkonzept zu bringen, die zum Beispiel in Genf,
in Rorschach, in Delémont oder in Bellinzona zu diesem
Anlass hätten realisiert werden sollen und im besten Falle auch in der
Landesausstellung selbst einen gewissen Niederschlag gefunden hätten.
Spiritus
rector dieser komplexen
Idee war Ruedi Schilling, seines Zeichens Publizist und Redakteur beim Magazin
des Tages-Anzeigers, ein brillanter Denker, der es verstand, den
Stiftungsrat der CH91 auf seine Ideen einzuschwören, ohne aber allzu sehr die
damit verbundenen operativen und politischen Schwierigkeiten mitzubedenken. Vor
allem aber ohne Rücksicht auf das fantasielose Personal, das diese Ideen
umzusetzen hatte. Da war der Direktor Walter Anderau, seines Zeichens
Generalstabsoberst und Historiker, der, wie mir schien, nichts anderes im Sinne
hatte, als vier Jahre später an der Seite des Bundesrates mit dem feierlichen
Durchschneiden des roten Bandes die Zentralschweizer Landesausstellung zu
eröffnen. Andere Visionen entdeckte ich bei ihm im Laufe unserer Zusammenarbeit
kaum. Ihm zur Seite arbeiteten, so wurde mir mit der Zeit bewusst, willfährige
Professionelle. Sie kannten die Management-Rituale aus dem Effeff, die sich zu
jener Zeit noch an den militärischen Führungsprinzipien von Auftrag und
Kontrolle anlehnten.
Zu dieser
Zeit befand sich alles noch ziemlich in den Wolken. Ich sollte mich darum
kümmern, in meinem Bereich Strukturen zu schaffen und die Ideen auf den Boden
beziehungsweise zum Fliegen zu bringen. Die Aufgabe gefiel mir. Weniger gefiel
mir allerdings, im selben Büro wirken zu müssen wie Vize-Direktor Mohr.
Dieser telefonierte laut und hing mir gegenüber den Chef heraus. Das brauchte
ich nach zwei Jahren Schweizer Fernsehen jetzt nun wirklich nicht mehr. Schon
am ersten Tag wollte er mir das Budget kürzen, worauf ich ihn aufmerksam
machte, dass mir bei der Unterzeichnung des Vertrags eine andere Summe genannt
worden sei. Die erfolgreiche Verteidigung meiner Ressourcen gab mir immerhin
ein gewisses Selbstbewusstsein, das mein schlimmes Erlebnis mit Maria in einem
etwas weniger grellen Licht erscheinen liess. In schrieb dazu in mein Tagebuch:
Meine hobbypsychologische Neugier versagt. Ihr Puff langweilt mich
zusehends. Soll sie doch dort oben in den Bergen ihre Dinge machen, die sie
nicht gern Kunst nennt und die gleichwohl Kunst sein sollte. Doch klar, die
unerklärliche Entzweiung bleibt ein Stachel in meinem Fleisch. Tausendfach
bewährte Vertrautheit lässt sich nicht einfach mit einer Pinzette entfernen.
Und dann
folgte noch dieser Satz in Grossbuchstaben: WIE SIEHT DIE SCHWEIZ 1991 AUS?
WELCHE BEDÜRFNISSE HAT SIE DANNZUMAL?
* * *
Bei meiner
Ankunft im Zuger Büro lagen bereits Dutzende von Plastikmäppchen auf meinem
Pult. Texte und Inhalte waren nicht nach einer bestimmten Systematik aufgebaut.
Die einen bestanden aus lockeren Projektideen, ja Skizzen, andere enthielten
bereits ganze Abhandlungen mit Referenzen, Budgets und Finanzierungsplan. Es
waren um die 150 an der Zahl. Ich begann zu lesen und machte mir dazu Notizen.
Dafür brauchte ich mehrere Tage. Während der Lektüre kristallisierten sich mit
der Zeit einige Schlüsselbegriffe heraus. Begegnung, Begegnungsort, maison
de rencontre waren ein Cluster. Ein weiterer waren Ökologie,
Natur, Nachhaltigkeit, Renaturierung, Landschaft. Viel Städtebauliches war
auch darunter: Lebenswerte Städte, Wohnen, Häuser, Heimat, Planung, Habitat,
Oekopolis. Dann auch Héritage, Kunst, Kultur, Erlebnis- und Lehrwege.
An Wirtschaftsprojekten hingegen, Stichworte KMU und Innovation, Industrie,
Globalisierung, Schweizer Präsenz in der weiten Welt, Uhren und Milchpulver,
Medizintechnik, Chemie, Banken und Europa mag ich mich kaum erinnern. Diese Art
von Projekten wäre wohl eher Bestandteil der eigentlichen Landesausstellung an
den verschiedenen Innerschweizer Standorten gewesen. Kontakte zur Forschung, zu
Universitäten, zum Gewerbeverband und zur Industrie gab es schliesslich, davon
berichtete jeweils unser Chef an seinen wöchentlichen Rapports, hielt sich aber
bedeckt, worum es konkret bei diesen Vorhaben ging. Der Ereignisschwerpunkt Neugier
und Forschung wäre ursprünglich für den Kanton Luzern vorgesehen gewesen,
der allerdings seine Teilnahme an der CH91 bereits im Jahre 1985 wegen einer
negativ ausgefallenen Volksabstimmung zurückgezogen hatte. Ich weiss nicht
mehr, wie man diesen heimatlosen Schwerpunkt auf die verbliebenen fünf
Standorte, die selbst schon Schwerpunkte zu stemmen hatten, aufteilen wollte.
Bei „meinen“
dezentralen Projekten gut vertreten waren das Wallis, die Waadt,
etwas Tessin, Basel-Stadt und Aargau. Andere Kantone und
Städte hingegen wie Zürich, Bern und St. Gallen übten sich
in grösserer Zurückhaltung. Sie planten zwar, so wurde mir versichert, auch
Jubiläumsaktivitäten, sahen diese aber nicht als Teil der CH91, was mich
anfangs etwas irritierte, weil ich diese Sonderzüglein nicht verstehen wollte.
Meine
Aktenmappe füllte sich schnell, und das Lösen eines Generalabonnements der SBB
war ein Gebot der Stunde. Ich war schliesslich die meiste Zeit auf Achse und
damit wenigstens der Präsenz Mohrs entzogen. Mein Kalender füllte sich in
Windeseile mit Treffen und Sitzungen.
Eine der
ersten Zusammenkünfte fand in Sarnen statt. Es ging dort ums Thema Häuser
und Heimat. Herr Huwyler war von Anfang an dagegen. „Es wird zu viel
gebaut“, liess er verlauten. Das Projekt sei nicht nachhaltig, sondern fördere
den Konsum. Damit bezog er die Gegenposition zu Herrn Bucher, der im
Projekt eine gute Gelegenheit sah, den Besuchern Wohnen einst und jetzt
nahezubringen. Huwyler: Ballenberg befindet sich doch grad hinter dem Brünig.
Das ist nah genug.
Vorgesehen
war auch die Schaffung eines Wander- und Radwegs zwischen den in der ganzen
Landschaft verstreuten Häusern und Ausstellungsobjekten, was sich als der
unbestrittenste Teil des Vorhabens herausstellte, auch wenn er in Konkurrenz
stand zum geplanten Weg der Schweiz rund um den Urnersee. Doch die
Argumente aus Obwalden waren schlagend. Erstens befinde sich Obwalden nicht
am Urnersee, und auf dem Weg der Schweiz könne man nicht Fahrrad fahren. Doch
gerade diese Art von Fortbewegung fördere die Kontemplation, sagten sowohl
Huwyler als auch Bucher. Zuletzt mündete die Diskussion in die Behauptung, je
mangelhafter die intellektuelle Fähigkeit der Besucherinnen und Besucher, umso
mehr brauche es Spektakel. Umgekehrt: mündige und selbständig denkende Menschen
seien auf Spektakel nicht angewiesen. Wen wollen wir hier in Sarnen
willkommen heissen? lautete die alles umfassende Frage.
