Dienstag, 18. Juli 2017

Vom Drehen Mahlers im Grab


Wenn sich Gelegenheit ergibt, bin ich dankbarer Nutzer des hiesigen Konzert- und Theaterangebots. Kürzlich ging ich wieder einmal zusammen mit ein paar Freunden ins Teatro Colon, einem prächtigen Bau mitten in der Altstadt Bogotás, der in der Tradition klassischer Opernhäusern Italiens erbaut wurde. Das Gebäude wollte zum Zeitpunkt seiner Errichtung wohl sichtbar dokumentieren, dass Kolumbien kulturell der Alten Welt durchaus das Wasser reichen kann, und dass es sich, zumindest was die Innenausstattung angeht, mit dem viel berühmteren und grösseren Teatro Colon von Buenos Aires messen will.
Wir waren an der Premiere von Giuseppe Verdis Otello. Arme Desdemona. Das einzig Gute an ihrem Tod mochte sein, dass sie sich das Geschrei ihres eifersüchtigen Alten nicht mehr anhören musste. Manchmal befürchtete ich, sie bekomme einen Hörschaden, so laut brüllte der venezianische Mohr seine Klagen ins Publikum. Doch wenn sie gewusst hätte, dass Othello sich zum Schluss das Messer in die eigene Brust stösst, hätte sie eigentlich nicht zu sterben brauchen.
Sonst aber war die Produktion hochstehend und durchsetzt mit gutem internationalem Personal und mit einem ansprechenden, modernen Bühnenbild versehen. Ein durchaus gewinnbringender, erbaulicher Abend. Die besten Plätze kosteten gerade mal 70 Franken. Für hiesige Verhältnisse jedoch ein Vermögen.
Während in der Oper das kolumbianische Staatsorchester zum Zuge kam, feierte das andere Eliteorchester der Stadt, die Bogotá-Philharmonie, sein 50-jähriges Bestehen mit einem Konzertzyklus. Dazu gehörte auch eine Aufführung von Gustav Mahlers 3. Symphonie im ärmsten Süden der Stadt nachmittags um drei. Die schwere Kost wurde in einer auf zwei Seiten hin offenen Eventhalle in unmittelbarer Nähe zur Iglesia del Divino Niño Jesús del 20 de Julio serviert. Der Zutritt war zwar kostenlos, aber man bezahlte mit dem Akzeptieren von Einschränkungen, die sich aus diesem ungewöhnlichen Vorführungsort ergaben. Die Bewohner des Quartiers hörten wohl zum ersten Mal live solche Musik und tauschten sich während des Konzerts fleissig über nachbarschaftliche und familiäre Begebenheiten aus. Kinder krabbelten über die Bänke und schrien, wenn es ihnen danach war, was die Eltern schon gar nicht zu unterbinden versuchten. Und aus der benachbarten Kirche hörte man mikrofonverstärkte fromme Lieder, welche die leisen Stellen der Mahler-Komposition glatt übertönten. Dann tat mir der riesige Kinderchor leid, der weit über eine Stunde lang auf seinen kurzen Bim-Bam-Einsatz warten musste. Und ob der chilenische Mezzosopran schön klang, konnte ich beim besten Willen und auch mit spitzigsten Ohren nicht ausmachen.
Der Anlass berührte mich trotzdem zutiefst. Wahrscheinlich bin ich noch nie so bewegt aus einem Konzert gekommen. Die Musik allein kann es nicht gewesen sein. Doch vielleicht hat es etwas mit der Würde und dem Respekt zu tun, deren Gemengelage so einmalig zur Wirkung gelangte. Da war das zwangsläufig scheiternde Bemühen des Orchesters und seines Dirigenten, diese Musik einem nicht ausgewählten Publikum näherzubringen. Doch die Musiker hielten unbeirrt durch, was mir grössten Respekt abverlangte. Ich als Dirigent hätte schon längst abgeklopft. Die Aufführenden schienen es auf wundersame Weise Gustav Mahler, dem lieben Gott und dem lauschenden Publikum schuldig gewesen zu sein, den letzten, unhörbaren Ton auch noch zu spielen. Es gab unter den Zuhörenden aller Altersklassen etliche, die ebenso unbeirrt, ernsthaft und hoch konzentriert der Musik lauschten, soweit diese an ihr Ohr zu dringen vermochte. Und genau da erhob sie sich, diese heilige Mischung von Göttlichem, das sich in dieser geheimnisvollen Komposition von Gustav Mahler mit dem irdischen Leid in Verbindung zu setzen versucht, und es gelang an diesem Nachmittag, wonach sich Mahler unter Verwendung seiner kompositorischen Mittel wohl ein Leben lang sehnte. «[...] Die Welt ist tief / Und tiefer, als der Tag gedacht. / Tief ist ihr Weh –, / Lust – tiefer noch als Herzeleid: / Weh spricht: Vergeh! / Doch alle Lust will Ewigkeit –, / – will tiefe, tiefe Ewigkeit.» – Und der Kinderchor bittet später Jesus um Erbarmen, weil er die zehn Gebote gebrochen hat, worauf Jesus ihm empfiehlt, Reue zu üben und zu Gott zu beten. Ja, Mahlers Biograf Paul Stefan bemerkte dazu, dass bei Mahler das «Erlebnis des Weltalls auf der Strasse beginnt und im Unendlichen endet».
Als ich später ins Taxi einstieg, wusste ich einen Augenblick lang meine Adresse nicht mehr.




©Nikolaus Wyss









© Nikolaus Wyss

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1 Kommentar:

Madreperla hat gesagt…

Ich bin immer wieder ergriffen von deinen Beschreibungen, auch jetzt wieder speziell von diesem Konzert. Du vermittelst mir mit deinen Berichtungen auch spannende Einblicke in einen anderen Kontinent! Eine wenig Gereiste grüsst herzlich - Angela