Donnerstag, 23. April 2020

Ein halbes Jahr - Erinnerungen an 1987


Foto: Dorothee Hess, 1987

Im Jahr 1987 verlor ich meine grosse Liebe, machte meinen ersten Aidstest und arbeitete ein paar Monate für eine Schweizerische Landesausstellung, die nie zustande kam. Alles in der ersten Hälfte jenes Jahres.

 

Das Glück war mir hold. Zur Erholung fuhren Maria und ich am 28. Dezember 1986 für ein paar Tage an die Nordsee. Reiseziel war die ostfriesische Insel Borkum. Beim Wechsel von der Fähre zur Kleinbahn und später auf dem kurzen Fussmarsch vom Bahnhof zum Hotel Atlantik klatschte uns der bissige Wind Eiskristalle ins Gesicht. Der Teint verdankte es mit rosiger Frische. Kaum im Zimmer, liessen wir die Badewanne volllaufen und liebten uns im heissen Wasser. Innig und einander heftig zugetan fiel mir wie nie zuvor Marias feurige Begierde auf. Später sprach ich sie darauf an, und sie murmelte etwas von Hormonen. Ich: Kinderwünsche? – Darauf gab sie keine Antwort, lächelte aber milde, was ich als Zugeständnis deutete. Was hätte mich glücklicher machen können als dies?
    Am Abend begaben wir uns Hand in Hand in den Speisesaal, wo es nach Sauerbraten und Rotkraut roch. Wir wurden zu einem Paar aus Stuttgart gesetzt. Sie stellten sich als Susanne und Thomas vor. Sie war Grafikerin, er Weinhändler. So stand vom ersten Augenblick an fest, wer für uns den Wein auswählen würde. Das darauffolgende Tischgespräch liess an Konventionalität nichts zu wünschen übrig. Kinder? Garten? Haustiere? Kochen? Beruf? Hobbies? Vereinsaktivitäten? Schweiz? Deutschland? DDR? Terrorismus? Tschernobyl? Perestroika? Gorbatschow? Helmut Kohl? Riesling? Mosel? Dôle? Spanier? Jahrgang? Luigi Colani? Adrian Frutiger? TransAtlantik? Primitivo? – Wir quittierten die Themen und Meinungen mit zuvorkommendem Interesse. Susanne und Thomas taten das Gleiche. Mir gefiel diese belanglose Konversation. Es war wie das Schnurren bei einer Katze. Fängt man erst einmal an, ihren Hals zu kraulen, so wird alles friedlich, etwas langweilig, aber gut. Mich störte einzig, dass Maria zuweilen nicht imstande war, simple Antworten zu geben. Sie umhüllte diese stets mit einem Schuss unnötiger Rätselhaftigkeit. Als sie zum Beispiel gefragt wurde, was sie arbeite, antwortete sie, sie sei Köhlerin. Natürlich verlangte dies eine Nachfrage. Wie meinen Sie das? – Doch sie brachte es nicht fertig zu sagen, sie sei Künstlerin. Ihre Kunst bestand zu jener Zeit aus mit Kohlestiften gezeichneten wunderbaren, grossformatigen, geometrischen Formen auf Packpapier. In einem aufwendigen Verfahren verschwelte sie in einem Minimeiler die dafür benötigten Zeichenstifte. Ich fühlte mich jedenfalls veranlasst, das eine oder andere Mal klärend zu intervenieren.
    Später beim Zähneputzen stellte Maria spöttisch fest, wir hätten uns wie ein altes Ehepaar aufgeführt. Als ich begeistert zustimmte, meinte sie, es sei ihr dabei nicht eben wohl gewesen.
    Am nächsten Morgen erlaubte die beginnende Ebbe, weit ins Meer hinauszuwandern. Das Hotel stellte uns Stiefel zur Verfügung, verbunden mit der Aufforderung, rechtzeitig wieder den Rückweg anzutreten, um nicht plötzlich weit draussen von den steigenden Fluten überrascht und vom Festland abgeschnitten zu werden. Auf unserem ausgedehnten Fussmarsch mit regelmässigem Blick auf die Uhr sahen wir Rudel von Seehunden. Sie hatten sich viel zu erzählen und grunzten und quietschten sich fröhlich an. So drollig sie sich auch fortbewegten, so elegant konnten sie daliegen mit Flossen und Kopf in die Höhe. Sie sahen dann aus wie entsprechend gefaltete Papierschiffchen oder venezianische Gondeln. Auch der feuchte, nach Fisch und Seetang riechende Meeresboden war voller Leben. Hier stieg eine Blase empor, dort verschwand eine Krabbe, und über uns kreischten Möwen und balgten sich um die Leckerbissen, die das Wattenmeer in reicher Auswahl darbot. Wir waren zufrieden mit der Wahl unseres Reiseziels, auch wenn wir ursprünglich nach Biarritz hätten fahren wollen, uns aber ein Streik der französischen Staatsbahnen daran gehindert hatte.

* * *
    Meine Glücksgefühle aber gründeten nicht allein auf meinem Zusammensein mit Maria. Sie stellten sich schon Tage vorher ein anlässlich einer gelungenen Weihnachtssendung des Schweizer Fernsehens, die ich als zuständiger Redakteur verantworten durfte: Wir sendeten am Heiligen Abend live aus Studio drei. Die Moderatorin Olga Piazza unterhielt sich mit geladenen Gästen, darunter auch mit einem griechischen Koch, der für die Anwesenden im Ofen einen Lammbraten mit viel Rosmarin und Knoblauch schmoren liess. Als Einspieler gab es Kurzreportagen über die Herstellung von Christbaumschmuck, über einen Engel von Mensch, der sich für die Ärmsten der Armen einsetzte, und ein Orgelstück mit Chor. Auch eine Aussenschaltung zu einer Dorfkirche im Berner Oberland war Bestandteil der Sendung. Ein Reporter schilderte, wie Weihnachten dort oben gefeiert wird.
    An den Proben kam einmal auch mein Chef vorbei, um sich ein Bild von den Vorbereitungen zu machen. Er befand, die beiden Christbäume im Studio seien zu klein. So liess er grössere herbeibringen, was zu Überstunden des Dekorateurs, zum Ankauf weiteren Baumschmucks und in letzter Minute zu einer ergänzenden Beleuchtungsprobe führte. Für mich aber waren diese angeordneten Budgetüberschreitungen Zeichen seiner Wertschätzung. Die Sendung soll gelingen, auch wenn ich, sein sonst ungeliebter Mitarbeiter, die Finger im Spiel habe. Und, sollte sie gelingen, würde auch ich vom Lob und von der Anerkennung profitieren dürfen. Das nahm der Chef offenbar in Kauf und unterstützte mich im Rahmen seiner Möglichkeiten mit immerhin zwanzig Zentimeter höheren Weihnachtsbäumen.
    Diese kleine Geste war für mich so etwas wie das versöhnliche Zeichen nach einem doch eher betrüblichen Kapitel meiner beruflichen Laufbahn. In meiner Erinnerung waren die beiden Jahre als Kulturredakteur beim Schweizer Fernsehen geprägt von unangenehmen Begegnungen mit diesem Mann, die von Nörgeleien bis hin zu genereller Missgunst gegenüber meiner Arbeit reichten. Nach heutigem Jargon würde man so etwas als Mobbing bezeichnen. – Vielleicht war von seiner Seite aber auch etwas Eifersucht im Spiel. Denn ich konnte es gut mit meinen Kolleginnen und Kollegen, mit den Kameraleuten, den Cutterinnen, den Tontechnikern, den Beleuchtern – mit allen eigentlich. Ganz im Gegensatz zu ihm, der stets bessere Sendungen forderte, ohne jedoch je in der Lage gewesen zu sein, dazu einen konstruktiven Beitrag zu leisten. Ich litt unter dieser Diskrepanz und kündigte auf Ende des Jahres.
* * *
    Ich erinnere mich nicht mehr, ob ich Vorsätze fasste fürs neue Jahr. Ich war schon auf gutem Weg. Einen neuen Job in Aussicht, die Frau meines Lebens an meiner Seite, ein mögliches Kind. Wir feierten Silvester im Hotel, fanden allerdings an der Rambazamba-Musik in der Lobby keinen Gefallen und zogen uns schon kurz nach dem mitternächtlichen Zuprosten aufs Zimmer zurück. Für den Morgen darauf planten wir früh mit Bähnchen, Fähre und Intercity nach Köln weiterzureisen. Ich genoss die Fahrt im warmen Waggon durchs winterliche schneeverwehte Deutschland. Maria und ich unterhielten uns in vertrautem Ton, und ab und zu dösten wir für ein Weilchen friedfertig ein.