Ich war
leider noch nicht so weit, das Profil des Zielpublikums zu definieren und
verliess den Ort ohne präzise Antwort. Auf dem Rückweg fragte ich mich auch,
wieso ich für dieses Projekt zuständig sein soll. Es war doch in den Kernlanden
der geplanten Expo angesiedelt.
* * *
In jener
Nacht quartierte ich mich in Luzern im Hotel Rebstock ein, denn am
folgenden Tag waren in dieser Stadt weitere Besprechungen angesagt. Allein im
Bett kam mir die Geschichte mit Maria wieder hoch. Ein grässlicher Gedanke fing
an von mir Besitz zu ergreifen. Könnte es sein, dass diese Frau es entgegen
eigenen Beteuerungen doch nicht ertrug, dass ich mich auch noch für junge
Männer zu begeistern vermochte? Aus meiner Sicht hatte meine Beziehung zu ihr
doch zu einer massiven Beruhigung an der Männerfront geführt. Bei ihr hatte ich
endlich meine Gefühle dort, wo ich sie immer haben wollte: unter Kontrolle. Mir
schien nichts wichtiger zu sein als das gute Einvernehmen mit ihr. Sie genoss
absolute Priorität. Meine Aufmerksamkeit für junge Männer hatte sich dadurch
spürbar verringert. Sie war zwar immer noch vorhanden, verlor aber an
Dringlichkeit, unter welcher ich früher so litt.
Und jetzt,
als die Frage nach Kindern hochkam – bekam sie da kalte Füsse?
Ich weinte
einsam und verloren vor mich hin und fühlte mich von ihr ungerecht behandelt.
Sie verweigerte mir die Möglichkeit, mich als guter Vater zu erweisen. Nicht
einmal reden konnten wir darüber. Seit Köln haben wir kein Wort mehr
miteinander getauscht. Diese Sprachlosigkeit nach einer so verheissungsvollen
Zeit liess mich verzweifeln. Mein Vater kam mir in den Sinn. Meine Mutter gestattete
ihm zwar mich zu zeugen, dann aber war Schluss. Eine Ahnung beschlich mich da
im Hotelzimmer, welche Ohnmacht diesen Mann heimgesucht haben musste, die
später jahrelang in Form blinder Wut auf meine Mutter niederprasselte und mich
zum Zankapfel zweier unversöhnlicher Parteien werden liess. Würde mir so etwas
auch bevorstehen, hätte ich ein Kind gezeugt?
Als ich nach
meinen beiden Tagen Besprechungen in der Zentralschweiz wieder nach Hause kam,
entdeckte ich auf dem Treppenabsatz ein säuberlich geschnürtes Paket. Darin
lagen Kondome, mein Pyjama, meine Hausschuhe, Zahnpaste und Zahnbürste, Socken,
Rasiermesser und Rasierschaum, Eau de Cologne und einige Dinge mehr, an die ich
mich jetzt nicht mehr erinnern kann. Zuunterst eine Karte von Maria mit der
knappen Bitte, ihr ihre Habseligkeiten, die sich noch bei mir befänden, doch
auch zurückzuschicken, und die Kohlezeichnung, die sie mir seinerzeit geschenkt
hatte, ihr zurückzugeben. Sie brauche sie zur Gesundung. Mir aber war
vom ersten Augenblick an klar, dass das Bild bei mir zu bleiben hat. Es war ein
Geschenk, und ich wollte es behalten, um gesund zu bleiben.
* * *
Meine Arbeit
brachte mich in die abgelegensten Talschaften der Schweiz. Auch dort wurde über
700 Jahre Eidgenossenschaft nachgedacht und über der Frage gebrütet, wie man
diesem Jubeljahr an Ort am ehesten gerecht werden könnte. Doch statt mit einem
immer grösseren Überblick und mit klareren Gedanken kam ich regelmässig mit
noch grösserer Verwirrung in die Zentrale nach Zug zurück. Zum Teil lag es auch
daran, dass mein Französisch dieser Art von Aufgabe einfach nicht
gewachsen war, geschweige denn mein Italienisch. Hätte ich doch bei
meinem virtuosen Französischprofessor in der Mittelschule besser
aufgepasst, und hätte ich mich von der französischen Arroganz und
Affektiertheit und von der italienischen Sprachlust nicht so sehr einschüchtern
lassen. Ich empfand es jedenfalls als Demütigung, wenn im Verlauf der Gespräche
plötzlich auf Deutsch gewechselt werden musste, nur weil ich gewisse Worte
nicht auf Anhieb fand oder verstand, oder weil ich mich in abenteuerlichen
Konstruktionen verhedderte. Manchmal diente dann als Ausweg auch das Englische
als lingua franca. Dort waren wenigstens die Spiesse etwa gleich lang.
Von manchen
Projektgruppen wurde ich insofern instrumentalisiert, als ich ihr Projekt
retten sollte, nachdem dieses von der zuständigen Stelle des Kantons, auf
dessen Hoheitsgebiet es ausgeführt werden sollte, bereits abgelehnt worden war.
Fallen zuhauf. Und statt dass ich aufgrund meiner landesweiten Kontakte eine
Sammlung schöner Projekte zusammenstellen konnte, lernte ich mehr über die fein
ziselierten politischen Landschaften der Schweiz, über deren Empfindlichkeiten
und über das Hierarchiebewusstsein der Behörden aller Stufen, woraus dann
unüberwindbare Territorien, strikte Verantwortlichkeiten und unteilbare
Befugnisse abgesteckt wurden. Und ich lernte auch einiges über das hohe
Frustrationspotential der Projektträger, allen Widrigkeiten zum Trotz eine
eigene Idee verwirklichen zu wollen.
* * *
Am
Donnerstag, 12. Februar 1987, fand in Zug wieder einmal eine weitere Sitzung
statt, welche Ordnung in die noch ziemlich verworrene und uneinheitliche Public
Relations der CH91 bringen sollte. Neben einer stattlichen Anzahl von
CH91-Mitarbeitern waren auch ein paar externe Experten eingeladen, zum Beispiel
ein Dr. Dieter Jäggi, Oberst und PR-Konsulent aus Gümligen bei Bern,
dessen Interventionen ich in meinem Tagebuch als „nicht unintelligent“
vermerkte. Des Weiteren fand sich auch eine Delegation der PR-Firma Trimedia
ein, die sich aber durch eine unvergleichlich dogmatische Sturheit
auszeichnete. Auch anwesend war Mme Anita Nebel-Schürch, von welcher man
annehmen durfte, dass sie etwas von den Empfindlichkeiten und kommunikativen
Vorlieben der Romands verstand, lebte die Luzerner Journalistin und Lehrerin
doch schon seit geraumer Zeit in Collex-Bossy bei Genf. Mit dabei
war auch Freund Ruedi Schilling.
Unsere
PR-Beauftragte der CH91, Irene Dinten Flüeler, leitete die Sitzung, die
als Brainstorming angelegt war. Von diesem langfädigen Treffen nahm ich mit,
dass sich hier zwei absolut unvereinbare PR-Konzepte gegenüberstanden, wobei
ich schon von Anfang an wusste, für welches sich Frau Dinten am Schluss
erwärmen würde. Wieso denn die Zeitverschwendung einer uninspirierten,
mehrstündigen Sitzung?
