Ich wollte nochmals nach Bogotá kommen,
weil ich hier 1970 nach der Matura die ersten Schritte meines Erwachsenenlebens
machte, die Übung aber nach zwei Jahren etwas abrupt beendete. Gefühlsmässig
war irgendetwas nicht ganz abgeschlossen, als ich das Land wieder verliess.
Denn als ich mit der Donizetti den Atlantik überquerte und in La Guaira, dem Hafen von Caracas, vor Anker ging, um dann von
dort aus auf dem Landweg nach Kolumbien zu gelangen, tat ich das in der festen
Absicht, auszuwandern und mir in Lateinamerika eine Existenz aufzubauen. Die
Fortsetzung meines Lebens zeigte dann, dass mir dies nicht gelungen war.
Willst du das jetzt nachholen?
Um Gottes Willen! Man kann nichts,
was man zum richtigen Zeitpunkt verpasst hat, nachholen. Aber ich gebe mir mit
einer neuerlichen Anwesenheit immerhin die Möglichkeit, mir gewisser Dinge
bewusst zu werden, die mir damals unklar waren, oder die ich anders empfand,
als man sie hätte empfinden können. Die Gnade des Alters besteht darin, das
Leben als Kreis oder als Bogen zu begreifen und so auch eine gewisse Logik
seines Verlaufs zu erkennen. Das ist einem jungen Menschen noch verwehrt. Daran
arbeite ich jetzt.
Und wie sieht dieser Bogen bei dir
aus?
Mein Leben zeigt mir jetzt, dass ich
Anfänger geblieben bin. Geübter vielleicht als zu Anfang, aber immer noch
Anfänger. Irgendwie habe ich es nicht geschafft, in konventionellem Sinne
Karriere zu machen und etwas aufzubauen, auf das ich dereinst stolz
zurückblicken könnte und das mir Stoff für eine lesenswerte Biografie generiert
hätte. Keine Familie, keine Nachkommen, kein Haus, keine Ehrenmitgliedschaft in
irgendeinem Klub, keine Titel, keine öffentliche Bedeutung. Ich habe zwarzeitweilig durchaus öffentliche und prestigeträchtige Funktionen ausgeübt, doch
nichts davon hat mein weiteres Leben nachhaltig geprägt. Nach Beendigung meiner
jeweiligen Mission stellte sich meine Persönlichkeit automatisch wieder auf
Zero, worauf ich mit etwas Neuem begann. Mit einer gewissen Ironie nenne ich
mich auf Instagram rector_wyss, weil ich einmal zwölf Jahre lang eine
Hochschule leitete. Der Name ist ein schwaches Echo, weil eigentlich kein
Gewicht aus dieser Zeit an mir hängen geblieben ist, das mir gesellschaftlich
nachhaltig Ansehen verschafft oder mir zumindest den Lebensabend gesichert
hätte.
Heisst das, dass du deine
Lebensbilanz für negativ hältst?
Nein, es heisst lediglich, dass ich
mich mein Leben lang in einem Spannungsverhältnis befand zwischen bürgerlichem
Anspruch und wyssscher Realität, und dass ich mir eigentlich ziemlich treu
geblieben bin, indem ich punkto Existenzsicherung und
Persönlichkeitsentwicklung auf bürgerliche Normen gepfiffen habe. Ich blicke
auf ein Leben in Sequenzen zurück, und noch heute bin ich eigentlich der
Auswanderer von damals, der voller Hoffnung ein neues Abenteuer anzutretenbereit ist, ungeachtet des fortgeschrittenen Alters, ungeachtet der
Erfahrungen, die sich bei mir akkumuliert haben und mir sagen könnten, dass ich
gewisse Dinge doch bitte endlich lassen soll.
Das hat dir dein erneuter Aufenthalt
in Bogotá vor Augen geführt?
Nicht eigentlich, das wusste ich
früher schon. Aber losgelöst vom schweizerischen Alltag und relativ einsam in
dieser grossen Stadt treten solche Gedanken geschärft zutage.
Bogotá ist nur beschränkt ein idealer
Ort, um alt zu werden: Es ist kalt, die Luft ist dünn und arg verschmutzt, die Stadt gilt als hässlich, die Armut ist wegen der Bettler an jeder Strassenecke
sichtbar, die gesundheitliche Vorsorge erreicht bei Weitem nicht Schweizer
Standard.
Vielleicht trägt dieses Ambiente
dazu bei, nicht allzu schnell zu altern, weil man es sich schlicht nicht
leisten kann. Es ist ein Abenteuer, die Strasse zu überqueren. Dann muss man
sich vor Taschendieben in Acht nehmen. Gewisse Strassenzüge, ja ganze
Stadtteile sind wegen der fragilen Sicherheitslage zu meiden, und das
Transportproblem, wie man innerhalb der Stadt vom einen Ort zum anderen
gelangt, ist in Ermangelung von effizienten Verkehrsmitteln und wegen
permanenter Staus ein Dauerstress. Ich schätze mich jedes Mal glücklich, wenn
ich wieder einmal schadlos den Heimweg geschafft habe. Das hält einen bis zu einem gewissen Grad achtsam und
geschmeidig.
