Als wir hier in Bogotá mit dem Taxi an einer grossen, für Renovationsarbeiten eingerüsteten Kirche vorbeifuhren, bemerkte der Fahrer: „Für das haben sie wieder Geld.“ – Daraus meinte ich ableiten zu können, dass dieser Fahrer gegenüber der katholischen Kirche durchaus kritisch eingestellt sei. „Nein, überhaupt nicht“, antwortete er darauf dezidiert, „ich praktiziere, was man mich gelehrt hat. Ich bete und gehe sonntags mit meiner Familie regelmässig zur Messe.“
Diese Aussage scheint mir gut die ambivalente Haltung vieler
Kolumbianer ihrer Kirche gegenüber zu zeigen. Einerseits sind sie sich der
Grenzen dieser heiligen Institution, welcher 94 Prozent der Bevölkerung
angehören, durchaus bewusst. Alle kennen Geschichten über Kindsmissbrauch,
Korruption und miese Deals zwischen ihr und der Politik. Auf der anderen Seite
aber bleibt sie ein Anker, ein stabiler Ort in unsicheren Zeiten, wohin man
sich zurückziehen und Gott für Linderung und ein besseres Leben bitten kann. Und
unsichere Zeiten gehören seit jeher zur DNA Kolumbiens, welches sich grad von
einem 60 Jahre dauernden Bürgerkrieg zu erholen versucht. 2016 wurde ein
Friedensvertrag zwischen der grössten Guerilla-Organisation des Landes, der
FARC, und der Regierung unterschrieben, doch Paramilitärs, Drogenkartelle und
andere kriminelle Banden in peripheren Gebieten treiben noch immer ihr Unwesen
und töten Unliebsame, wie zum Beispiel engagierte Sozialarbeiter, die ihnen
gefährlich werden könnten.
Die katholische Kirche rechnet es sich bereits als Leistung
an, diese Aktivitäten zu verurteilen. Es gibt aber auch einige Diözesen, die sich
uneingeschränkt für die Verbesserung der Lebensumstände armer und versprengter
Menschen einsetzen und sich auch noch um die 2 Millionen Flüchtlinge aus
Venezuela kümmern. Doch im Vergleich zur hohen Zeit der Befreiungskirche in den
60er Jahren des letzten Jahrhunderts, als man von einer kirchlichen
Aufbruchstimmung sprechen konnte, angefeuert vom 2. Vatikanischen Konzil, mit
dem kolumbianischen Priester Camilo Torres an der Spitze, eines Kirchenmannes,
der sich im Dienste des Sozialismus einer Guerilla-Organisation anschloss und
1966 in einem Gefecht mit der kolumbianischen Armee ums Leben kam, zeichnet
sich die heutige Kirche nicht gerade durch Heldentaten aus. Vielmehr verhält sie
sich relativ neutral, was man angesichts der divergierenden Kräfte, die in
diesem Lande herrschen und an dieser Kirche zehren, halbwegs auch
nachvollziehen kann.
Bedroht wird die offizielle Kirche des Landes einerseits von
starken konservativen evangelikalen Strömungen und Pfingstmissionen, welche
scharenweise Gläubige in ihren Bann ziehen, andrerseits von einer erstaunlich
progressiven Verfassung („Im Namen Gottes, des Allmächtigen“), die sogar die
Heirat homosexueller Paare zulässt. - Und während in urbanen Zentren allmählich
auch eine Schicht von Ungläubigen heranwächst, feiert allenthalben die
Volksfrömmigkeit Urstände und belastet das katholische System mit atavistischen
Bräuchen, die jeden Ethnologen jubeln lassen. Hier erweist sich das grosse
Kolumbien als veritabler Vielvölkerstaat unterschiedlichster Ethnien, angefangen
bei den indigenen Völkern, welche je nach Region zwischen Amazonas und den
Anden ihre eigenen Glaubensrituale in die katholische Kirche einzubringen versuchen,
bis hin zu den ehemaligen, als Sklaven hergeholten Afrikastämmigen, welche an
der Pazifikküste den Katholizismus ergänzen mit Zauberei und der Kraft des
bösen Blickes. Dafür aber sind eigene Autoritäten wie Medizinmänner und
Heilerinnen zuständig und lassen einen konventionellen Priester alt aussehen.
Fürwahr, die Gemengelage ist für die offizielle Kirche
brisant, zumal der Papst in Rom auch noch ein Wörtchen mitzureden hat.
Franziskus besuchte übrigens vor drei Jahren das Land, und vor seiner Ankunft
wurden viele Strassen geteert und Häuser neu gestrichen. Möge er doch
wiederherkommen, ich kenne da noch ein paar weitere Löcher in Strassen, die er
damals noch nicht durchfahren hat...
© Nikolaus Wyss
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