Wenn sich Gelegenheit ergibt, bin ich dankbarer Nutzer
des hiesigen Konzert- und Theaterangebots. Kürzlich ging ich wieder einmal zusammen
mit ein paar Freunden ins Teatro Colon,
einem prächtigen Bau mitten in der Altstadt Bogotás, der in der Tradition
klassischer Opernhäusern Italiens erbaut wurde. Das Gebäude wollte zum
Zeitpunkt seiner Errichtung wohl sichtbar dokumentieren, dass Kolumbien
kulturell der Alten Welt durchaus das Wasser reichen kann, und dass es sich,
zumindest was die Innenausstattung angeht, mit dem viel berühmteren und
grösseren Teatro Colon von Buenos
Aires messen will.
Wir waren an der Premiere von Giuseppe
Verdis Otello. Arme Desdemona. Das einzig Gute an ihrem Tod mochte
sein, dass sie sich das Geschrei ihres eifersüchtigen Alten nicht mehr anhören
musste. Manchmal befürchtete ich, sie bekomme einen Hörschaden, so laut brüllte
der venezianische Mohr seine Klagen ins Publikum. Doch wenn sie gewusst hätte,
dass Othello sich zum Schluss das Messer in die eigene Brust stösst, hätte sie
eigentlich nicht zu sterben brauchen.
Sonst aber war die Produktion
hochstehend und durchsetzt mit gutem internationalem Personal und mit einem
ansprechenden, modernen Bühnenbild versehen. Ein durchaus gewinnbringender,
erbaulicher Abend. Die besten Plätze kosteten gerade mal 70 Franken. Für
hiesige Verhältnisse jedoch ein Vermögen.
Während in der Oper das
kolumbianische Staatsorchester zum Zuge kam, feierte das andere Eliteorchester
der Stadt, die Bogotá-Philharmonie,
sein 50-jähriges Bestehen mit einem Konzertzyklus. Dazu gehörte auch eine
Aufführung von Gustav Mahlers 3.
Symphonie im ärmsten Süden der Stadt nachmittags um drei. Die
schwere Kost wurde in einer auf zwei Seiten hin offenen Eventhalle in
unmittelbarer Nähe zur Iglesia del Divino
Niño Jesús del 20 de Julio serviert. Der Zutritt war zwar kostenlos, aber
man bezahlte mit dem Akzeptieren von Einschränkungen, die sich aus diesem
ungewöhnlichen Vorführungsort ergaben. Die Bewohner des Quartiers hörten wohl
zum ersten Mal live solche Musik und tauschten sich während des Konzerts
fleissig über nachbarschaftliche und familiäre Begebenheiten aus. Kinder
krabbelten über die Bänke und schrien, wenn es ihnen danach war, was die Eltern
schon gar nicht zu unterbinden versuchten. Und aus der benachbarten Kirche
hörte man mikrofonverstärkte fromme Lieder, welche die leisen Stellen der
Mahler-Komposition glatt übertönten. Dann tat mir der riesige Kinderchor leid,
der weit über eine Stunde lang auf seinen kurzen Bim-Bam-Einsatz warten musste.
Und ob der chilenische Mezzosopran schön klang, konnte ich beim besten Willen
und auch mit spitzigsten Ohren nicht ausmachen.
Der Anlass berührte mich trotzdem zutiefst.
Wahrscheinlich bin ich noch nie so bewegt aus einem Konzert gekommen. Die Musik
allein kann es nicht gewesen sein. Doch vielleicht hat es etwas mit der Würde
und dem Respekt zu tun, deren Gemengelage so einmalig zur Wirkung gelangte. Da
war das zwangsläufig scheiternde Bemühen des Orchesters und seines Dirigenten,
diese Musik einem nicht ausgewählten Publikum näherzubringen. Doch die Musiker
hielten unbeirrt durch, was mir grössten Respekt abverlangte. Ich als Dirigent
hätte schon längst abgeklopft. Die Aufführenden schienen es auf wundersame
Weise Gustav Mahler, dem lieben Gott und dem lauschenden Publikum schuldig
gewesen zu sein, den letzten, unhörbaren Ton auch noch zu spielen. Es gab unter
den Zuhörenden aller Altersklassen etliche, die ebenso unbeirrt, ernsthaft und
hoch konzentriert der Musik lauschten, soweit diese an ihr Ohr zu dringen
vermochte. Und genau da erhob sie sich, diese heilige Mischung von Göttlichem,
das sich in dieser geheimnisvollen Komposition von Gustav Mahler mit dem
irdischen Leid in Verbindung zu setzen versucht, und es gelang an diesem
Nachmittag, wonach sich Mahler unter Verwendung seiner kompositorischen Mittel
wohl ein Leben lang sehnte. «[...] Die
Welt ist tief / Und tiefer, als der Tag gedacht. / Tief ist ihr Weh –, / Lust –
tiefer noch als Herzeleid: / Weh spricht: Vergeh! / Doch alle Lust will
Ewigkeit –, / – will tiefe, tiefe Ewigkeit.» – Und der Kinderchor bittet
später Jesus um Erbarmen, weil er die zehn Gebote gebrochen hat, worauf Jesus ihm
empfiehlt, Reue zu üben und zu Gott zu beten. Ja, Mahlers Biograf Paul Stefan
bemerkte dazu, dass bei Mahler das «Erlebnis des Weltalls auf der Strasse
beginnt und im Unendlichen endet».
Als ich später ins Taxi einstieg, wusste
ich einen Augenblick lang meine Adresse nicht mehr.
©Nikolaus Wyss
© Nikolaus Wyss
Weitere Beiträge auf einen Click
1 Kommentar:
Ich bin immer wieder ergriffen von deinen Beschreibungen, auch jetzt wieder speziell von diesem Konzert. Du vermittelst mir mit deinen Berichtungen auch spannende Einblicke in einen anderen Kontinent! Eine wenig Gereiste grüsst herzlich - Angela
Kommentar veröffentlichen