Die einen
plädierten für die statische Linie. Dort wäre von Anfang an jede Formulierung
und jedes Argument auf Jahre hinaus festlegt gewesen. Man hätte sich davon je
nach Bedarf und kommunikativer Situation per Knopfdruck einfach bedienen
können. Walterli, der Sohn des legendären Wilhelm Tell, mit einem
von einem Pfeil durchbohrten Apfel auf dem Kopf, wäre dabei als Maskottchen
die Verkörperung dieser CH91 gewesen!
Die andere
Fraktion, zu welcher ich gehörte, setzte auf Personalisierung, Dynamisierung
und auf attraktive Projekte, will heissen, die Kommunikation wäre über Menschen
aus Fleisch und Blut gegangen, über Menschen, die etwas zu sagen gehabt hätten,
und die für die CH91 einen substanziellen Beitrag leisteten. Gegen Schluss der
Sitzung torpedierte ich allerdings selbst diese Idee, weil sich die Menschen
hier im Raum nie als Team begreifen und sich gegenseitig auch nie eine öffentliche
Profilierung gönnen würden. Wir sagten nicht einmal du zueinander. Wie sollte
sich auf einem solch übersäuerten Mist je eine unité de doctrine
heranwachsen?
Gleichentags
fuhr ich noch nach Chur. Ich hatte mit Chasper Pult abgemacht, dem
CH91-Delegierten des Kantons Graubünden, der mir von den Projekten in
seinem Kanton erzählen wollte. Er anerbot mir sogar eine
Übernachtungsmöglichkeit bei sich zu Hause. So konnte ich am nächsten Morgen
rechtzeitig bei Dr. Claudio Riesen vorsprechen, dem damaligen Direktor
der Standeskanzei. Ihm ging der Ruf voraus, sich vorbildhaft für
Aktivitäten im Zusammenhang mit der CH91 einzusetzen.
Doch als ich
in Chur ankam, war Chasper im Säli des Capellerhofs noch mit den Proben
der rätoromanischen Version von Friedrich Dürrenmatts Theaterstück Romulus
beschäftigt, die er mit seinen Kantonsschülern zur Aufführung bringen wollte.
Ich wartete also im Foyer und wartete und wartete. Jede weitere Viertelstunde
des Wartens gab mir noch deutlicher zu verstehen, was für eine vernachlässigbare,
unbedeutende Person ich doch sei. Zu allem Überfluss nistete sich in dieser
Delle des Selbstbewusstseins auch noch der Schrecken ein, ich könnte vielleicht
HIV-positiv sein. Ich konnte bei mir zwar keine Anzeichen dafür erkennen, doch
mein gelegentlicher Lebenswandel zu früheren Zeiten konnte diesen Fakt nicht
ganz ausschliessen. Zum damaligen Zeitpunkt wusste man auch noch so wenig über
die Symptome und Wirkungsweisen dieses Virus. Solche Überlegungen passten
hervorragend zu meiner Hängepartie mit Maria, und ich war um 23.15 Uhr nur noch
ein Häufchen Elend, als Chasper aus der Tür des Sälis trat und mich herzlich
begrüsste. Mit seinem R4 fuhren wir darauf nach Paspels und sprachen
noch bis zum frühen Morgen, was alles im Bündnerland an Jubiläumsaktivitäten
angedacht war. Dieses Briefing sollte mich am nächsten Morgen befähigen, beim
Standeskanzleidirektor eine gute Falle zu machen. Als ich dann doch noch ins
Bett stieg, schienen mir die Leintücher bereits eingeschlafen.
* * *
Am nächsten
Morgen um 9.45 Uhr traf ich Walter Anderau, meinen Direktor, vor der
Standeskanzlei. Es war das erste Mal, dass ich mit ihm in offizieller Mission
unterwegs war. Ich tat mein Bestes, für die CH91 alle Ehre einzulegen, doch ich
war für seinen Geschmack wohl zu aktiv. Während ich gerne die direkte Rede
pflege, nahm Anderau bei seinen Ausführungen jeweils lieber diplomatischen
Anlauf mit der Bemerkung, er sei Historiker. „Ich als Historiker...“, liess er
zum Beispiel verlauten, oder: „als Historiker würde ich sagen...“ – Damit
verlieh er seinen Aussagen einen objektiveren Anstrich von geschichtlicher
Warte aus.
Auch musste
ich erkennen, dass sich Pults Briefing in der vorangegangenen Nacht als völlig
überflüssig erwies, denn Dr. Riesen kam schon bald auf sein Lieblingsanliegen
zu sprechen, auf das Projekt der Offenen Schweiz, welches Chasper
überhaupt nicht erwähnt hatte. Der Architekt Jakob Zweifel, der schon
massgeblich an der Expo64 in Lausanne mitgewirkt hatte, setzte es
in die Welt. Seine Idee war, dass jeder Kanton einen ausländischen Staat
einlädt und für diesen während der CH91 Gastgeber spielt. Reizvoll, aber vom
System her falsch, beschied Anderau, und ich nickte zustimmend und beflissen.
„Ich als Historiker muss Ihnen sagen“, hob mein Chef an, „dass es dem Bundesrat
vorbehalten ist, andere Staaten einzuladen. Wenn Kantone sowas beabsichtigten,
müssten sie beim Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten,
EDA, vorstellig werden. Anders ginge das gar nicht. Kantone sind keine
Ansprechpartner für ausländische Staaten.“ Damit war unser Auftritt beendet,
und wir wurden diplomatisch verabschiedet.
* * *
Am 20.
Februar feierte ich meinen Geburtstag. Es fiel mir schwer, auf mein bisheriges
Leben dankbar und erfüllt zurückzublicken. Und es fiel mir noch schwerer, die
Frage zu beantworten, was aus mir noch werden soll. Wer bist du und wohin
bewegst du dich? Ich wurde immerhin schon 38 und fand wohl zu Recht, dass
solche Fragen zehn Jahre früher hätten abschliessend beantwortet werden müssen.
Ich eierte meinen Lebtag planlos von einer Verpflichtung zur anderen und wusste
bei jeder, dass sie nicht das ist, was mich hätte erfüllen können. Als
zusätzliche Hypothek lastete dieses Jahr das Scheitern meiner Beziehung zu
Maria auf mir.
Doch zum
Jammern fehlte mir an diesem Tag trotz Lust die Zeit. Am Morgen fuhr ich zu
einer Themenkommissionssitzung nach Bern. Die Zusammenkunft fand im BIGA-Haus
statt. Zu meiner nicht geringen Überraschung gratulierte mir der Pförtner zum
Geburtstag. Oben angekommen, entnahm Chasper Pult dem Automaten gerade eine
Hefeschnecke, die er mir an meinen Sitzplatz auf den Tisch legte und mir dazu
alles Gute wünschte. Christiane Kleider aus Genf wiederum hatte
Schokolade mitgebracht, und Anita Nebel bedachte mich mit einer Zuger
Kirschtorte mit einem brennenden Kerzchen obendrauf. Diese überraschenden
Gaben versüssten die Kommissionssitzung unter der umsichtigen Leitung von Ruedi
Schilling ungemein. Herr Schneider, Sekretär der Bankier-Vereinigung,
lud uns dann alle zum Lunch ins Della Casa ein.
So
überraschend und für mich erfreulich diese Sitzung mit Vertretern aus allen
vier Landesteilen auch verlief, in mir kristallisierten sich folgende Erkenntnisse
heraus: a) solche freundeidgenössische Kommissionen sind schwerfällig und wenig
inspirierend; b) die eigentliche Arbeit muss vorher geleistet werden; c) ich
muss mich unbedingt mit Leuten umgeben, die mich herausfordern.
