Montag, 26. Juni 2017

Bogotá mon amour... ein Selbstinterview


Beim Mittagessen in der Galeria des Marktes von Perseverancia

Ich wollte nochmals nach Bogotá kommen, weil ich hier 1970 nach der Matura die ersten Schritte meines Erwachsenenlebens machte, die Übung aber nach zwei Jahren etwas abrupt beendete. Gefühlsmässig war irgendetwas nicht ganz abgeschlossen, als ich das Land wieder verliess. Denn als ich mit der Donizetti den Atlantik überquerte und in La Guaira, dem Hafen von Caracas, vor Anker ging, um dann von dort aus auf dem Landweg nach Kolumbien zu gelangen, tat ich das in der festen Absicht, auszuwandern und mir in Lateinamerika eine Existenz aufzubauen. Die Fortsetzung meines Lebens zeigte dann, dass mir dies nicht gelungen war.
Willst du das jetzt nachholen?
Um Gottes Willen! Man kann nichts, was man zum richtigen Zeitpunkt verpasst hat, nachholen. Aber ich gebe mir mit einer neuerlichen Anwesenheit immerhin die Möglichkeit, mir gewisser Dinge bewusst zu werden, die mir damals unklar waren, oder die ich anders empfand, als man sie hätte empfinden können. Die Gnade des Alters besteht darin, das Leben als Kreis oder als Bogen zu begreifen und so auch eine gewisse Logik seines Verlaufs zu erkennen. Das ist einem jungen Menschen noch verwehrt. Daran arbeite ich jetzt.
Und wie sieht dieser Bogen bei dir aus?
Mein Leben zeigt mir jetzt, dass ich Anfänger geblieben bin. Geübter vielleicht als zu Anfang, aber immer noch Anfänger. Irgendwie habe ich es nicht geschafft, in konventionellem Sinne Karriere zu machen und etwas aufzubauen, auf das ich dereinst stolz zurückblicken könnte und das mir Stoff für eine lesenswerte Biografie generiert hätte. Keine Familie, keine Nachkommen, kein Haus, keine Ehrenmitgliedschaft in irgendeinem Klub, keine Titel, keine öffentliche Bedeutung. Ich habe zwarzeitweilig durchaus öffentliche und prestigeträchtige Funktionen ausgeübt, doch nichts davon hat mein weiteres Leben nachhaltig geprägt. Nach Beendigung meiner jeweiligen Mission stellte sich meine Persönlichkeit automatisch wieder auf Zero, worauf ich mit etwas Neuem begann. Mit einer gewissen Ironie nenne ich mich auf Instagram rector_wyss, weil ich einmal zwölf Jahre lang eine Hochschule leitete. Der Name ist ein schwaches Echo, weil eigentlich kein Gewicht aus dieser Zeit an mir hängen geblieben ist, das mir gesellschaftlich nachhaltig Ansehen verschafft oder mir zumindest den Lebensabend gesichert hätte.
Heisst das, dass du deine Lebensbilanz für negativ hältst?
Nein, es heisst lediglich, dass ich mich mein Leben lang in einem Spannungsverhältnis befand zwischen bürgerlichem Anspruch und wyssscher Realität, und dass ich mir eigentlich ziemlich treu geblieben bin, indem ich punkto Existenzsicherung und Persönlichkeitsentwicklung auf bürgerliche Normen gepfiffen habe. Ich blicke auf ein Leben in Sequenzen zurück, und noch heute bin ich eigentlich der Auswanderer von damals, der voller Hoffnung ein neues Abenteuer anzutretenbereit ist, ungeachtet des fortgeschrittenen Alters, ungeachtet der Erfahrungen, die sich bei mir akkumuliert haben und mir sagen könnten, dass ich gewisse Dinge doch bitte endlich lassen soll.
Das hat dir dein erneuter Aufenthalt in Bogotá vor Augen geführt?
Nicht eigentlich, das wusste ich früher schon. Aber losgelöst vom schweizerischen Alltag und relativ einsam in dieser grossen Stadt treten solche Gedanken geschärft zutage.
Bogotá ist nur beschränkt ein idealer Ort, um alt zu werden: Es ist kalt, die Luft ist dünn und arg verschmutzt, die Stadt gilt als hässlich, die Armut ist wegen der Bettler an jeder Strassenecke sichtbar, die gesundheitliche Vorsorge erreicht bei Weitem nicht Schweizer Standard.
Vielleicht trägt dieses Ambiente dazu bei, nicht allzu schnell zu altern, weil man es sich schlicht nicht leisten kann. Es ist ein Abenteuer, die Strasse zu überqueren. Dann muss man sich vor Taschendieben in Acht nehmen. Gewisse Strassenzüge, ja ganze Stadtteile sind wegen der fragilen Sicherheitslage zu meiden, und das Transportproblem, wie man innerhalb der Stadt vom einen Ort zum anderen gelangt, ist in Ermangelung von effizienten Verkehrsmitteln und wegen permanenter Staus ein Dauerstress. Ich schätze mich jedes Mal glücklich, wenn ich wieder einmal schadlos den Heimweg geschafft habe. Das hält einen bis zu einem gewissen Grad achtsam und geschmeidig.