    Köln war menschenleer, regennass und kalt. Alle schienen noch mit einem Eisbeutel auf der Stirn ihren Rausch auszuschlafen. Eine günstige Bleibe mochten wir der Witterungsverhältnisse wegen nicht suchen. So quartierten wir uns kurzerhand im nächstliegenden Hotel ein, dem luxuriösen Inter-Continental mit Minibar und Blick auf den nahen Dom. In mein Tagebuch schrieb ich dazu: Ein Überriss für eine Nacht. Maria geniesst es wohl mehr als ich, der das noch berappen muss. Im Fernsehen Baby Schimmerlos in der 6. Folge von Kyr Royal gesehen. Sehr gute Serie.“ 
     
Und dann, eine Nacht später, nachdem wir in ein billigeres Hotel gewechselt und vorher noch schnell in der Derby-Bar das wohl schlechteste Sandwich unseres Lebens hinuntergewürgt hatten, es war trocken, fad, und man musste es von den schlaffen Salatblättern befreien, stand unsere kleine Welt plötzlich Kopf. Ohne Vorankündigung. Statt uns zu einem weiteren Beischlaf anzuschicken, fing Maria hemmungslos an zu weinen. Sie weinte und weinte – der Tränenfluss wollte einfach kein Ende nehmen. Ich fragte, was denn los sei, und bediente sie pausen- und hilflos mit Kleenex aus dem Badezimmer. Sie aber fand keine Worte für ihre Gefühle. Um Mitternacht weinte sie immer noch, und ich wusste nicht, ob ich mich jetzt gleichwohl schlafen legen durfte, oder mich mit gutem Zureden wach zu halten hatte. Sie weinte auch noch um eins und um zwei, und ich konnte es mir nicht erklären. Ihre Periode dürfte es nicht sein, schloss ich messerscharf, die hatte sie doch kurz vor Weihnachten schon. Vor ein paar Stunden noch spazierten wir friedlich zum Wallraf-Richartz-Museum hinüber, zur Sammlung Ludwig auch und schauten uns Bilder aus unterschiedlichen Epochen an. Nichts deutete auf ein solches Ende dieses Tages hin. Ja, beim Betrachten des Chagall-Bildes Moses zerbricht die Gesetzestafeln, das uns beiden eigentlich nicht gefiel, sprachen wir über ein Kind und was es für uns zwei bedeuten würde. Ich liess keinen Zweifel aufkommen, dass es für mich das höchste der Gefühle wäre.
    Erschöpft und wortlos begaben wir uns am darauffolgenden Morgen zum Frühstück, bestiegen ein paar Stunden später den Zug und traten als zwei stumme Fragezeichen den Heimweg in die Schweiz an. Maria brachte auf der ganzen Strecke kein Wort heraus, und ich zwang mich, meine drängenden Fragen ruhen zu lassen. Es herrschte auf der ganzen Fahrt Erklärungsnotstand und dräuende Depression. Die Winterlandschaft, die mich auf der Reise nach Köln noch faszinieren konnte, zeigte jetzt nur noch ihre düstere Endzeitfratze. Maria kehrte am selben Abend in ihr Künstlerhäuschen in den Bergen zurück, und ich verkroch mich, so gut es ging und mit tausend Rätseln im Kopf, in meiner Wohnung in Zürich-Schwamendingen.
* * *
    Am nächsten Tag trat ich in Zug meine neue Stelle an. Zuvor hatte ich mir noch eine neue Aktentasche erstanden. Sie roch gut nach Leder. Ich behielt das zerknüllte Papier, das dem Objekt ein gewisses Volumen verlieh, auf meinem Weg zum neuen Arbeitsort noch in der Tasche. Die Büros befanden sich in unmittelbarer Nähe zum Bahnhof und waren nur durch eine Unterführung getrennt. Meine Stellenbezeichnung lautete Leiter Landesweite Aktivitäten. Damit war die Koordination von Projekten gemeint, welche im Rahmen des 700. Geburtstags der Eidgenossenschaft im Jahre 1991 im ganzen Land hätten realisiert werden sollen. Als Kernstück der Jubiläumsfeierlichkeiten war eine Landesausstellung in der Zentralschweiz geplant, wofür eine Stiftung gegründet und eine Organisation mit dem Namen CH91 aufgebaut worden ist. Ich war neu Teil dieser Organisation, gleichzeitig aber auch autonom. Mir oblag es, diejenigen Aktivitäten in Einklang zu einem Gesamtkonzept zu bringen, die zum Beispiel in Genf, in Rorschach, in Delémont oder in Bellinzona zu diesem Anlass hätten realisiert werden sollen und im besten Falle auch in der Landesausstellung selbst einen gewissen Niederschlag gefunden hätten. 
    Spiritus rector dieser komplexen Idee war Ruedi Schilling, seines Zeichens Publizist und Redakteur beim Magazin des Tages-Anzeigers, ein brillanter Denker, der es verstand, den Stiftungsrat der CH91 auf seine Ideen einzuschwören, ohne aber allzu sehr die damit verbundenen operativen und politischen Schwierigkeiten mitzubedenken. Vor allem aber ohne Rücksicht auf das fantasielose Personal, das diese Ideen umzusetzen hatte. Da war der Direktor Walter Anderau, seines Zeichens Generalstabsoberst und Historiker, der, wie mir schien, nichts anderes im Sinne hatte, als vier Jahre später an der Seite des Bundesrates mit dem feierlichen Durchschneiden des roten Bandes die Zentralschweizer Landesausstellung zu eröffnen. Andere Visionen entdeckte ich bei ihm im Laufe unserer Zusammenarbeit kaum. Ihm zur Seite arbeiteten, so wurde mir mit der Zeit bewusst, willfährige Professionelle. Sie kannten die Management-Rituale aus dem Effeff, die sich zu jener Zeit noch an den militärischen Führungsprinzipien von Auftrag und Kontrolle anlehnten.
    Zu dieser Zeit befand sich alles noch ziemlich in den Wolken. Ich sollte mich darum kümmern, in meinem Bereich Strukturen zu schaffen und die Ideen auf den Boden beziehungsweise zum Fliegen zu bringen. Die Aufgabe gefiel mir. Weniger gefiel mir allerdings, im selben Büro wirken zu müssen wie Vize-Direktor Mohr. Dieser telefonierte laut und hing mir gegenüber den Chef heraus. Das brauchte ich nach zwei Jahren Schweizer Fernsehen jetzt nun wirklich nicht mehr. Schon am ersten Tag wollte er mir das Budget kürzen, worauf ich ihn aufmerksam machte, dass mir bei der Unterzeichnung des Vertrags eine andere Summe genannt worden sei. Die erfolgreiche Verteidigung meiner Ressourcen gab mir immerhin ein gewisses Selbstbewusstsein, das mein schlimmes Erlebnis mit Maria in einem etwas weniger grellen Licht erscheinen liess. In schrieb dazu in mein Tagebuch: Meine hobbypsychologische Neugier versagt. Ihr Puff langweilt mich zusehends. Soll sie doch dort oben in den Bergen ihre Dinge machen, die sie nicht gern Kunst nennt und die gleichwohl Kunst sein sollte. Doch klar, die unerklärliche Entzweiung bleibt ein Stachel in meinem Fleisch. Tausendfach bewährte Vertrautheit lässt sich nicht einfach mit einer Pinzette entfernen. 
    Und dann folgte noch dieser Satz in Grossbuchstaben: WIE SIEHT DIE SCHWEIZ 1991 AUS? WELCHE BEDÜRFNISSE HAT SIE DANNZUMAL?
* * *
    Bei meiner Ankunft im Zuger Büro lagen bereits Dutzende von Plastikmäppchen auf meinem Pult. Texte und Inhalte waren nicht nach einer bestimmten Systematik aufgebaut. Die einen bestanden aus lockeren Projektideen, ja Skizzen, andere enthielten bereits ganze Abhandlungen mit Referenzen, Budgets und Finanzierungsplan. Es waren um die 150 an der Zahl. Ich begann zu lesen und machte mir dazu Notizen. Dafür brauchte ich mehrere Tage. Während der Lektüre kristallisierten sich mit der Zeit einige Schlüsselbegriffe heraus. Begegnung, Begegnungsort, maison de rencontre waren ein Cluster. Ein weiterer waren Ökologie, Natur, Nachhaltigkeit, Renaturierung, Landschaft. Viel Städtebauliches war auch darunter: Lebenswerte Städte, Wohnen, Häuser, Heimat, Planung, Habitat, Oekopolis. Dann auch Héritage, Kunst, Kultur, Erlebnis- und Lehrwege. An Wirtschaftsprojekten hingegen, Stichworte KMU und Innovation, Industrie, Globalisierung, Schweizer Präsenz in der weiten Welt, Uhren und Milchpulver, Medizintechnik, Chemie, Banken und Europa mag ich mich kaum erinnern. Diese Art von Projekten wäre wohl eher Bestandteil der eigentlichen Landesausstellung an den verschiedenen Innerschweizer Standorten gewesen. Kontakte zur Forschung, zu Universitäten, zum Gewerbeverband und zur Industrie gab es schliesslich, davon berichtete jeweils unser Chef an seinen wöchentlichen Rapports, hielt sich aber bedeckt, worum es konkret bei diesen Vorhaben ging. Der Ereignisschwerpunkt Neugier und Forschung wäre ursprünglich für den Kanton Luzern vorgesehen gewesen, der allerdings seine Teilnahme an der CH91 bereits im Jahre 1985 wegen einer negativ ausgefallenen Volksabstimmung zurückgezogen hatte. Ich weiss nicht mehr, wie man diesen heimatlosen Schwerpunkt auf die verbliebenen fünf Standorte, die selbst schon Schwerpunkte zu stemmen hatten, aufteilen wollte.