Ich hatte
das Glück, am selben Nachmittag gerade die Probe aufs Exempel zu machen. Ich
war mit Claire-Lise Gilliéron und ihrem Gatten René Levy, Soziologieprofessor
an der Uni Lausanne, verabredet, die sich in schon fast rührender
Weise der CH91 angenommen hatten und sie mit interessanten Ideen zu alimentieren
versuchten. Was die Zusammenkunft mit ihnen zusätzlich so erfrischend machte,
war die Möglichkeit zu schnöden und ironische Bemerkungen fallen zu lassen,
ohne sich dafür erst erklären zu müssen. Ich sah in den beiden künftige
Komplizen und schöpfte Hoffnung, dass mit Menschen dieses Schlages durchaus
etwas Interessantes auf die Beine gestellt werden könnte.
Abends
wieder in Zürich besuchte ich meine Mutter im Spital. Sie hatte sich einer
Operation unterziehen müssen und war etwas ungehalten über den langsamen
Heilungsprozess, der erst noch durch eine Lungenembolie erschwert wurde. Sie
hing an Schläuchen. Ich versuchte sie zu beruhigen, was mir aber nicht so
richtig gelingen wollte. Immerhin waren auch Goldy und Paul
Parin-Matthèy zu Besuch, die sich umsichtig und wortreich um sie kümmerten.
Alle drei waren Meister im Klönen und ergänzten sich fabelhaft. Ich aber war
diesmal etwas ungeduldig und auf dem Sprung, wollte ich doch zum Abendessen
noch ein paar Freunde treffen. In der Metzg im Seefeld warm empfangen,
durfte ich erkennen, dass ich mich mit meiner Geburtstagsdepression am frühen
Morgen endgültig auf dem falschen Dampfer befunden hatte. Was für ein Tag
positiver Überraschungen und voller Wohlwollen hatte sich da vor mir
ausgebreitet.
Am Montag
darauf fand mein Geburtstag noch eine unverhoffte Fortsetzung. Das
Büro-Personal in Zug überreichte mir einen Blumenstrauss, gratulierte und liess
durchblicken, dass es jetzt an mir sei, ihnen allen etwas zum zVieri zu
spendieren. Dieser Erwartung kam ich gerne nach, wobei für mich das fröhliche
Beisammensein insofern etwas getrübt war, als ich gerade kurz vorher vernehmen
musste, dass Andy Warhol während einer Gallenblasenoperation an einem
Herzschlag verstorben sei. Dieser Künstler bedeutete mir so viel. Er
inspirierte mich zum Vorhaben, 1978 mit meinem Studienkollegen Walter Keller
zusammen eine Zeitschrift namens Der Alltag – Sensationen des Gewöhnlichen herauszubringen,
nachdem ich Jahre zuvor in New York seine Zeitschrift Interview verschlungen
hatte, worin er seitenlang belanglose Smalltalks mit unterschiedlichsten
Gesprächspartnern veröffentlichte. Er inspirierte mich auch zu einer weiteren
Zeitschriftenidee, die Dr. Bockler’s hiess. Warhols Fähigkeit,
Banales und Alltägliches in schnörkelloser Direktheit darzustellen und ihnen
durch Benennung und Multiplikation eine eigenständige Bedeutung zu verleihen,
faszinierte mich. Mich störte lediglich, dass er von einer Gesellschaftsschicht
vereinnahmt wurde, welcher ich die Sensibilität für sein Programm schlichtweg
absprach. Daran war er selbst sicher nicht unschuldig, wahrscheinlich machte es
ihm auch gar nichts aus, verdiente er doch damit einen Haufen Geld. Doch ich
hielt mich stets für einen Besserversteher als diejenigen, die sich einen echten
Warhol an der Wand leisten konnten. Dieser Anspruch übrigens hält bis heute
beim Verfassen dieser Zeilen an.
Leider
währten in der Zuger Zentrale gesellige Momente wie diese Nachfeier zu meinem
Geburtstag jeweils nicht lange. Business as usual hiess bei der CH91
Einzelkämpfertum, nachträgliche Korrekturen von Aktennotizen, Misstrauen,
Missgunst, Missstimmung, Budget-Kürzungen, Blockierungen und Angst. Wie der
Geruch des penetranten Pfeifentabaks von Vizechef Mohr schwebten in der Luft
die Ungewissheit und die Furcht, wie es mit uns weitergeht, wobei sich diese
Zukunftsangst weniger auf das noch weit entfernte Jahr 1991 bezog als vielmehr
auf ein Datum in zwei Monaten, dem 26. April. An diesem Sonntag nämlich wollten
die fünf Innerschweizer Kantone darüber befinden, ob sie diese auf fünf
Standorte verteilte Landesausstellung überhaupt durchführen wollten. Unsere
PR-Dame verbreitete im Büro zwar Zuversicht und berief sich auf aktuelle
Umfragen. Doch ein jeder von uns kam in seiner privaten Agenda zu einem anderen
Schluss. Und so gelang es unserer Mannschaft irgendwie nicht, die Vorzüge
unseres Vorhabens glaubhaft in ein günstiges Licht zu stellen. Viele
Interessensgruppen machten dagegen mobil: die CH91 werde ein Rummelplatz und
beeinträchtige Schönheit und Natur der ursprünglichen Landschaft. Die CH91 sei
viel zu teuer, war ein weiteres Argument. Und die Linke torpedierte die Idee
als zu wenig minderheitenafin. Historikerfrauen begehrten auf und fragten, in
welchem Masse und in welcher Form die Frauen vertreten seien. Zu
staatserhaltend und ohne Visionen lauteten weitere Argumente dagegen.
Doch mir
schienen die Argumente gar nicht so ausschlaggebend. Es war die Stimmung
generell. Ein knappes Jahr zuvor schon lehnte das Schweizer Stimmvolk den
Beitritt zu den Vereinten Nationen mit einem wuchtigen Nein von 76 Prozent ab.
Und dann kam die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl kaum einen Monat
später. Während des darauffolgenden Sommers waren wir nicht sicher, ob wir den
Salat, den Blumenkohl und den Spinat vom Felde noch verzehren dürfen, ohne selbst
wie ein Kernkraftwerk zu strahlen. Damit nicht genug: am 1. November 1986 wurde
die Basler Bevölkerung jäh aus dem Schlaf gerissen, Sirenen heulen um fünf Uhr
in der Früh die ganze Stadt wach. Ein Grossbrand beim Chemie-Konzern Sandoz
in Schweizerhalle bescherte dem Land seine eigene Industrie-Katastrophe
mit weitreichenden Folgen: im Rhein verendeten Tonnen von Fischen. Und mit dem
Umweltthema Waldsterben bestand in der Schweiz sowieso schon seit
geraumer Zeit eine Art Endzeitstimmung. Damit waren positive, zuversichtliche
Zukunftsszenarien vorerst vom Tisch. Alles Zusätzliche war den Leuten einfach zu
viel. Die Sehnsucht nach einem gewöhnlichen, normalen und unbedrohten
Leben beherrschte das Feld. Da passte eine CH91, die den bereits kontaminierten
Boden wieder aufwirbeln würde, nicht gut rein...