Bogotá als Anti-Aging-Programm?
Auf jeden Fall werden andere Gefühle und Energien aktiviert als an einem sonnigen Sandstrand, in einem Kurhaus mit Aussicht auf die Berner Alpen, im Gärtlein zu Hause oder in einem Altersheim. – Ich frage mich, ähnlich wie seinerzeit in Zürich-Schwamendingen, wie sich die Leute hier in dieser eher ungemütlichen Stadt einrichten, wo es nachts durchaus gegen 0 Grad Celsius gehen kann, notabene ohne Heizungen in den Wohnungen. Wie halten sie das aus? Was treibt sie an? Was halten sie selbst von ihrer Umgebung? Was tragen sie selbst zum hiesigen Lebensgefühl bei? Je mehr ich diesen Fragen nachgehe, umso interessanter scheinen sie mir. Die vormals grau wirkende Stadt wird dadurch bunt und vielgestaltig.
Dann gibt es also nächstens Führungen durch den Bogotaner Alltag, wie du sie seinerzeit durch Schwamendingen veranstaltet hast?
Mir fehlen hier sowohl das Publikum als auch genügende Spanischkenntnisse, und die Flüsteranlage habe ich in der Schweiz gelassen. Ich benutze heute eher die sozialen Medien, um allfällige Beobachtungen oder Erkenntnisse kundzutun.
Und was wären denn die Erkenntnisse?
Ich glaube, hier mit Bogotá funktioniert es etwa ähnlich wie bei denjenigen, die mit ihren Widersachern plötzlich ein Liebesverhältnis eingehen oder zumindest die Seite wechseln. Man kann das gut bei Entführten beobachten. In Erinnerung geblieben ist mir dieses Stockholm-Syndrom genannte Phänomen im Falle der reichen Verlegersenkeltochter Patty Hearst im Jahre 1974, die mit einer spektakulären Entführung durch die linksradikale Symbionese Liberation Army (SLA) bekannt wurde. Darauf schloss sie sich dieser an und verübte in deren Namen einen Bankraub.
Auf Bogotá bezogen: Es gibt Notwendigkeiten oder ökonomische Zwänge, nach Bogotá wohnen zu gehen, aber eine positive Einstellung zu dieser Stadt stellt sich wohl in den meisten Fällen erst mit der Zeit ein. Was objektiv kalt ist, wird hier dann im Vergleich zur heissen Küste als angenehme Temperatur interpretiert, für welche es wenigstens keine Klimaanlagen braucht. Was an luftverpestenden Kleinbussen die Gesundheit schädigt, treibt immerhin den Wirtschaftsmotor an und verhilft auch zu guten Frequenzen der Asthma- und Lungenkrebsabteilungen in den Spitälern. Das kann dem Krankenpflegepersonal, den Ärzten und den dahinterstehenden Institutionen nur recht sein. Und so weiter.
Es kann auch die Liebe sein, die einen nach Bogotá lockt, oder doch wenigstens die Aussicht auf ein warmes Bett. Denn allein schlafen ist bei diesem Frost definitiv ein No-Go.
Hast du weitere Zukunftspläne?
Für mich ist der Erkenntnistopf hier bei Weitem noch nicht ausgeschöpft. Ich bin mir noch verschiedene Einsichten schuldig. So lange bleibe ich. Ich spüre in Bogotá, frei von etwelchen Verpflichtungen und Erwartungen, eine wohltuende Entlastung oder zumindest Ablenkung von Sorgen, und ich geniesse es, hier mit meiner AHV-Rente auch mehr anstellen zu können, als mir dies in der überteuerten Schweiz möglich wäre. Dazu gesellt sich eine zunehmende Mitteilungslust, die ich gerne gehabt hätte, als ich mein Geld noch als Journalist verdiente. Damals war jeder Satz eine Qual, im Gegensatz zu heute, wo es mir ziemlich egal ist, was mit diesem geschieht. Ich vertraue darauf, dass er von meinem Fundus her schon relativ gut vorgeformt ist. Ich muss dann lediglich noch das Tüpfelchen aufs i setzen.
Also das mit dem ewigen Anfängertum stimmt so vielleicht doch nicht ganz ...

© Nikolaus Wyss

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4 Kommentare:

Valentin hat gesagt…

Ich kann das einmal mehr sozusagen fast vollumfänglich nur gutheissen! Als Anfänger bist Du immerhin weit gekommen.. Was mir zu wünschen verbleibt: Viel Spass! (Ich selber bin leider noch nicht einmal Anfänger - allein schon die Auswahl meiner Identität stellt mich vor Schwierigkeiten. Ich probiers mal mit Name.)

Unknown hat gesagt…

Wie von Dir gewohnt: äusserst erfrischende und interessante Lektüre! Danke!

Adrian Jacklowsky hat gesagt…

Super gschriebe, sehr lebändig und authentisch, s’journalistische Rüschtzüg kunnt definitiv zur Gältig, toll!! 👍🤩

Anonym hat gesagt…

Du sprichst mir durchaus von der Seele und vieles was du schreibst spuere auch ich