Bei „meinen“ dezentralen Projekten gut vertreten waren das Wallis, die Waadt, etwas Tessin, Basel-Stadt und Aargau. Andere Kantone und Städte hingegen wie Zürich, Bern und St. Gallen übten sich in grösserer Zurückhaltung. Sie planten zwar, so wurde mir versichert, auch Jubiläumsaktivitäten, sahen diese aber nicht als Teil der CH91, was mich anfangs etwas irritierte, weil ich diese Sonderzüglein nicht verstehen wollte.
    Meine Aktenmappe füllte sich schnell, und das Lösen eines Generalabonnements der SBB war ein Gebot der Stunde. Ich war schliesslich die meiste Zeit auf Achse und damit wenigstens der Präsenz Mohrs entzogen. Mein Kalender füllte sich in Windeseile mit Treffen und Sitzungen.
    Eine der ersten Zusammenkünfte fand in Sarnen statt. Es ging dort ums Thema Häuser und Heimat. Herr Huwyler war von Anfang an dagegen. „Es wird zu viel gebaut“, liess er verlauten. Das Projekt sei nicht nachhaltig, sondern fördere den Konsum. Damit bezog er die Gegenposition zu Herrn Bucher, der im Projekt eine gute Gelegenheit sah, den Besuchern Wohnen einst und jetzt nahezubringen. Huwyler: Ballenberg befindet sich doch grad hinter dem Brünig. Das ist nah genug. 
    Vorgesehen war auch die Schaffung eines Wander- und Radwegs zwischen den in der ganzen Landschaft verstreuten Häusern und Ausstellungsobjekten, was sich als der unbestrittenste Teil des Vorhabens herausstellte, auch wenn er in Konkurrenz stand zum geplanten Weg der Schweiz rund um den Urnersee. Doch die Argumente aus Obwalden waren schlagend. Erstens befinde sich Obwalden nicht am Urnersee, und auf dem Weg der Schweiz könne man nicht Fahrrad fahren. Doch gerade diese Art von Fortbewegung fördere die Kontemplation, sagten sowohl Huwyler als auch Bucher. Zuletzt mündete die Diskussion in die Behauptung, je mangelhafter die intellektuelle Fähigkeit der Besucherinnen und Besucher, umso mehr brauche es Spektakel. Umgekehrt: mündige und selbständig denkende Menschen seien auf Spektakel nicht angewiesen. Wen wollen wir hier in Sarnen willkommen heissen? lautete die alles umfassende Frage.
Ich war leider noch nicht so weit, das Profil des Zielpublikums zu definieren und verliess den Ort ohne präzise Antwort. Auf dem Rückweg fragte ich mich auch, wieso ich für dieses Projekt zuständig sein soll. Es war doch in den Kernlanden der geplanten Expo angesiedelt.
* * *
    In jener Nacht quartierte ich mich in Luzern im Hotel Rebstock ein, denn am folgenden Tag waren in dieser Stadt weitere Besprechungen angesagt. Allein im Bett kam mir die Geschichte mit Maria wieder hoch. Ein grässlicher Gedanke fing an von mir Besitz zu ergreifen. Könnte es sein, dass diese Frau es entgegen eigenen Beteuerungen doch nicht ertrug, dass ich mich auch noch für junge Männer zu begeistern vermochte? Aus meiner Sicht hatte meine Beziehung zu ihr doch zu einer massiven Beruhigung an der Männerfront geführt. Bei ihr hatte ich endlich meine Gefühle dort, wo ich sie immer haben wollte: unter Kontrolle. Mir schien nichts wichtiger zu sein als das gute Einvernehmen mit ihr. Sie genoss absolute Priorität. Meine Aufmerksamkeit für junge Männer hatte sich dadurch spürbar verringert. Sie war zwar immer noch vorhanden, verlor aber an Dringlichkeit, unter welcher ich früher so litt.
    Und jetzt, als die Frage nach Kindern hochkam – bekam sie da kalte Füsse?
    Ich weinte einsam und verloren vor mich hin und fühlte mich von ihr ungerecht behandelt. Sie verweigerte mir die Möglichkeit, mich als guter Vater zu erweisen. Nicht einmal reden konnten wir darüber. Seit Köln haben wir kein Wort mehr miteinander getauscht. Diese Sprachlosigkeit nach einer so verheissungsvollen Zeit liess mich verzweifeln. Mein Vater kam mir in den Sinn. Meine Mutter gestattete ihm zwar mich zu zeugen, dann aber war Schluss. Eine Ahnung beschlich mich da im Hotelzimmer, welche Ohnmacht diesen Mann heimgesucht haben musste, die später jahrelang in Form blinder Wut auf meine Mutter niederprasselte und mich zum Zankapfel zweier unversöhnlicher Parteien werden liess. Würde mir so etwas auch bevorstehen, hätte ich ein Kind gezeugt?
    Als ich nach meinen beiden Tagen Besprechungen in der Zentralschweiz wieder nach Hause kam, entdeckte ich auf dem Treppenabsatz ein säuberlich geschnürtes Paket. Darin lagen Kondome, mein Pyjama, meine Hausschuhe, Zahnpaste und Zahnbürste, Socken, Rasiermesser und Rasierschaum, Eau de Cologne und einige Dinge mehr, an die ich mich jetzt nicht mehr erinnern kann. Zuunterst eine Karte von Maria mit der knappen Bitte, ihr ihre Habseligkeiten, die sich noch bei mir befänden, doch auch zurückzuschicken, und die Kohlezeichnung, die sie mir seinerzeit geschenkt hatte, ihr zurückzugeben. Sie brauche sie zur Gesundung. Mir aber war vom ersten Augenblick an klar, dass das Bild bei mir zu bleiben hat. Es war ein Geschenk, und ich wollte es behalten, um gesund zu bleiben.
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    Meine Arbeit brachte mich in die abgelegensten Talschaften der Schweiz. Auch dort wurde über 700 Jahre Eidgenossenschaft nachgedacht und über der Frage gebrütet, wie man diesem Jubeljahr an Ort am ehesten gerecht werden könnte. Doch statt mit einem immer grösseren Überblick und mit klareren Gedanken kam ich regelmässig mit noch grösserer Verwirrung in die Zentrale nach Zug zurück. Zum Teil lag es auch daran, dass mein Französisch dieser Art von Aufgabe einfach nicht gewachsen war, geschweige denn mein Italienisch. Hätte ich doch bei meinem virtuosen Französischprofessor in der Mittelschule besser aufgepasst, und hätte ich mich von der französischen Arroganz und Affektiertheit und von der italienischen Sprachlust nicht so sehr einschüchtern lassen. Ich empfand es jedenfalls als Demütigung, wenn im Verlauf der Gespräche plötzlich auf Deutsch gewechselt werden musste, nur weil ich gewisse Worte nicht auf Anhieb fand oder verstand, oder weil ich mich in abenteuerlichen Konstruktionen verhedderte. Manchmal diente dann als Ausweg auch das Englische als lingua franca. Dort waren wenigstens die Spiesse etwa gleich lang.
    Von manchen Projektgruppen wurde ich insofern instrumentalisiert, als ich ihr Projekt retten sollte, nachdem dieses von der zuständigen Stelle des Kantons, auf dessen Hoheitsgebiet es ausgeführt werden sollte, bereits abgelehnt worden war. Fallen zuhauf. Und statt dass ich aufgrund meiner landesweiten Kontakte eine Sammlung schöner Projekte zusammenstellen konnte, lernte ich mehr über die fein ziselierten politischen Landschaften der Schweiz, über deren Empfindlichkeiten und über das Hierarchiebewusstsein der Behörden aller Stufen, woraus dann unüberwindbare Territorien, strikte Verantwortlichkeiten und unteilbare Befugnisse abgesteckt wurden. Und ich lernte auch einiges über das hohe Frustrationspotential der Projektträger, allen Widrigkeiten zum Trotz eine eigene Idee verwirklichen zu wollen.
* * *
    Am Donnerstag, 12. Februar 1987, fand in Zug wieder einmal eine weitere Sitzung statt, welche Ordnung in die noch ziemlich verworrene und uneinheitliche Public Relations der CH91 bringen sollte. Neben einer stattlichen Anzahl von CH91-Mitarbeitern waren auch ein paar externe Experten eingeladen, zum Beispiel ein Dr. Dieter Jäggi, Oberst und PR-Konsulent aus Gümligen bei Bern, dessen Interventionen ich in meinem Tagebuch als „nicht unintelligent“ vermerkte. Des Weiteren fand sich auch eine Delegation der PR-Firma Trimedia ein, die sich aber durch eine unvergleichlich dogmatische Sturheit auszeichnete. Auch anwesend war Mme Anita Nebel-Schürch, von welcher man annehmen durfte, dass sie etwas von den Empfindlichkeiten und kommunikativen Vorlieben der Romands verstand, lebte die Luzerner Journalistin und Lehrerin doch schon seit geraumer Zeit in Collex-Bossy bei Genf. Mit dabei war auch Freund Ruedi Schilling.