Mir hätte
diese Stimmungslage eigentlich egal sein dürfen, denn sogar mein Direktor war
der Ansicht, dass den Landesweiten Aktivitäten, für welche ich verantwortlich
zeichnete, der Ausgang der Abstimmungen nichts anhaben könne. Meine Aufgabe
bestand einfach darin, die vorhandenen und bereits aufgegleisten Projekte
ausserhalb der Innerschweiz so zu bündeln, dass sie in ihrer Gesamtsicht einen
Sinn ergaben. Ich verwendete für die eingangs erwähnten Clusters neuerdings den
Begriff der Wegweiser. Sieben an der Zahl sollten es werden, unter denen
ein Grossteil der Projekte seinen ordentlichen Platz gefunden hätte. Der Rest
allerdings hätte über die Klinge springen müssen. Die Frage war einzig noch die
Organisationsstruktur. Soll es pro Kanton ein OK, also ein Organisationskomitee
im Sinne eines Vereins, geben, oder sind die Projektträger lediglich
Arbeitsgemeinschaften, welche von einer Zentrale aus, also von der CH91
koordiniert und geführt würden? Wo würden sich dann die Budgetverantwortung und
das Controlling befinden?
So rasch ich
mit der Ausrichtung der Wegweiser vorankam, so reich an Fallstricken schienen
mir diese organisatorischen Fragen zu sein. Unbewusst schob ich meine Vorschläge,
die ja dann vom Stiftungsrat in Absprache mit den Kantonen hätten beurteilt und
genehmigt werden müssen, vor mich her. Irgendwie schien mir vor diesem 26.
April in der Direktion auch niemand bereit, sich ernsthaft damit zu
beschäftigen. Alle flatterten herum, und ich war nur froh, immer mal wieder
unterwegs zu sein.
* * *
Immerhin
dachte der Stiftungsrat schon einmal darüber nach, wie es nach den Abstimmungen
von Ende April weitergehen könnte. Die Landesweiten Aktivitäten waren am 2.
März auch ein Traktandum, und nach meiner Präsentation bedankte ich mich für
die Aufmerksamkeit und für das Vertrauen, das ich nicht zu missbrauchen hoffe,
worauf mein Chef lapidar meinte: „Wir auch nicht“, was bestimmt die richtige
Antwort auf dieses saudumme Schlusswort von mir war.
Ein weiteres
Traktandum war ein Wettbewerb, der die Leute animieren sollte, sich für die
CH91 etwas einfallen zu lassen. Stiftungsratspräsident Xaver Reichmuth,
Luzerner Ständerat, monierte, dass in der Jury zu wenig Innerschweizer Einsitz
hätten. Die Frage, ob eine Maria Walliser, geboren im St. Gallischen Mosnang,
ihres Zeichens aber immerhin zweifache Siegerin des Gesamtweltcups im
Skirennfahren, für eine solche Jury die richtige Wahl sei, müsse dahingestellt
bleiben.
Auch ich
begann über die bevorstehenden Abstimmungen hinaus zu planen. Mit einiger
Verwunderung stellte ich dabei fest, wie wenig mich diese CH91 im Grunde
beschäftigte, und wie wenig Bedauern da auszumachen war, sollte das Vorhaben
scheitern. Ja, es gab zwar emotionale Wechselbäder, denn es arbeiteten im Büro
auch ein paar Leute meines Vertrauens, bei denen ich es bedauert hätte, wenn
das Arbeitsverhältnis zur CH91 sein vorzeitiges Ende gefunden hätte. Doch
in mein Tagebuch schrieb ich am 3. März: Das Vorhaben bleibt mir fremd.
Werde überhaupt nicht warm dabei. Ich funktioniere zwar, aber mir ist
eigentlich alles egal. Ist dies vielleicht das Merkmal eines veritablen
Managers?
Der
bevorstehende Aids-Test, den ich vor lauter Angst seit mehr als einem Monat vor
mir herschob, bewegte mein Gemüt mehr. Einerseits, weil ich mich gerne und
kerngesund wieder in eine neue Beziehung eingelassen hätte, und andrerseits,
weil ich mir Gedanken machte, was ich mit meinem Rest-Leben noch alles
anstellen würde, sollte ich positiv getestet werden. Ich erstellte dafür eine
Liste mit Optionen.
Bei der
Wahl, sofort zu kündigen oder vorerst so weiterzumachen wie bisher, als ob
nichts wäre, war ich mir nicht ganz sicher. Immerhin verdiente ich rechtes Geld
und war dank meiner Anstellung gut versichert, was bei einer vorzeitigen,
panikartigen Kündigung hinfällig geworden wäre. Ziemlich weit vorne auf der
Liste befand sich auch der Wunsch, noch in eine grosse Stadt mit Hochhäusern
auszuwandern. Zug, Zürich, ja, die Schweiz waren mir zu klein. Einmal im Leben
hätte ich gerne noch ein wirkliches Downtown-Feeling gelebt,
Stadtgeräusche, wie sie nur mit Wolkenkratzern als Verstärker hörbar sind, steife Winde,
welche erst zwischen hohen Häusern entstehen und Röcke heben und Zeitungen
herumflattern lassen, U-Bahn-Fahrten, bei denen man nicht weiss, was oben
geschieht, und wo in den Tunnelschächten dieser typische Geruch herrscht aus
einer Mischung von Metallstaub, Schmierfett, Elektrisch und Urin.
Als
Alternative zum Grossstädtischen hatte ich aber auch klösterliches Sterben auf
meiner Liste. Destination Kloster Engelberg, wo Pater Eugen furchterregende
Engel malte, den Internatsschülern Zeichenunterricht gab und Gedichte schrieb.
Ich kannte den Gottesmann von einem Doku-Film her, den ich fürs Schweizer
Fernsehen ein gutes Jahr zuvor über Innerschweizer Künstler drehte, und worin
ich, unter anderen, auch ihn porträtierte. Die Begegnung mit diesem religiösen
Künstler hinterliess bei mir einen bleibenden Eindruck. Mir gefiel insbesondere
seine malerische Auffassung von Engeln. Sie waren bei ihm keine lieblichen
Barockputen, sondern mit schnellem Stift gezeichnete, schwebende Erscheinungen.
Anmutig waren sie nur aus sicherer Distanz. Kamen sie aber näher und schwebten
vom Engelberger Rotstock, vom Wissigstock oder gar vom Brunnistock
hernieder, so war das kein schöner und verheissungsvoller Anblick mehr. Ihr
Flügelschlag war imstande, einen Bergsturz auszulösen. Ihr grelles Licht, einem
Blitz gleich, ihr Getöse und ihre Fratzen verkündeten Unheil, und man musste
schon ziemlich fromm sein, um ihrem Anblick standzuhalten und nicht zur
Salzsäule zu erstarren oder sich wenigstens im Keller zu verstecken. Hier tat
sich eine künstlerisch-martiale Sicht auf, die mir gefiel, vor allem
in Anbetracht meines nahen Todes, mit welchem ich rechnen musste, sollte ich
positiv getestet werden. Mir gefiel zudem, dass der Pater mit seinen Bildern im
Kloster nicht auf ungeteilte Zustimmung stiess. Er war ein Rebell und
Gotteshaderer in priesterlichem Gewand.
* * *
Es dürfte
etwas Repetitives bekommen, wenn ich hier all die vielen weiteren Meetings bis
Ende April chronologisch auflisten würde. Thema, Botschaft und Ziel waren ja
stets dieselben. Einmal befanden wir uns in Fribourg, das andere Mal in Zürich,
dann wieder in Solothurn, stets empfangen, begleitet und eingeführt von lokalen
und kantonalen Honoratioren. Meine Beobachtung war: je höher der Status, umso
gewandter im Ausdruck. Regierungsräte beherrschten im Allgemeinen ihr Handwerk,
während Lokalpolitiker rhetorisch auf unterschiedlichen Wegen unterwegs waren.
Auch an der Muba
in Basel bespielten wir einen Stand. Vor uns ein Studio der SRG, linkerhand
eine kleine Offset-Druckerei und die nachgestellten Redaktionsräumlichkeiten
von Ringier, und im Hintergrund spielte die Beny Rehmann-Band.