Bogotá als Anti-Aging-Programm?
Auf jeden Fall werden andere Gefühle
und Energien aktiviert als an einem sonnigen Sandstrand, in einem Kurhaus mit
Aussicht auf die Berner Alpen, im Gärtlein zu Hause oder in einem Altersheim. –
Ich frage mich, ähnlich wie seinerzeit in Zürich-Schwamendingen, wie sich die
Leute hier in dieser eher ungemütlichen Stadt einrichten, wo es nachts durchaus
gegen 0 Grad Celsius gehen kann, notabene ohne Heizungen in den Wohnungen. Wie
halten sie das aus? Was treibt sie an? Was halten sie selbst von ihrer
Umgebung? Was tragen sie selbst zum hiesigen Lebensgefühl bei? Je mehr ich
diesen Fragen nachgehe, umso interessanter scheinen sie mir. Die vormals grau
wirkende Stadt wird dadurch bunt und vielgestaltig.
Dann gibt es also nächstens
Führungen durch den Bogotaner Alltag, wie du sie seinerzeit durch
Schwamendingen veranstaltet hast?
Mir fehlen hier sowohl das Publikum
als auch genügende Spanischkenntnisse, und die Flüsteranlage habe ich in der
Schweiz gelassen. Ich benutze heute eher die sozialen Medien, um allfällige
Beobachtungen oder Erkenntnisse kundzutun.
Und was wären denn die Erkenntnisse?
Ich glaube, hier mit Bogotá
funktioniert es etwa ähnlich wie bei denjenigen, die mit ihren Widersachern
plötzlich ein Liebesverhältnis eingehen oder zumindest die Seite wechseln. Man
kann das gut bei Entführten beobachten. In Erinnerung geblieben ist mir dieses Stockholm-Syndrom
genannte Phänomen im Falle der reichen Verlegersenkeltochter Patty Hearst im Jahre 1974, die mit
einer spektakulären Entführung durch die linksradikale Symbionese Liberation
Army (SLA) bekannt wurde.
Darauf schloss sie sich dieser an und verübte in deren Namen einen Bankraub.
Auf Bogotá bezogen: Es gibt
Notwendigkeiten oder ökonomische Zwänge, nach Bogotá wohnen zu gehen, aber eine
positive Einstellung zu dieser Stadt stellt sich wohl in den meisten Fällen
erst mit der Zeit ein. Was objektiv kalt ist, wird hier dann im Vergleich zur
heissen Küste als angenehme Temperatur interpretiert, für welche es wenigstens
keine Klimaanlagen braucht. Was an luftverpestenden Kleinbussen die Gesundheit
schädigt, treibt immerhin den Wirtschaftsmotor an und verhilft auch zu guten
Frequenzen der Asthma- und Lungenkrebsabteilungen in den Spitälern. Das kann
dem Krankenpflegepersonal, den Ärzten und den dahinterstehenden Institutionen
nur recht sein. Und so weiter.
Es kann auch die Liebe sein, die
einen nach Bogotá lockt, oder doch wenigstens die Aussicht auf ein warmes Bett.
Denn allein schlafen ist bei diesem Frost definitiv ein No-Go.
Hast du weitere Zukunftspläne?
Für mich ist der Erkenntnistopf hier
bei Weitem noch nicht ausgeschöpft. Ich bin mir noch verschiedene Einsichten
schuldig. So lange bleibe ich. Ich spüre in Bogotá, frei von etwelchen
Verpflichtungen und Erwartungen, eine wohltuende Entlastung oder zumindest
Ablenkung von Sorgen, und ich geniesse es, hier mit meiner AHV-Rente auch mehr
anstellen zu können, als mir dies in der überteuerten Schweiz möglich wäre.
Dazu gesellt sich eine zunehmende Mitteilungslust, die ich gerne gehabt hätte,
als ich mein Geld noch als Journalist verdiente. Damals war jeder Satz eine
Qual, im Gegensatz zu heute, wo es mir ziemlich egal ist, was mit diesem
geschieht. Ich vertraue darauf, dass er von meinem Fundus her schon relativ gut
vorgeformt ist. Ich muss dann lediglich noch das Tüpfelchen aufs i setzen.
Also das mit dem ewigen Anfängertum
stimmt so vielleicht doch nicht ganz ...
© Nikolaus Wyss
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4 Kommentare:
Ich kann das einmal mehr sozusagen fast vollumfänglich nur gutheissen! Als Anfänger bist Du immerhin weit gekommen.. Was mir zu wünschen verbleibt: Viel Spass! (Ich selber bin leider noch nicht einmal Anfänger - allein schon die Auswahl meiner Identität stellt mich vor Schwierigkeiten. Ich probiers mal mit Name.)
Wie von Dir gewohnt: äusserst erfrischende und interessante Lektüre! Danke!
Super gschriebe, sehr lebändig und authentisch, s’journalistische Rüschtzüg kunnt definitiv zur Gältig, toll!! 👍🤩
Du sprichst mir durchaus von der Seele und vieles was du schreibst spuere auch ich
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