    Unsere PR-Beauftragte der CH91, Irene Dinten Flüeler, leitete die Sitzung, die als Brainstorming angelegt war. Von diesem langfädigen Treffen nahm ich mit, dass sich hier zwei absolut unvereinbare PR-Konzepte gegenüberstanden, wobei ich schon von Anfang an wusste, für welches sich Frau Dinten am Schluss erwärmen würde. Wieso denn die Zeitverschwendung einer uninspirierten, mehrstündigen Sitzung?
    Die einen plädierten für die statische Linie. Dort wäre von Anfang an jede Formulierung und jedes Argument auf Jahre hinaus festlegt gewesen. Man hätte sich davon je nach Bedarf und kommunikativer Situation per Knopfdruck einfach bedienen können. Walterli, der Sohn des legendären Wilhelm Tell, mit einem von einem Pfeil durchbohrten Apfel auf dem Kopf, wäre dabei als Maskottchen die Verkörperung dieser CH91 gewesen!
    Die andere Fraktion, zu welcher ich gehörte, setzte auf Personalisierung, Dynamisierung und auf attraktive Projekte, will heissen, die Kommunikation wäre über Menschen aus Fleisch und Blut gegangen, über Menschen, die etwas zu sagen gehabt hätten, und die für die CH91 einen substanziellen Beitrag leisteten. Gegen Schluss der Sitzung torpedierte ich allerdings selbst diese Idee, weil sich die Menschen hier im Raum nie als Team begreifen und sich gegenseitig auch nie eine öffentliche Profilierung gönnen würden. Wir sagten nicht einmal du zueinander. Wie sollte sich auf einem solch übersäuerten Mist je eine unité de doctrine heranwachsen?
    Gleichentags fuhr ich noch nach Chur. Ich hatte mit Chasper Pult abgemacht, dem CH91-Delegierten des Kantons Graubünden, der mir von den Projekten in seinem Kanton erzählen wollte. Er anerbot mir sogar eine Übernachtungsmöglichkeit bei sich zu Hause. So konnte ich am nächsten Morgen rechtzeitig bei Dr. Claudio Riesen vorsprechen, dem damaligen Direktor der Standeskanzei. Ihm ging der Ruf voraus, sich vorbildhaft für Aktivitäten im Zusammenhang mit der CH91 einzusetzen.
    Doch als ich in Chur ankam, war Chasper im Säli des Capellerhofs noch mit den Proben der rätoromanischen Version von Friedrich Dürrenmatts Theaterstück Romulus beschäftigt, die er mit seinen Kantonsschülern zur Aufführung bringen wollte. Ich wartete also im Foyer und wartete und wartete. Jede weitere Viertelstunde des Wartens gab mir noch deutlicher zu verstehen, was für eine vernachlässigbare, unbedeutende Person ich doch sei. Zu allem Überfluss nistete sich in dieser Delle des Selbstbewusstseins auch noch der Schrecken ein, ich könnte vielleicht HIV-positiv sein. Ich konnte bei mir zwar keine Anzeichen dafür erkennen, doch mein gelegentlicher Lebenswandel zu früheren Zeiten konnte diesen Fakt nicht ganz ausschliessen. Zum damaligen Zeitpunkt wusste man auch noch so wenig über die Symptome und Wirkungsweisen dieses Virus. Solche Überlegungen passten hervorragend zu meiner Hängepartie mit Maria, und ich war um 23.15 Uhr nur noch ein Häufchen Elend, als Chasper aus der Tür des Sälis trat und mich herzlich begrüsste. Mit seinem R4 fuhren wir darauf nach Paspels und sprachen noch bis zum frühen Morgen, was alles im Bündnerland an Jubiläumsaktivitäten angedacht war. Dieses Briefing sollte mich am nächsten Morgen befähigen, beim Standeskanzleidirektor eine gute Falle zu machen. Als ich dann doch noch ins Bett stieg, schienen mir die Leintücher bereits eingeschlafen.
* * *
    Am nächsten Morgen um 9.45 Uhr traf ich Walter Anderau, meinen Direktor, vor der Standeskanzlei. Es war das erste Mal, dass ich mit ihm in offizieller Mission unterwegs war. Ich tat mein Bestes, für die CH91 alle Ehre einzulegen, doch ich war für seinen Geschmack wohl zu aktiv. Während ich gerne die direkte Rede pflege, nahm Anderau bei seinen Ausführungen jeweils lieber diplomatischen Anlauf mit der Bemerkung, er sei Historiker. „Ich als Historiker...“, liess er zum Beispiel verlauten, oder: „als Historiker würde ich sagen...“ – Damit verlieh er seinen Aussagen einen objektiveren Anstrich von geschichtlicher Warte aus.
    Auch musste ich erkennen, dass sich Pults Briefing in der vorangegangenen Nacht als völlig überflüssig erwies, denn Dr. Riesen kam schon bald auf sein Lieblingsanliegen zu sprechen, auf das Projekt der Offenen Schweiz, welches Chasper überhaupt nicht erwähnt hatte. Der Architekt Jakob Zweifel, der schon massgeblich an der Expo64 in Lausanne mitgewirkt hatte, setzte es in die Welt. Seine Idee war, dass jeder Kanton einen ausländischen Staat einlädt und für diesen während der CH91 Gastgeber spielt. Reizvoll, aber vom System her falsch, beschied Anderau, und ich nickte zustimmend und beflissen. „Ich als Historiker muss Ihnen sagen“, hob mein Chef an, „dass es dem Bundesrat vorbehalten ist, andere Staaten einzuladen. Wenn Kantone sowas beabsichtigten, müssten sie beim Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten, EDA, vorstellig werden. Anders ginge das gar nicht. Kantone sind keine Ansprechpartner für ausländische Staaten.“ Damit war unser Auftritt beendet, und wir wurden diplomatisch verabschiedet.
* * *
    Am 20. Februar feierte ich meinen Geburtstag. Es fiel mir schwer, auf mein bisheriges Leben dankbar und erfüllt zurückzublicken. Und es fiel mir noch schwerer, die Frage zu beantworten, was aus mir noch werden soll. Wer bist du und wohin bewegst du dich? Ich wurde immerhin schon 38 und fand wohl zu Recht, dass solche Fragen zehn Jahre früher hätten abschliessend beantwortet werden müssen. Ich eierte meinen Lebtag planlos von einer Verpflichtung zur anderen und wusste bei jeder, dass sie nicht das ist, was mich hätte erfüllen können. Als zusätzliche Hypothek lastete dieses Jahr das Scheitern meiner Beziehung zu Maria auf mir.
     
Doch zum Jammern fehlte mir an diesem Tag trotz Lust die Zeit. Am Morgen fuhr ich zu einer Themenkommissionssitzung nach Bern. Die Zusammenkunft fand im BIGA-Haus statt. Zu meiner nicht geringen Überraschung gratulierte mir der Pförtner zum Geburtstag. Oben angekommen, entnahm Chasper Pult dem Automaten gerade eine Hefeschnecke, die er mir an meinen Sitzplatz auf den Tisch legte und mir dazu alles Gute wünschte. Christiane Kleider aus Genf wiederum hatte Schokolade mitgebracht, und Anita Nebel bedachte mich mit einer Zuger Kirschtorte mit einem brennenden Kerzchen obendrauf. Diese überraschenden Gaben versüssten die Kommissionssitzung unter der umsichtigen Leitung von Ruedi Schilling ungemein. Herr Schneider, Sekretär der Bankier-Vereinigung, lud uns dann alle zum Lunch ins Della Casa ein.
So überraschend und für mich erfreulich diese Sitzung mit Vertretern aus allen vier Landesteilen auch verlief, in mir kristallisierten sich folgende Erkenntnisse heraus: a) solche freundeidgenössische Kommissionen sind schwerfällig und wenig inspirierend; b) die eigentliche Arbeit muss vorher geleistet werden; c) ich muss mich unbedingt mit Leuten umgeben, die mich herausfordern.
Ich hatte das Glück, am selben Nachmittag gerade die Probe aufs Exempel zu machen. Ich war mit Claire-Lise Gilliéron und ihrem Gatten René Levy, Soziologieprofessor an der Uni Lausanne, verabredet, die sich in schon fast rührender Weise der CH91 angenommen hatten und sie mit interessanten Ideen zu alimentieren versuchten. Was die Zusammenkunft mit ihnen zusätzlich so erfrischend machte, war die Möglichkeit zu schnöden und ironische Bemerkungen fallen zu lassen, ohne sich dafür erst erklären zu müssen. Ich sah in den beiden künftige Komplizen und schöpfte Hoffnung, dass mit Menschen dieses Schlages durchaus etwas Interessantes auf die Beine gestellt werden könnte.