Dann wieder Bellinzona, Lachen/Schwyz, und später Lausanne, Sion, Genf und
Delémont. Meinen gebetsmühlenartigen Präsentationen vermochte ich bei jedem
weiteren Mal ein bisschen mehr Schliff zu verleihen. Sogar mein Französisch
enthielt jetzt wesentlich mehr subjonctifs als früher, was meine
Gesprächspartner in der Romandie mit einem wohlwollenden Nicken quittierten.
Sie sahen, dass ich mir zumindest Mühe gab. Der subjonctif half mir zudem, das
Vorhaben schön zu relativieren und ihm etwas von der affirmativen Spitze zu
nehmen. Wer weiss schon, was nach dem 26. April geschehen wird...
Für meinen
Aids-Test brauchte ich zwei Anläufe. Ich wollte ihn lieber anonym in einer
Klinik machen lassen als bei meinem Hausarzt. Bei ihm hätte ich mich in Grund
und Boden geschämt, wenn ich positiv getestet worden wäre, weil ich mich meinem
Doktor gegenüber doch stets bemühte, einen seriösen Lebenswandel vorzutäuschen,
was ich bei einer HIV-Infektion wohl kaum glaubhaft hätte darlegen können. In
der unpersönlichen Klinik hingegen gab es pro Woche zwei Zeitfenster, wo man
ohne Anmeldung und ohne Hinterlassung von identifizierbaren Daten zum Test
erscheinen konnte: montags und mittwochs zwischen 17 und 18 Uhr. Das erste Mal
war der Wartsaal um viertel nach fünf schon rappelvoll. Ich wurde gar nicht
mehr reingelassen. Erleichtert verzog ich mich wieder. Galgenfrist. Das zweite
Mal klappte es dann. Den Gang zum Richtplatz kannte ich schon. Um halb fünf zog
ich eine Nummer und wartete draussen im Hof. Von dort aus konnte ich
beobachten, wie sich das Wartezimmer langsam füllte. Es waren zumeist dezent
gekleidete Herren unterschiedlichen Alters, oft mit einem Ehering am Finger. –
Nach der Blutentnahme gab man mir eine Telefonnummer, wo ich einige Tage später
anzurufen hatte unter Nennung eines selbstgewählten Passworts. Ich entschied
mich für fluent english.
Doch statt
mich, Tage später, über die Mitteilung zu freuen, dass man mir keine HI-Viren
im Blut nachweisen konnte, überkam mich ein eher schales Gefühl, eine Art
postnataler Depression. Jetzt gab es keine Entschuldigung mehr, den Bettel
einfach hinzuschmeissen, abzuschleichen und alles Unangenehme, was mich in den
letzten Monaten belastete und in naher Zukunft noch belasten wird, abzustreifen
zu Gunsten eines zwar begrenzten, aber immerhin von Freiheit geprägten, letzten
Lebensabschnittes. Meine zuvor erstellte Wunschliste rückte plötzlich in weite
Ferne und drohte am Horizont ganz zu verschwinden. Ich fühlte mich, so paradox
es tönt, meinem Schicksal ausgeliefert und bekam Angst, als gesunder Mensch den
anstehenden Anforderungen nicht gewachsen zu sein. Jetzt galt es auch, doch
noch eine Frau zu finden, und ich wusste, dass dies schwierig zu werden drohte,
denn da tauchte plötzlich ein junger, attraktiver Mann aus der Nachbarschaft
auf, der mir eines Abends einen Joint anbot, und dessen Geste ich fatalerweise so
interpretierte, dass er Interesse an mir haben könnte. Das mochte bis zu einem
gewissen Grade auch zutreffen, denn ihm taten sich mit seinen 17 Jahren Welten
auf, die er alle unbedingt erfahren wollte. Doch während sich Frauen ihm
gegenüber noch reserviert zeigten, sie wollten ja erobert werden, dienten sich
ihm Männer an und gaben ihm zu verstehen, dass er ein Prinz sei. Ich gehörte zu
dieser Sorte und machte ihm den Hof, und er verdankte es mit intensiven Küssen,
welche sich in dem Moment in sehnsüchtigen Schmerz verwandelten, wenn er
Stunden später mein Haus wieder zu verlassen pflegte. Dann fühlte ich mich noch
einsamer, verlorener und hilfloser als je zuvor. Dieser Typ machte mich krank,
und ich sah – fatalerweise – während Wochen als einzige Medizin dagegen, einen
weiteren Joint mit ihm zu teilen, den er mir auch gewährte. Meine Qual wurde
jedes Mal grösser. War dies die Alternative zu Aids?
* * *
Die
Abstimmungen rückten unweigerlich näher. Die Nervosität im Büro steigerte sich
ins fast Unerträgliche. Wenn aber alle nervös sind und herumflattern, kippt
hektische Betriebsamkeit plötzlich in ein Grundrauschen. Wie bei einem Bach,
dessen einzelne Tropfen zwar herumwirbeln wie verrückt, doch in der Summe ihrer
immerwährenden Bewegtheit Ruhe ausstrahlen und einschläfernd wirken. Herr Mohr
hatte sich zudem für ein paar Tage nach London abgesetzt, um dort
Elektrofahrzeuge zu inspizieren, und ich besetzte das Büro ganz für mich ganz
allein. Es war, als ob mich nichts mehr anginge. Ich starrte aus dem Fenster und
beobachtete die Gotthard-Züge. Die Leute stiegen auf der anderen Wagenseite aus
und ein. Ich sah, wie sie ungeduldig im Gang schon anstanden, wenn der Zug
einfuhr, und ich konnte diejenigen beobachten, die nicht warten konnten, bis
alle ausgestiegen waren. Sie zwängten sich an den Aussteigenden vorbei, um sich
auf dieser Gotthardstrecke einen Fensterplatz zu sichern und möglichst viele
Male das Chileli von Wassen zu bestaunen. Irgendwie empfand ich keine Lust beim
Gedanken, für diese Menschen eine eidgenössische Jubiläumsfeier vorzubereiten.
Sie waren mir alle fremd.
Ein paar
Sitzungen noch, ein paar Telefonate auch, und dann war dieser schicksalshafte
Sonntag endlich da. Es war abgemacht, dass wir uns nach Nidwalden
begeben und den Ausgang der Volksabstimmungen dort verfolgen würden. Es war
meine erste Landsgemeinde, an welcher ich als Augenzeuge teilnahm, und als wir
in Wil an der Aa in Oberdorf bei Stans ankamen, wurde ich gewahr, dass
ich auf der anderen Seite der Kantonsstrasse auf dem Waffenplatz schon einmal
Dienst getan hatte. Die währschaften Nussgipfel des nahen Gasthauses waren mir
noch in bester Erinnerung.
Die
Stimmberechtigten betraten also in den von Kastanienbäumen umsäumten Ring, und
wir Besucher hielten uns in gebührender Distanz aber in Hörweite zum
politischen Geschehen auf. Anderau und Schilling hatten zuvor noch eine
Rollenverteilung vorgenommen, denn nach der Abstimmung war eine Pressekonferenz
angesagt. Sollte die CH91-Vorlage angenommen werden, so würde sich unser
Direktor lobend äussern und Schilling mahnend. Es müsse eine würdevolle
Landesausstellung mit viel Inhalt und Antworten für die Zukunft werden und kein
Biergartenfest, würde er sagen. Würde unser Vorhaben aber abgelehnt, so müsste
Anderau sein grosses Bedauern zum Ausdruck bringen, während Schilling sich
insofern positiv äussern würde, als da ja noch der Weg der Schweiz und
die Landesweiten Aktivitäten seien, welche die würdige Begehung des 700.
Geburtstags der Eidgenossenschaft garantierten.
Komplex war
die Angelegenheit insofern, als niemandem klar war, was geschehen würde, wenn
einige Kantone die Vorlage annehmen und die anderen dasselbe Vorhaben ablehnen
würden. Hätte dies eine Reduktion der Themenauswahl zur Folge, oder würden die
heimatlos gewordenen Themen den übrig gebliebenen Kantonen aufgebürdet? Was
hätte dies für finanzielle Folgen? Diese Ungewissheit des Was-Wenn
förderte wohl das Misstrauen des Stimmvolks gegenüber der CH91 auch noch. Wir
hatten Transistorradios dabei, damit wir auch das Abstimmungsgeschehen in den
anderen Kantonen verfolgen konnte. Wir waren nicht die einzigen: Als klar war,
dass Schwyz und Obwalden die Vorlage bachab geschickt hatten, ging ein Raunen
durch die Menge. Die Ablehnung in Nidwalden mit überwältigendem Mehr, einige
Minuten später, war dann keine Überraschung mehr.
Anderau
wandte sich mir zu und sagte säuerlich: Ich gratuliere Ihnen. Sie haben
gewonnen! – Ich war konsterniert. Hatte er mich tatsächlich monatelang als
subversive Person wahrgenommen, als jemanden, der es am liebsten hätte, die
CH91 käme gar nicht zustande? Mir war doch von Anfang an bewusst, dass die
Landesweiten Aktivitäten keine Chancen haben, wenn das Kernstück in der
Zentralschweiz fehlt. Und gleichwohl hatte er in seiner Beobachtung nicht ganz
unrecht. Ich konnte bei mir keine Enttäuschung ausmachen. Ich fand den Ausgang
der Abstimmungen hochspannend und befreiend, auch wenn ich dabei kein Gefühl
eines Sieges empfand.
* * *
In den
folgenden Tagen stellte sich das ein, was ich eigentlich beim Ausgang meines
Aids-Tests erwartet hätte. Endlich eröffneten sich mir neue
Handlungsspielräume. Die Ungewissheit, wie es mit mir weitergehen könnte,
mobilisierte erfrischende Energie, und mir kam in jenen Tagen der Vorfall im
Hafen von Belém in den Sinn, als ich in jungen Jahren nach einer
mehrwöchigen Fahrt auf dem Amazonas von Bord ging, um mir für die
Weiterfahrt durch den Dschungel ein Busbillett zu erstehen. Ich beliess dabei
mein Gepäck auf dem Boot, und als ich zurückkam, war es weg. Ich erinnere mich
an keinen Schock, sondern an die Herausforderung, die Weiterfahrt und meine
damit verbundene Existenz zu sichern. Es wurde zur wohl glücklichsten Busfahrt
meines Lebens. Die Mitfahrenden hatten Verständnis für meine beschränkten
Mittel, offerierten mir Wasser und etwas zu essen, jemand bezahlte mir bei
einem Zwischenhalt auf der langen Strecke sogar ein erfrischendes Duschbad.
Für die
langjährigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei der CH91 sah es etwas anders
aus. Zwei Jahre für die Katz, dürften sich einige gesagt haben. Am Montag taten
einige so, als ob nichts passiert wäre, andere liessen mit sehr langen
Gesichtern ihrer Enttäuschung freien Lauf. Überdies stellte sich heraus, dass
unsere PR-Frau im 7. Monat schwanger war, was das sardonische Lächeln auf ihrem
Gesicht erklärte. Sie hatte ihre eigene Agenda, und es war wohl das erste Mal,
dass ich mich ihr nahe fühlte. Allerdings nur für kurze Zeit, denn sie kündigte
an, dass sie sich nach dem Wochenbett-Urlaub mit Hochfinanz, Gewerbe und
Industrie um den Schweizer Teil der Weltausstellung 1992 im spanischen Sevilla
kümmern würde. Zudem plane sie zusammen mit Ständerat Markus Kündig, dem
Präsidenten des Schweizerischen Gewerbeverbandes, als Fingerübung
und als Einübung auf die grosse Kiste von Sevilla, für 1991 eine Art
Landesausstellung, die nichts mehr mit den hinterwäldlerischen, rotgrünen
Innerschweizern zu tun habe. Wo, war zu diesem Zeitpunkt noch unklar.
Wahrscheinlich Zug, den Stammlanden von Kündig.
Im Büro
verkündete unser Chef hingegen die Devise, man soll fürs Debakel keine
Schuldzuweisungen vornehmen und keine Sündenböcke ausfindig machen. Doch ein
Wort über Rolle und Verantwortung unserer Stiftung beim Ausgang der
Abstimmungsresultate hätte ich schon erwartet. Er aber verbot allen Mitarbeitenden,
sich gegenüber der Presse zu äussern. – Am Donnerstag darauf verkündete der
Bundesrat, eine Landesausstellung soll zu einem späteren Zeitpunkt stattfinden,
und unsere Stiftung solle sich auf die Aktivitäten der Bundesfeier 1991 beschränken.
Nirgends war die Rede von den 150 landesweiten Projekten im Rahmen meiner
Wegweiser. Unverzüglich wurde mein Budget auf null gestellt, doch niemand wagte
es, mir zum jetzigen Zeitpunkt schon zu kündigen. So befand ich mich von jetzt
an in einem seltsamen Theater ungeklärter Rollen und konzentrierte mich darauf,
erst einmal einen Brief an meine Projektverantwortlichen zu verfassen, worin
ich erklärte, was der Bundesrat verlautet habe und wie die Stiftung dies
interpretiere. Es war eine Art Abschiedsbrief und enthob mich jeder weiterer
Funktion innerhalb unserer Organisation. Von nun an war ich nur noch Zaungast
und Lohnbezüger ohne Auftrag. Büronachbar Mohr, seiner ursprünglichen Funktion
als Manager der Innerschweizer Events auch enthoben, sah sich plötzlich als
Krisenmanager und analysierte das Schadenspotential jedes einzelnen
Mitarbeiters. Ich kam dabei schlecht weg, weil ich ohne Rücksprache noch zwei
Sitzungen mit mir wichtigen Themenkoordinatoren abgemacht hatte, um
herauszufinden, ob sie auch ohne CH91 ihre Ziele verfolgen würden, was ich sehr
unterstützt hätte. Das sei Insubordination, meinte darauf der selbsternannte
Troubleshooter. Noch schlechter kam nur noch Ruedi Schilling weg, dem Mohr
vorwarf, unter Umgehung der CH91 sein eigenes Süppchen zu kochen.
Langsam
verbreitete sich unter uns mittlerem Kader die Erkenntnis, dass die CH91 eine
stark angeschlagene Organisation war. Doch den Chefs kam nichts Besseres in den
Sinn als der Vorschlag, einen Entwicklungspsychologen zur Teambildung
beizuziehen. Jetzt? Auf einem sinkenden Schiff, wo jeder bereits nach der
Devise Rette-sich-wer-kann handelte? Die Frage war doch eher, sich
kündigen zu lassen oder selbst zu kündigen. Ich konnte beobachten, wie die
Leute jeweils das Büro verliessen, um von einer Telefonkabine aus zu ihre Anrufe zu tätigen. Es sprach sich herum, dass die Wände hier jetzt Ohren hätten.
Doch nein.
Für den nächsten Rapport wurden wir (zur Teambildung bloss?) beauftragt, ein
jeder möge doch die drei wichtigsten Themen für 1991 nennen, die man dann dem
Bundesrat vorschlagen werde. Einer meiner Themenkoordinatoren, der dieses
Treiben aus nächster Nähe beobachten konnte, meinte dazu trocken, dass auch bei
Toten noch eine Zeit lang Haare und Nägel wachsen. Es war aber so, dass meine
Chefs tatsächlich der Ansicht waren, mit neuem Elan und mit neuen Ideen die
Lecks dieses sinkenden Schiffes stopfen zu können. Sie machten sich damit im
engsten Umfeld zu lächerlichen, realitätsfremden Figuren.