    Abends wieder in Zürich besuchte ich meine Mutter im Spital. Sie hatte sich einer Operation unterziehen müssen und war etwas ungehalten über den langsamen Heilungsprozess, der erst noch durch eine Lungenembolie erschwert wurde. Sie hing an Schläuchen. Ich versuchte sie zu beruhigen, was mir aber nicht so richtig gelingen wollte. Immerhin waren auch Goldy und Paul Parin-Matthèy zu Besuch, die sich umsichtig und wortreich um sie kümmerten. Alle drei waren Meister im Klönen und ergänzten sich fabelhaft. Ich aber war diesmal etwas ungeduldig und auf dem Sprung, wollte ich doch zum Abendessen noch ein paar Freunde treffen. In der Metzg im Seefeld warm empfangen, durfte ich erkennen, dass ich mich mit meiner Geburtstagsdepression am frühen Morgen endgültig auf dem falschen Dampfer befunden hatte. Was für ein Tag positiver Überraschungen und voller Wohlwollen hatte sich da vor mir ausgebreitet.
    Am Montag darauf fand mein Geburtstag noch eine unverhoffte Fortsetzung. Das Büro-Personal in Zug überreichte mir einen Blumenstrauss, gratulierte und liess durchblicken, dass es jetzt an mir sei, ihnen allen etwas zum zVieri zu spendieren. Dieser Erwartung kam ich gerne nach, wobei für mich das fröhliche Beisammensein insofern etwas getrübt war, als ich gerade kurz vorher vernehmen musste, dass Andy Warhol während einer Gallenblasenoperation an einem Herzschlag verstorben sei. Dieser Künstler bedeutete mir so viel. Er inspirierte mich zum Vorhaben, 1978 mit meinem Studienkollegen Walter Keller zusammen eine Zeitschrift namens Der Alltag – Sensationen des Gewöhnlichen herauszubringen, nachdem ich Jahre zuvor in New York seine Zeitschrift Interview verschlungen hatte, worin er seitenlang belanglose Smalltalks mit unterschiedlichsten Gesprächspartnern veröffentlichte. Er inspirierte mich auch zu einer weiteren Zeitschriftenidee, die Dr. Bockler’s hiess. Warhols Fähigkeit, Banales und Alltägliches in schnörkelloser Direktheit darzustellen und ihnen durch Benennung und Multiplikation eine eigenständige Bedeutung zu verleihen, faszinierte mich. Mich störte lediglich, dass er von einer Gesellschaftsschicht vereinnahmt wurde, welcher ich die Sensibilität für sein Programm schlichtweg absprach. Daran war er selbst sicher nicht unschuldig, wahrscheinlich machte es ihm auch gar nichts aus, verdiente er doch damit einen Haufen Geld. Doch ich hielt mich stets für einen Besserversteher als diejenigen, die sich einen echten Warhol an der Wand leisten konnten. Dieser Anspruch übrigens hält bis heute beim Verfassen dieser Zeilen an.
    Leider währten in der Zuger Zentrale gesellige Momente wie diese Nachfeier zu meinem Geburtstag jeweils nicht lange. Business as usual hiess bei der CH91 Einzelkämpfertum, nachträgliche Korrekturen von Aktennotizen, Misstrauen, Missgunst, Missstimmung, Budget-Kürzungen, Blockierungen und Angst. Wie der Geruch des penetranten Pfeifentabaks von Vizechef Mohr schwebten in der Luft die Ungewissheit und die Furcht, wie es mit uns weitergeht, wobei sich diese Zukunftsangst weniger auf das noch weit entfernte Jahr 1991 bezog als vielmehr auf ein Datum in zwei Monaten, dem 26. April. An diesem Sonntag nämlich wollten die fünf Innerschweizer Kantone darüber befinden, ob sie diese auf fünf Standorte verteilte Landesausstellung überhaupt durchführen wollten. Unsere PR-Dame verbreitete im Büro zwar Zuversicht und berief sich auf aktuelle Umfragen. Doch ein jeder von uns kam in seiner privaten Agenda zu einem anderen Schluss. Und so gelang es unserer Mannschaft irgendwie nicht, die Vorzüge unseres Vorhabens glaubhaft in ein günstiges Licht zu stellen. Viele Interessensgruppen machten dagegen mobil: die CH91 werde ein Rummelplatz und beeinträchtige Schönheit und Natur der ursprünglichen Landschaft. Die CH91 sei viel zu teuer, war ein weiteres Argument. Und die Linke torpedierte die Idee als zu wenig minderheitenafin. Historikerfrauen begehrten auf und fragten, in welchem Masse und in welcher Form die Frauen vertreten seien. Zu staatserhaltend und ohne Visionen lauteten weitere Argumente dagegen.
    Doch mir schienen die Argumente gar nicht so ausschlaggebend. Es war die Stimmung generell. Ein knappes Jahr zuvor schon lehnte das Schweizer Stimmvolk den Beitritt zu den Vereinten Nationen mit einem wuchtigen Nein von 76 Prozent ab. Und dann kam die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl kaum einen Monat später. Während des darauffolgenden Sommers waren wir nicht sicher, ob wir den Salat, den Blumenkohl und den Spinat vom Felde noch verzehren dürfen, ohne selbst wie ein Kernkraftwerk zu strahlen. Damit nicht genug: am 1. November 1986 wurde die Basler Bevölkerung jäh aus dem Schlaf gerissen, Sirenen heulen um fünf Uhr in der Früh die ganze Stadt wach. Ein Grossbrand beim Chemie-Konzern Sandoz in Schweizerhalle bescherte dem Land seine eigene Industrie-Katastrophe mit weitreichenden Folgen: im Rhein verendeten Tonnen von Fischen. Und mit dem Umweltthema Waldsterben bestand in der Schweiz sowieso schon seit geraumer Zeit eine Art Endzeitstimmung. Damit waren positive, zuversichtliche Zukunftsszenarien vorerst vom Tisch. Alles Zusätzliche war den Leuten einfach zu viel. Die Sehnsucht nach einem gewöhnlichen, normalen und unbedrohten Leben beherrschte das Feld. Da passte eine CH91, die den bereits kontaminierten Boden wieder aufwirbeln würde, nicht gut rein...
    Mir hätte diese Stimmungslage eigentlich egal sein dürfen, denn sogar mein Direktor war der Ansicht, dass den Landesweiten Aktivitäten, für welche ich verantwortlich zeichnete, der Ausgang der Abstimmungen nichts anhaben könne. Meine Aufgabe bestand einfach darin, die vorhandenen und bereits aufgegleisten Projekte ausserhalb der Innerschweiz so zu bündeln, dass sie in ihrer Gesamtsicht einen Sinn ergaben. Ich verwendete für die eingangs erwähnten Clusters neuerdings den Begriff der Wegweiser. Sieben an der Zahl sollten es werden, unter denen ein Grossteil der Projekte seinen ordentlichen Platz gefunden hätte. Der Rest allerdings hätte über die Klinge springen müssen. Die Frage war einzig noch die Organisationsstruktur. Soll es pro Kanton ein OK, also ein Organisationskomitee im Sinne eines Vereins, geben, oder sind die Projektträger lediglich Arbeitsgemeinschaften, welche von einer Zentrale aus, also von der CH91 koordiniert und geführt würden? Wo würden sich dann die Budgetverantwortung und das Controlling befinden?
    So rasch ich mit der Ausrichtung der Wegweiser vorankam, so reich an Fallstricken schienen mir diese organisatorischen Fragen zu sein. Unbewusst schob ich meine Vorschläge, die ja dann vom Stiftungsrat in Absprache mit den Kantonen hätten beurteilt und genehmigt werden müssen, vor mich her. Irgendwie schien mir vor diesem 26. April in der Direktion auch niemand bereit, sich ernsthaft damit zu beschäftigen. Alle flatterten herum, und ich war nur froh, immer mal wieder unterwegs zu sein.
* * *
    Immerhin dachte der Stiftungsrat schon einmal darüber nach, wie es nach den Abstimmungen von Ende April weitergehen könnte. Die Landesweiten Aktivitäten waren am 2. März auch ein Traktandum, und nach meiner Präsentation bedankte ich mich für die Aufmerksamkeit und für das Vertrauen, das ich nicht zu missbrauchen hoffe, worauf mein Chef lapidar meinte: „Wir auch nicht“, was bestimmt die richtige Antwort auf dieses saudumme Schlusswort von mir war.
    Ein weiteres Traktandum war ein Wettbewerb, der die Leute animieren sollte, sich für die CH91 etwas einfallen zu lassen. Stiftungsratspräsident Xaver Reichmuth, Luzerner Ständerat, monierte, dass in der Jury zu wenig Innerschweizer Einsitz hätten. Die Frage, ob eine Maria Walliser, geboren im St. Gallischen Mosnang, ihres Zeichens aber immerhin zweifache Siegerin des Gesamtweltcups im Skirennfahren, für eine solche Jury die richtige Wahl sei, müsse dahingestellt bleiben.
    Auch ich begann über die bevorstehenden Abstimmungen hinaus zu planen. Mit einiger Verwunderung stellte ich dabei fest, wie wenig mich diese CH91 im Grunde beschäftigte, und wie wenig Bedauern da auszumachen war, sollte das Vorhaben scheitern. Ja, es gab zwar emotionale Wechselbäder, denn es arbeiteten im Büro auch ein paar Leute meines Vertrauens, bei denen ich es bedauert hätte, wenn das Arbeitsverhältnis zur CH91 sein vorzeitiges Ende gefunden hätte.  Doch in mein Tagebuch schrieb ich am 3. März: Das Vorhaben bleibt mir fremd. Werde überhaupt nicht warm dabei. Ich funktioniere zwar, aber mir ist eigentlich alles egal. Ist dies vielleicht das Merkmal eines veritablen Managers? 
    Der bevorstehende Aids-Test, den ich vor lauter Angst seit mehr als einem Monat vor mir herschob, bewegte mein Gemüt mehr. Einerseits, weil ich mich gerne und kerngesund wieder in eine neue Beziehung eingelassen hätte, und andrerseits, weil ich mir Gedanken machte, was ich mit meinem Rest-Leben noch alles anstellen würde, sollte ich positiv getestet werden. Ich erstellte dafür eine Liste mit Optionen.
Bei der Wahl, sofort zu kündigen oder vorerst so weiterzumachen wie bisher, als ob nichts wäre, war ich mir nicht ganz sicher. Immerhin verdiente ich rechtes Geld und war dank meiner Anstellung gut versichert, was bei einer vorzeitigen, panikartigen Kündigung hinfällig geworden wäre. Ziemlich weit vorne auf der Liste befand sich auch der Wunsch, noch in eine grosse Stadt mit Hochhäusern auszuwandern. Zug, Zürich, ja, die Schweiz waren mir zu klein. Einmal im Leben hätte ich gerne noch ein wirkliches Downtown-Feeling gelebt, Stadtgeräusche, wie sie nur mit Wolkenkratzern als Verstärker hörbar sind, steife Winde, welche erst zwischen hohen Häusern entstehen und Röcke heben und Zeitungen herumflattern lassen, U-Bahn-Fahrten, bei denen man nicht weiss, was oben geschieht, und wo in den Tunnelschächten dieser typische Geruch herrscht aus einer Mischung von Metallstaub, Schmierfett, Elektrisch und Urin.
    Als Alternative zum Grossstädtischen hatte ich aber auch klösterliches Sterben auf meiner Liste. Destination Kloster Engelberg, wo Pater Eugen furchterregende Engel malte, den Internatsschülern Zeichenunterricht gab und Gedichte schrieb. Ich kannte den Gottesmann von einem Doku-Film her, den ich fürs Schweizer Fernsehen ein gutes Jahr zuvor über Innerschweizer Künstler drehte, und worin ich, unter anderen, auch ihn porträtierte. Die Begegnung mit diesem religiösen Künstler hinterliess bei mir einen bleibenden Eindruck. Mir gefiel insbesondere seine malerische Auffassung von Engeln. Sie waren bei ihm keine lieblichen Barockputen, sondern mit schnellem Stift gezeichnete, schwebende Erscheinungen. Anmutig waren sie nur aus sicherer Distanz. Kamen sie aber näher und schwebten vom Engelberger Rotstock, vom Wissigstock oder gar vom Brunnistock hernieder, so war das kein schöner und verheissungsvoller Anblick mehr. Ihr Flügelschlag war imstande, einen Bergsturz auszulösen. Ihr grelles Licht, einem Blitz gleich, ihr Getöse und ihre Fratzen verkündeten Unheil, und man musste schon ziemlich fromm sein, um ihrem Anblick standzuhalten und nicht zur Salzsäule zu erstarren oder sich wenigstens im Keller zu verstecken. Hier tat sich eine künstlerisch-martiale Sicht auf, die mir gefiel, vor allem in Anbetracht meines nahen Todes, mit welchem ich rechnen musste, sollte ich positiv getestet werden. Mir gefiel zudem, dass der Pater mit seinen Bildern im Kloster nicht auf ungeteilte Zustimmung stiess. Er war ein Rebell und Gotteshaderer in priesterlichem Gewand.
* * *
    Es dürfte etwas Repetitives bekommen, wenn ich hier all die vielen weiteren Meetings bis Ende April chronologisch auflisten würde. Thema, Botschaft und Ziel waren ja stets dieselben. Einmal befanden wir uns in Fribourg, das andere Mal in Zürich, dann wieder in Solothurn, stets empfangen, begleitet und eingeführt von lokalen und kantonalen Honoratioren. Meine Beobachtung war: je höher der Status, umso gewandter im Ausdruck. Regierungsräte beherrschten im Allgemeinen ihr Handwerk, während Lokalpolitiker rhetorisch auf unterschiedlichen Wegen unterwegs waren.
    Auch an der Muba in Basel bespielten wir einen Stand. Vor uns ein Studio der SRG, linkerhand eine kleine Offset-Druckerei und die nachgestellten Redaktionsräumlichkeiten von Ringier, und im Hintergrund spielte die Beny Rehmann-Band. Dann wieder Bellinzona, Lachen/Schwyz, und später Lausanne, Sion, Genf und Delémont. Meinen gebetsmühlenartigen Präsentationen vermochte ich bei jedem weiteren Mal ein bisschen mehr Schliff zu verleihen. Sogar mein Französisch enthielt jetzt wesentlich mehr subjonctifs als früher, was meine Gesprächspartner in der Romandie mit einem wohlwollenden Nicken quittierten. Sie sahen, dass ich mir zumindest Mühe gab. Der subjonctif half mir zudem, das Vorhaben schön zu relativieren und ihm etwas von der affirmativen Spitze zu nehmen. Wer weiss schon, was nach dem 26. April geschehen wird...
    Für meinen Aids-Test brauchte ich zwei Anläufe. Ich wollte ihn lieber anonym in einer Klinik machen lassen als bei meinem Hausarzt. Bei ihm hätte ich mich in Grund und Boden geschämt, wenn ich positiv getestet worden wäre, weil ich mich meinem Doktor gegenüber doch stets bemühte, einen seriösen Lebenswandel vorzutäuschen, was ich bei einer HIV-Infektion wohl kaum glaubhaft hätte darlegen können. In der unpersönlichen Klinik hingegen gab es pro Woche zwei Zeitfenster, wo man ohne Anmeldung und ohne Hinterlassung von identifizierbaren Daten zum Test erscheinen konnte: montags und mittwochs zwischen 17 und 18 Uhr. Das erste Mal war der Wartsaal um viertel nach fünf schon rappelvoll. Ich wurde gar nicht mehr reingelassen. Erleichtert verzog ich mich wieder. Galgenfrist. Das zweite Mal klappte es dann. Den Gang zum Richtplatz kannte ich schon. Um halb fünf zog ich eine Nummer und wartete draussen im Hof. Von dort aus konnte ich beobachten, wie sich das Wartezimmer langsam füllte. Es waren zumeist dezent gekleidete Herren unterschiedlichen Alters, oft mit einem Ehering am Finger. – Nach der Blutentnahme gab man mir eine Telefonnummer, wo ich einige Tage später anzurufen hatte unter Nennung eines selbstgewählten Passworts. Ich entschied mich für fluent english
    Doch statt mich, Tage später, über die Mitteilung zu freuen, dass man mir keine HI-Viren im Blut nachweisen konnte, überkam mich ein eher schales Gefühl, eine Art postnataler Depression. Jetzt gab es keine Entschuldigung mehr, den Bettel einfach hinzuschmeissen, abzuschleichen und alles Unangenehme, was mich in den letzten Monaten belastete und in naher Zukunft noch belasten wird, abzustreifen zu Gunsten eines zwar begrenzten, aber immerhin von Freiheit geprägten, letzten Lebensabschnittes. Meine zuvor erstellte Wunschliste rückte plötzlich in weite Ferne und drohte am Horizont ganz zu verschwinden. Ich fühlte mich, so paradox es tönt, meinem Schicksal ausgeliefert und bekam Angst, als gesunder Mensch den anstehenden Anforderungen nicht gewachsen zu sein. Jetzt galt es auch, doch noch eine Frau zu finden, und ich wusste, dass dies schwierig zu werden drohte, denn da tauchte plötzlich ein junger, attraktiver Mann aus der Nachbarschaft auf, der mir eines Abends einen Joint anbot, und dessen Geste ich fatalerweise so interpretierte, dass er Interesse an mir haben könnte. Das mochte bis zu einem gewissen Grade auch zutreffen, denn ihm taten sich mit seinen 17 Jahren Welten auf, die er alle unbedingt erfahren wollte. Doch während sich Frauen ihm gegenüber noch reserviert zeigten, sie wollten ja erobert werden, dienten sich ihm Männer an und gaben ihm zu verstehen, dass er ein Prinz sei. Ich gehörte zu dieser Sorte und machte ihm den Hof, und er verdankte es mit intensiven Küssen, welche sich in dem Moment in sehnsüchtigen Schmerz verwandelten, wenn er Stunden später mein Haus wieder zu verlassen pflegte. Dann fühlte ich mich noch einsamer, verlorener und hilfloser als je zuvor. Dieser Typ machte mich krank, und ich sah – fatalerweise – während Wochen als einzige Medizin dagegen, einen weiteren Joint mit ihm zu teilen, den er mir auch gewährte. Meine Qual wurde jedes Mal grösser. War dies die Alternative zu Aids? 