Ungeachtet
der Innerschweizer Resultate glimmten im Weichbild der Schweiz aber immer noch
Schwelbrände, wo Feuer und Motivation zur Realisierung von CH91-Projekten zu
vermuten waren. Im Stapferhaus Lenzburg zum Beispiel versammelten sich
am Wochenende des 9. Mai Versprengte, welche sich mit ihren Vorhaben bei den
Anwesenden Gehör zu verschaffen versuchten, wobei das Publikum ausschliesslich
aus anderen Projektverantwortlichen bestand, welche sich durch die Präsentation
jedes weiteren Projekte eher bedroht als motiviert fühlten. Ich hatte genug
Zeit, im Tagebuch folgendes zu notieren, auch wenn ich mir dabei schlecht
vorkam. Doch ich hatte nicht die Kraft, den präsentierten Ideen auch nur einen
Hauch von Aufmerksamkeit zu schenken und ihnen auch nur die kleinste Chance
einzuräumen. Stattdessen schrieb ich mir seitenlang folgendes auf:
- Leider
muss ich aus Zeitgründen darauf verzichten... nur so viel..
- Ich weiss,
dass wir keine Zeit haben, erlauben Sie mir trotzdem, dass ich kurz...
- Noch eines
habe ich fast vergessen...
- Zum
Schluss...
- Sicher
wäre es interessant, noch...
- Erlauben
Sie mir zum Schluss die Feststellung...
- Ich danke
für die Aufmerksamkeit, ich weiss, dass es etwas länger gedauert hat...
- Vielleicht
haben wir Gelegenheit, bei der anschliessenden Diskussion auf das eine oder
andere noch einzugehen...
Nach diesen
Floskeln dauerte es bis zum wirklichen Schluss der einzelnen Präsentationen im
Schnitt jeweils noch elf Minuten und neunundvierzig Sekunden..
* * *
Mir hingegen
stand der Sinn nach Ortsveränderung. Existierte da doch diese
Wunschliste, was ich tun würde, wenn ich HIV-positiv getestet worden wäre? War
meine Überlegung richtig, nur angesichts des Todes diese Liste zu realisieren?
Wäre es nicht gescheiter, angesichts des Lebens den einen und anderen Punkt auf
der Liste zu verwirklichen?
Hochhäuser!
– Paris? New York? Frankfurt?
Ich nutzte
die Zuger Agonie, wieder vermehrt Kontakte zu Freunden zu pflegen und das
Kulturangebot von Zürich mit wechselnder Begleitung zu geniessen. Ich sah mir
zum Beispiel im Kunsthaus ausgiebig eine umfassende Delacroix-Ausstellung
an. Oder ich begleitete die Chefin des Migros-Kulturprozents, Arina Kowner,
zu einem Konzert, wo der Bariton Wolfgang Holzmair mit Gérard Wyss
am Klavier die Schöne Magelone von Johannes Brahms interpretierten,
und wo Will Quadflieg die Zwischentexte las. Oder ich nahm einen ganzen
Samstag lang im Rieterpark an einem indischen Gartenfest teil und
begegnete bei dieser Gelegenheit Dutzenden von Bekannten und Freunden. Bei der
CH91 hingegen markierte ich nur noch dann Präsenz, wenn es absolut notwendig
schien: zu Sitzungen und Besprechungen, bei denen allerdings von Anfang an klar
war, dass sie zu nichts führten. Gleichwohl, der Bezug eines gewissen Lohnes
verpflichtete.
Die innere
Unruhe allerdings wuchs. Ich begann wieder, journalistische Aufträge für die Weltwoche,
den Tages-Anzeigers und die Schweizer Illustrierten anzunehmen,
weniger der Schreiblust wegen als vielmehr zur Sicherung meines
Beziehungsumfeldes. Ich begeisterte mich für einen Macintosh-Computer, und
dann, Mitte Juni, war es endlich so weit, in ungekündigtem Zustand für einige
Zeit wegzufahren. Ich wollte in Erfahrung bringen, was es mit den Hochhäusern
in Frankfurt am Main auf sich hat. Auch wollte ich das Deutschland-Drama mit
Maria mit schöneren Erfahrungen aufwiegen, machte deswegen noch einen Umweg
über Köln, wo ich mich mit Freunden traf, bevor ich nach Frankfurt am Main
weiterfuhr. Das sexdurchdrungene Bahnhofsviertel beeindruckte mich, aber ich
hatte eine Verabredung mit der Buchhändlerin Melusine Huss, die ich
nicht verpassen wollte, denn sie hatte für mich ein Theaterticket zur Seite
gelegt. Zusammen besuchten wir am selben Abend im Theater am Turm das
Stück Zerlinde nach einer Erzählung von Hermann Broch mit der
grossartigen Jeanne Moreau als Magd. Hier bekam ich eine Ahnung, was der
Duft der weiten Welt bedeutet, den ich in Zukunft lieber riechen wollte als den
Zuger Mief. Nach der Aufführung wurde in den Räumlichkeiten des Betriebsbüros
Party gefeiert, und Theaterintendant Christoph Vitali, zu dessen Mutter
ich in Zürich dreissig Jahre früher in die Primarschule ging, fragte mich spontan,
ob ich nicht bei ihm arbeiten kommen wolle. Das fing gut an. Wir machten auf
ein paar Tage später zum Vorstellungsgespräch ab, dazwischen besuchte ich noch
die Kasseler Documenta und den Spaziergangswissenschaftler Lucius
Burckhardt und seine Frau Annemarie. Zu dieser Zeit organisierten
die beiden im Rahmen einer Anti-Documenta-Aktion Wanderungen durch die Auen von
Kassel, auf denen Ausschnitte aus Georg Forsters Buch über seine
Entdeckungsreisen in Tahiti mit Captain Cook zum Besten gegeben
wurden. Es war eine vergnügliche und dem Närrischen zugewandte Veranstaltung,
eine wunderbare Ergänzung zu den künstlerischen Interventionen eines Ian
Hamilton Finlay und dessen Guillotine-Wegs in der Karlsaue, und den
Video-Installationen eines Nam June Paik, die mir in meiner eigenen Unbestimmtheit
Wege aufzeigten, was man bewirken kann, wenn man der eigenen Nase folgt.
Zurück in
Frankfurt, ernüchterte mich dann aber das Bewerbungsgespräch im Theater am
Turm. Der Tenor der Anwesenden: ich sei überqualifiziert, und man wisse auch
nicht so recht, was ich mit meinem Leben noch wirklich anstellen wolle. Vitali
sagte es so: ich müsse mich entscheiden, selbst etwas auf die Beine zu stellen,
wozu ich das Potential durchaus hätte, oder mich einzufügen, wozu ich aber
schon ein bisschen zu alt sei. Plötzlich schienen für einen Augenblick lang die
Hochhäuser von Frankfurt in sich zusammenzufallen. Irritiert fuhr ich am nächsten
Tag in die Schweiz zurück, die mir nur allzu bekannt vorkam.
Zum
Abschluss dieses ersten Halbjahres 1987 steckte bei meiner Ankunft die
Kündigung der CH91 im Briefkasten. Der letzte Eintrag in meinem Tagebuch
lautet: Die Notizen hier drin halte ich jetzt für abgeschlossen. Miles
Davis am Fernsehen. Ich mit kahlgeschorenem Kopf.
________
©Nikolaus Wyss
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