* * *
    Die Abstimmungen rückten unweigerlich näher. Die Nervosität im Büro steigerte sich ins fast Unerträgliche. Wenn aber alle nervös sind und herumflattern, kippt hektische Betriebsamkeit plötzlich in ein Grundrauschen. Wie bei einem Bach, dessen einzelne Tropfen zwar herumwirbeln wie verrückt, doch in der Summe ihrer immerwährenden Bewegtheit Ruhe ausstrahlen und einschläfernd wirken. Herr Mohr hatte sich zudem für ein paar Tage nach London abgesetzt, um dort Elektrofahrzeuge zu inspizieren, und ich besetzte das Büro ganz für mich ganz allein. Es war, als ob mich nichts mehr anginge. Ich starrte aus dem Fenster und beobachtete die Gotthard-Züge. Die Leute stiegen auf der anderen Wagenseite aus und ein. Ich sah, wie sie ungeduldig im Gang schon anstanden, wenn der Zug einfuhr, und ich konnte diejenigen beobachten, die nicht warten konnten, bis alle ausgestiegen waren. Sie zwängten sich an den Aussteigenden vorbei, um sich auf dieser Gotthardstrecke einen Fensterplatz zu sichern und möglichst viele Male das Chileli von Wassen zu bestaunen. Irgendwie empfand ich keine Lust beim Gedanken, für diese Menschen eine eidgenössische Jubiläumsfeier vorzubereiten. Sie waren mir alle fremd.

Ein paar Sitzungen noch, ein paar Telefonate auch, und dann war dieser schicksalshafte Sonntag endlich da. Es war abgemacht, dass wir uns nach Nidwalden begeben und den Ausgang der Volksabstimmungen dort verfolgen würden. Es war meine erste Landsgemeinde, an welcher ich als Augenzeuge teilnahm, und als wir in Wil an der Aa in Oberdorf bei Stans ankamen, wurde ich gewahr, dass ich auf der anderen Seite der Kantonsstrasse auf dem Waffenplatz schon einmal Dienst getan hatte. Die währschaften Nussgipfel des nahen Gasthauses waren mir noch in bester Erinnerung.
    Die Stimmberechtigten betraten also in den von Kastanienbäumen umsäumten Ring, und wir Besucher hielten uns in gebührender Distanz aber in Hörweite zum politischen Geschehen auf. Anderau und Schilling hatten zuvor noch eine Rollenverteilung vorgenommen, denn nach der Abstimmung war eine Pressekonferenz angesagt. Sollte die CH91-Vorlage angenommen werden, so würde sich unser Direktor lobend äussern und Schilling mahnend. Es müsse eine würdevolle Landesausstellung mit viel Inhalt und Antworten für die Zukunft werden und kein Biergartenfest, würde er sagen. Würde unser Vorhaben aber abgelehnt, so müsste Anderau sein grosses Bedauern zum Ausdruck bringen, während Schilling sich insofern positiv äussern würde, als da ja noch der Weg der Schweiz und die Landesweiten Aktivitäten seien, welche die würdige Begehung des 700. Geburtstags der Eidgenossenschaft garantierten.
    Komplex war die Angelegenheit insofern, als niemandem klar war, was geschehen würde, wenn einige Kantone die Vorlage annehmen und die anderen dasselbe Vorhaben ablehnen würden. Hätte dies eine Reduktion der Themenauswahl zur Folge, oder würden die heimatlos gewordenen Themen den übrig gebliebenen Kantonen aufgebürdet? Was hätte dies für finanzielle Folgen? Diese Ungewissheit des Was-Wenn förderte wohl das Misstrauen des Stimmvolks gegenüber der CH91 auch noch. Wir hatten Transistorradios dabei, damit wir auch das Abstimmungsgeschehen in den anderen Kantonen verfolgen konnte. Wir waren nicht die einzigen: Als klar war, dass Schwyz und Obwalden die Vorlage bachab geschickt hatten, ging ein Raunen durch die Menge. Die Ablehnung in Nidwalden mit überwältigendem Mehr, einige Minuten später, war dann keine Überraschung mehr.
    Anderau wandte sich mir zu und sagte säuerlich: Ich gratuliere Ihnen. Sie haben gewonnen! – Ich war konsterniert. Hatte er mich tatsächlich monatelang als subversive Person wahrgenommen, als jemanden, der es am liebsten hätte, die CH91 käme gar nicht zustande? Mir war doch von Anfang an bewusst, dass die Landesweiten Aktivitäten keine Chancen haben, wenn das Kernstück in der Zentralschweiz fehlt. Und gleichwohl hatte er in seiner Beobachtung nicht ganz unrecht. Ich konnte bei mir keine Enttäuschung ausmachen. Ich fand den Ausgang der Abstimmungen hochspannend und befreiend, auch wenn ich dabei kein Gefühl eines Sieges empfand.
* * *
    In den folgenden Tagen stellte sich das ein, was ich eigentlich beim Ausgang meines Aids-Tests erwartet hätte. Endlich eröffneten sich mir neue Handlungsspielräume. Die Ungewissheit, wie es mit mir weitergehen könnte, mobilisierte erfrischende Energie, und mir kam in jenen Tagen der Vorfall im Hafen von Belém in den Sinn, als ich in jungen Jahren nach einer mehrwöchigen Fahrt auf dem Amazonas von Bord ging, um mir für die Weiterfahrt durch den Dschungel ein Busbillett zu erstehen. Ich beliess dabei mein Gepäck auf dem Boot, und als ich zurückkam, war es weg. Ich erinnere mich an keinen Schock, sondern an die Herausforderung, die Weiterfahrt und meine damit verbundene Existenz zu sichern. Es wurde zur wohl glücklichsten Busfahrt meines Lebens. Die Mitfahrenden hatten Verständnis für meine beschränkten Mittel, offerierten mir Wasser und etwas zu essen, jemand bezahlte mir bei einem Zwischenhalt auf der langen Strecke sogar ein erfrischendes Duschbad.

Für die langjährigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei der CH91 sah es etwas anders aus. Zwei Jahre für die Katz, dürften sich einige gesagt haben. Am Montag taten einige so, als ob nichts passiert wäre, andere liessen mit sehr langen Gesichtern ihrer Enttäuschung freien Lauf. Überdies stellte sich heraus, dass unsere PR-Frau im 7. Monat schwanger war, was das sardonische Lächeln auf ihrem Gesicht erklärte. Sie hatte ihre eigene Agenda, und es war wohl das erste Mal, dass ich mich ihr nahe fühlte. Allerdings nur für kurze Zeit, denn sie kündigte an, dass sie sich nach dem Wochenbett-Urlaub mit Hochfinanz, Gewerbe und Industrie um den Schweizer Teil der Weltausstellung 1992 im spanischen Sevilla kümmern würde. Zudem plane sie zusammen mit Ständerat Markus Kündig, dem Präsidenten des Schweizerischen Gewerbeverbandes, als Fingerübung und als Einübung auf die grosse Kiste von Sevilla, für 1991 eine Art Landesausstellung, die nichts mehr mit den hinterwäldlerischen, rotgrünen Innerschweizern zu tun habe. Wo, war zu diesem Zeitpunkt noch unklar. Wahrscheinlich Zug, den Stammlanden von Kündig.
Im Büro verkündete unser Chef hingegen die Devise, man soll fürs Debakel keine Schuldzuweisungen vornehmen und keine Sündenböcke ausfindig machen. Doch ein Wort über Rolle und Verantwortung unserer Stiftung beim Ausgang der Abstimmungsresultate hätte ich schon erwartet. Er aber verbot allen Mitarbeitenden, sich gegenüber der Presse zu äussern. – Am Donnerstag darauf verkündete der Bundesrat, eine Landesausstellung soll zu einem späteren Zeitpunkt stattfinden, und unsere Stiftung solle sich auf die Aktivitäten der Bundesfeier 1991 beschränken. Nirgends war die Rede von den 150 landesweiten Projekten im Rahmen meiner Wegweiser. Unverzüglich wurde mein Budget auf null gestellt, doch niemand wagte es, mir zum jetzigen Zeitpunkt schon zu kündigen. So befand ich mich von jetzt an in einem seltsamen Theater ungeklärter Rollen und konzentrierte mich darauf, erst einmal einen Brief an meine Projektverantwortlichen zu verfassen, worin ich erklärte, was der Bundesrat verlautet habe und wie die Stiftung dies interpretiere. Es war eine Art Abschiedsbrief und enthob mich jeder weiterer Funktion innerhalb unserer Organisation. Von nun an war ich nur noch Zaungast und Lohnbezüger ohne Auftrag. Büronachbar Mohr, seiner ursprünglichen Funktion als Manager der Innerschweizer Events auch enthoben, sah sich plötzlich als Krisenmanager und analysierte das Schadenspotential jedes einzelnen Mitarbeiters. Ich kam dabei schlecht weg, weil ich ohne Rücksprache noch zwei Sitzungen mit mir wichtigen Themenkoordinatoren abgemacht hatte, um herauszufinden, ob sie auch ohne CH91 ihre Ziele verfolgen würden, was ich sehr unterstützt hätte. Das sei Insubordination, meinte darauf der selbsternannte Troubleshooter. Noch schlechter kam nur noch Ruedi Schilling weg, dem Mohr vorwarf, unter Umgehung der CH91 sein eigenes Süppchen zu kochen.
    Langsam verbreitete sich unter uns mittlerem Kader die Erkenntnis, dass die CH91 eine stark angeschlagene Organisation war. Doch den Chefs kam nichts Besseres in den Sinn als der Vorschlag, einen Entwicklungspsychologen zur Teambildung beizuziehen. Jetzt? Auf einem sinkenden Schiff, wo jeder bereits nach der Devise Rette-sich-wer-kann handelte? Die Frage war doch eher, sich kündigen zu lassen oder selbst zu kündigen. Ich konnte beobachten, wie die Leute jeweils das Büro verliessen, um von einer Telefonkabine aus zu ihre Anrufe zu tätigen. Es sprach sich herum, dass die Wände hier jetzt Ohren hätten.
Doch nein. Für den nächsten Rapport wurden wir (zur Teambildung bloss?) beauftragt, ein jeder möge doch die drei wichtigsten Themen für 1991 nennen, die man dann dem Bundesrat vorschlagen werde. Einer meiner Themenkoordinatoren, der dieses Treiben aus nächster Nähe beobachten konnte, meinte dazu trocken, dass auch bei Toten noch eine Zeit lang Haare und Nägel wachsen. Es war aber so, dass meine Chefs tatsächlich der Ansicht waren, mit neuem Elan und mit neuen Ideen die Lecks dieses sinkenden Schiffes stopfen zu können. Sie machten sich damit im engsten Umfeld zu lächerlichen, realitätsfremden Figuren.
        Ungeachtet der Innerschweizer Resultate glimmten im Weichbild der Schweiz aber immer noch Schwelbrände, wo Feuer und Motivation zur Realisierung von CH91-Projekten zu vermuten waren. Im Stapferhaus Lenzburg zum Beispiel versammelten sich am Wochenende des 9. Mai Versprengte, welche sich mit ihren Vorhaben bei den Anwesenden Gehör zu verschaffen versuchten, wobei das Publikum ausschliesslich aus anderen Projektverantwortlichen bestand, welche sich durch die Präsentation jedes weiteren Projekte eher bedroht als motiviert fühlten. Ich hatte genug Zeit, im Tagebuch folgendes zu notieren, auch wenn ich mir dabei schlecht vorkam. Doch ich hatte nicht die Kraft, den präsentierten Ideen auch nur einen Hauch von Aufmerksamkeit zu schenken und ihnen auch nur die kleinste Chance einzuräumen. Stattdessen schrieb ich mir seitenlang folgendes auf: 
- Leider muss ich aus Zeitgründen darauf verzichten... nur so viel..
- Ich weiss, dass wir keine Zeit haben, erlauben Sie mir trotzdem, dass ich kurz...
- Noch eines habe ich fast vergessen...
- Zum Schluss...
- Sicher wäre es interessant, noch...
- Erlauben Sie mir zum Schluss die Feststellung...
- Ich danke für die Aufmerksamkeit, ich weiss, dass es etwas länger gedauert hat...
- Vielleicht haben wir Gelegenheit, bei der anschliessenden Diskussion auf das eine oder andere noch einzugehen... 
Nach diesen Floskeln dauerte es bis zum wirklichen Schluss der einzelnen Präsentationen im Schnitt jeweils noch elf Minuten und neunundvierzig Sekunden..
* * *
    Mir hingegen stand der Sinn nach Ortsveränderung. Existierte da doch diese Wunschliste, was ich tun würde, wenn ich HIV-positiv getestet worden wäre? War meine Überlegung richtig, nur angesichts des Todes diese Liste zu realisieren? Wäre es nicht gescheiter, angesichts des Lebens den einen und anderen Punkt auf der Liste zu verwirklichen? 

Hochhäuser! – Paris? New York? Frankfurt?
    Ich nutzte die Zuger Agonie, wieder vermehrt Kontakte zu Freunden zu pflegen und das Kulturangebot von Zürich mit wechselnder Begleitung zu geniessen. Ich sah mir zum Beispiel im Kunsthaus ausgiebig eine umfassende Delacroix-Ausstellung an. Oder ich begleitete die Chefin des Migros-Kulturprozents, Arina Kowner, zu einem Konzert, wo der Bariton Wolfgang Holzmair mit Gérard Wyss am Klavier die Schöne Magelone von Johannes Brahms interpretierten, und wo Will Quadflieg die Zwischentexte las. Oder ich nahm einen ganzen Samstag lang im Rieterpark an einem indischen Gartenfest teil und begegnete bei dieser Gelegenheit Dutzenden von Bekannten und Freunden. Bei der CH91 hingegen markierte ich nur noch dann Präsenz, wenn es absolut notwendig schien: zu Sitzungen und Besprechungen, bei denen allerdings von Anfang an klar war, dass sie zu nichts führten. Gleichwohl, der Bezug eines gewissen Lohnes verpflichtete.
    Die innere Unruhe allerdings wuchs. Ich begann wieder, journalistische Aufträge für die Weltwoche, den Tages-Anzeigers und die Schweizer Illustrierten anzunehmen, weniger der Schreiblust wegen als vielmehr zur Sicherung meines Beziehungsumfeldes. Ich begeisterte mich für einen Macintosh-Computer, und dann, Mitte Juni, war es endlich so weit, in ungekündigtem Zustand für einige Zeit wegzufahren. Ich wollte in Erfahrung bringen, was es mit den Hochhäusern in Frankfurt am Main auf sich hat. Auch wollte ich das Deutschland-Drama mit Maria mit schöneren Erfahrungen aufwiegen, machte deswegen noch einen Umweg über Köln, wo ich mich mit Freunden traf, bevor ich nach Frankfurt am Main weiterfuhr. Das sexdurchdrungene Bahnhofsviertel beeindruckte mich, aber ich hatte eine Verabredung mit der Buchhändlerin Melusine Huss, die ich nicht verpassen wollte, denn sie hatte für mich ein Theaterticket zur Seite gelegt. Zusammen besuchten wir am selben Abend im Theater am Turm das Stück Zerlinde nach einer Erzählung von Hermann Broch mit der grossartigen Jeanne Moreau als Magd. Hier bekam ich eine Ahnung, was der Duft der weiten Welt bedeutet, den ich in Zukunft lieber riechen wollte als den Zuger Mief. Nach der Aufführung wurde in den Räumlichkeiten des Betriebsbüros Party gefeiert, und Theaterintendant Christoph Vitali, zu dessen Mutter ich in Zürich dreissig Jahre früher in die Primarschule ging, fragte mich spontan, ob ich nicht bei ihm arbeiten kommen wolle. Das fing gut an. Wir machten auf ein paar Tage später zum Vorstellungsgespräch ab, dazwischen besuchte ich noch die Kasseler Documenta und den Spaziergangswissenschaftler Lucius Burckhardt und seine Frau Annemarie. Zu dieser Zeit organisierten die beiden im Rahmen einer Anti-Documenta-Aktion Wanderungen durch die Auen von Kassel, auf denen Ausschnitte aus Georg Forsters Buch über seine Entdeckungsreisen in Tahiti mit Captain Cook zum Besten gegeben wurden. Es war eine vergnügliche und dem Närrischen zugewandte Veranstaltung, eine wunderbare Ergänzung zu den künstlerischen Interventionen eines Ian Hamilton Finlay und dessen Guillotine-Wegs in der Karlsaue, und den Video-Installationen eines Nam June Paik, die mir in meiner eigenen Unbestimmtheit Wege aufzeigten, was man bewirken kann, wenn man der eigenen Nase folgt.
    Zurück in Frankfurt, ernüchterte mich dann aber das Bewerbungsgespräch im Theater am Turm. Der Tenor der Anwesenden: ich sei überqualifiziert, und man wisse auch nicht so recht, was ich mit meinem Leben noch wirklich anstellen wolle. Vitali sagte es so: ich müsse mich entscheiden, selbst etwas auf die Beine zu stellen, wozu ich das Potential durchaus hätte, oder mich einzufügen, wozu ich aber schon ein bisschen zu alt sei. Plötzlich schienen für einen Augenblick lang die Hochhäuser von Frankfurt in sich zusammenzufallen. Irritiert fuhr ich am nächsten Tag in die Schweiz zurück, die mir nur allzu bekannt vorkam.
    Zum Abschluss dieses ersten Halbjahres 1987 steckte bei meiner Ankunft die Kündigung der CH91 im Briefkasten. Der letzte Eintrag in meinem Tagebuch lautet: Die Notizen hier drin halte ich jetzt für abgeschlossen. Miles Davis am Fernsehen. Ich mit kahlgeschorenem Kopf.

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©Nikolaus Wyss

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